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INTERNATIONAL/330: Kolumbien - Auf den Spuren eines Verbrechens ohne Spuren (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Kolumbien

Auf den Spuren eines Verbrechens ohne Spuren


Gewaltsames Verschwindenlassen ist ein perfides Verbrechen: Beweise und Verantwortliche zu finden ist nahezu unmöglich. In Kolumbien sind 98 Prozent der Fälle ungelöst.

(Medellín, 30. August 2021, colombia informa) - Gewaltsames Verschwindenlassen ist ein Verbrechen mit einem wesentlichen Merkmal: der Verschleierung. Was eigentlich geschehen ist, bleibt ungewiss, Beweise und Verantwortliche zu finden ist nahezu unmöglich. Von den Fällen gewaltsamen Verschwindenlassens in Kolumbien sind 98 Prozent ungelöst, in der Stadt Medellín sind es 99 Prozent.

Menschen verschwinden, weil ihre Existenz in dieser Welt und sogar die Spuren dieser Existenz ausgelöscht werden sollen. Ihre physische Präsenz soll unsichtbar werden. Gewaltsames Verschwindenlassen ist ein Verbrechen, das niemals entdeckt, untersucht oder gar gelöst werden will: es hinterlässt kein Blut, keine Körper, keine Tatorte. Aus diesem Grund ist es ein Teil der genozidalen sozialen Praktiken, die sowohl von staatlichen Institutionen als auch von noch immer operierenden paramilitärischen Gruppen in Kolumbien angewendet werden. Nicht umsonst gibt es nur in zwei Prozent der vom Centro Nacional de Memoria Histórica (CNMH) registrierten Fälle [1] Informationen über die Verantwortlichen. In Medellín ist es lediglich ein Prozent.

Max Yuri Gil, Koordinator der der Wahrheitskommission (Comisión de la Verdad) in der Region Antioquía-Eje Cafetero sagt dazu, das Verschwindenlassen "dient nicht nur dazu, das Delikt zu verschleiern, es soll Ungewissheit hinterlassen."

In Kolumbien hat diese Praxis systematischen Charakter. Das CNMH verfügt über Daten von 80.000 Fällen seit den 1970er-Jahren. In der Datensammlung der Generalstaatsanwaltschaft sind es 35.117 Fälle seit 1985. Nur bei 407 davon, das sind 1,16 Prozent, kam es zu Verurteilungen. Die selbe Datenbank enthält aber auch Informationen darüber, wie viele Urteile letztlich vollstreckt wurden: Lediglich in 169 Fällen, was einem Anteil von 0,5 Prozent entspricht.


Medellín

Es gibt nur wenige Fälle, bei denen es über die Untersuchung und Identifizierung Verantwortlicher hinaus überhaupt zu Gerichtsverhandlungen kommt. Bei der Staatsanwaltschaft Medellín sind über 2.500 Fälle seit 1985 registriert. Davon befinden sich über 90 Prozent noch in der Untersuchungsphase. Die Zahl scheint zunächst hoch, verringert sich aber mit jedem Schritt der Aufarbeitung. In Medellín wurden nur 17 Fälle endgültig gelöst. Das ist weniger als eine Verurteilung auf 100 Fälle gewaltsamen Verschwindenlassens. Anders gesagt: die Quote der Straffreiheit beträgt fast 100 Prozent.

Die Frauen der Organisation Madres de la Candelaria [2] (Mütter der Candelaria, benannt nach einem Stadtteil in Medellín, Anm. d. Ü.) klagen die systematisch und strategisch ausgeführten Verbrechen an. Die Justiz bleibt ihnen meistens eine Antwort schuldig. Das Verschwindenlassen hat die Stadtteile ergriffen, sich über den Fluss Medellín und die Stadt gelegt wie etwas, dass man weiß, aber nicht sieht und kaum untersucht.

Die Angaben, wie viele dieser Verbrechen tatsächlich untersucht werden, haben sich in der Vergangenheit mehrfach abrupt geändert. Gab die Staatsanwaltschaft von Medellín im Jahr 2005 noch die Zahl fünf an, waren es im folgenden Jahr 323. Eine Steigerung von 6,4 Prozent, die wohl begründet liegt in der Auflösung der Autodefensas Unidas de Colombia (AUC, Vereinigte Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens) im selben Jahr. Die paramilitärische Gruppe wird für die Mehrheit der Fälle verantwortlich gemacht. Seitdem nahm die Zahl der Untersuchungen stetig ab, bis sie im Jahr 2009 auf 117 und in 2010 auf 538 stieg. Diese Steigerung geht einher mit einer deutlichen Zunahme von Fällen gewaltsamen Verschwindenlassens im selben Jahr. Mit der Wahl Aníbal Gavirias zum Bürgermeister von Medellín im Jahr 2012 nahm die Zahl der Untersuchungen plötzlich rapide ab - ein Trend, der sich unter seinem Nachfolger Federico Gutiérrez bis ins Jahr 2018 fortsetzte, als nur noch in zwei Fällen Ermittlungen angestellt wurden.

Obwohl Medellín mit über 2.000 Untersuchungen den höchsten Stand in Kolumbien verzeichnet (gefolgt von 874 in Bogotá und 531 in Cúcuta), bedeutet das aber nicht, dass hier auch die meisten Verbrechen aufgeklärt werden. Stattdessen steht Cali mit 27 Verurteilungen an erster Stelle der Statistik. Von den insgesamt 407 Schuldsprüchen in Kolumbien erfolgten nur 25 Prozent (101) in den Großstädten Medellín, Bogotá, Cúcuta, Cali, Barranquilla, Ibagué, Bucamaranga und Cartagena zusammen.


Warum?

Die Zahlen der Staatsanwaltschaft zeigen, dass das gewaltsame Verschwindenlassen sein Ziel erreicht hat: Die Verschleierung der Tat und jeglicher Spuren macht eine Identifizierung von Verantwortlichen unmöglich. Eine Strategie, die nach Ansicht von Adriana Arboleda, Leiterin der Corporación Jurídica Libertad (CJL) in Medellín, mit drei Elementen zu tun hat: die strafrechtliche Einordnung der Tat, die Auflösung und Unkoordiniertheit von Institutionen und schließlich mangelnder politischer Wille.

Die strafrechtliche Einordnung hat sich als zäher Prozess erwiesen. In einem 2014 veröffentlichten Bericht [3] schreibt das CNMH, dass gewaltsames Verschwindenlassen in Kolumbien erst seit dem Jahr 2000 als strafbare Handlung gilt. Zuvor wurden Fälle von verschwundenen Personen "wie Entführungen behandelt und in der Öffentlichkeit gab es kaum ein Bewusstsein darüber." Es gibt Ermittlungsakten von "einfachen Entführungen" (also ohne Lösegeldforderung), obwohl es sich eigentlich um gewaltsames Verschwindenlassen handelte.

Dies habe einen "Ozean der Straffreiheit" geschaffen, so Arboleda. Diese strafrechtliche Unbestimmtheit hat die Ineffizienz der mit der Aufklärung beauftragten Institutionen noch verstärkt, zumal diese ihre Arbeit kaum koordinieren. Sie greifen auf unterschiedliche Datensätze zurück und verfügen über keine effektiven Kommunikationswege untereinander.

Letztlich ist es jedoch der politische Wille der definiert, mit welchem Aufwand versucht wird, diese Taten aufzuklären. In Kolumbien gibt es keine von der Staatsanwaltschaft unabhängige Gerichtsmedizin, was die Sache noch komplizierter macht, wenn die Hauptakteure dieser Taten staatliche Beamte oder paramilitärische Gruppen sind.


Gewaltsames Verschwindenlassen in Medellín: eine Priorität?

Die erste Verurteilung in einem Fall gewaltsamen Verschwindenlassens in Medellín erfolgte 1996. Seitdem gab es nur 16 weitere Schuldsprüche, davon nur drei in den Jahren mit den höchsten Zahlen von Verschwundenen (2009, 2010 und 2011). In den beiden zurückliegenden Jahren gab es keine einzige Verurteilung. Dass die von Arboleda benannten Bedingungen auch hier für die geringe Aufklärungsrate sorgen, ist naheliegend. Auch hier gibt es keine Kenntnisse darüber, wie die Staatsanwaltschaft die Delikte angesichts der verschiedenen in Medellín operierenden kriminellen Gruppen strafrechtlich einordnet. Informationen darüber wurden zwar per Petitionsrecht bei der Fachdirektion für Kriminelle Organisationen (Dirección Especializada contra las Organizaciones Criminales) angefragt, diese antwortete aber nur mit dem Hinweis, dass es sich um Daten handelt, die dem öffentlichen Interesse entgegen stehen.

Als Carlos Arcila, Staatssekretär für Menschenrechte in Medellín, zu aktuellen Fällen befragt wurde, gab er keine klare Antwort und verwies auf eine Organisation, die sich dem Auffinden verschwundener Personen widmet (Unidad de Búsqueda de Personas dadas pro Desaparecidas, UBPD). Das Problem dabei: Bei der UBPD handelt es sich um eine Instanz mit Übergangscharakter, die im Friedensprozess von 2016 entstanden ist und zu aktuellen Verbrechen nicht befragt werden kann.

In Abschnitt fünf des Friedensabkommens zwischen den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, FARC) und der Regierung haben diese vereinbart, ein System aus fünf Institutionen [4] zu bilden, das die Rechte der Opfer des bewaffneten Konflikts garantieren soll (Sistema Integral de Verlad, Justicia, Reparación y No Repetición). Eine dieser Institutionen ist die UBPD, eine andere ist die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (Jurisdicción Especial para la Paz). Diese soll während des langjährigen Konflikts begangene Menschenrechtsverletzungen aufdecken, untersuchen und bestrafen. Adriana Arboleda sagt dazu: "Die Übergangsinstitutionen decken nur die Zeit bis 2016 ab. Die regulären Institutionen tragen also weiterhin Verantwortung."

Die ordentliche Gerichtsbarkeit war bis jetzt aber nicht fähig, Antworten zu liefern. Und so bleibt den Hinterbliebenen nichts übrig, als weiterzusuchen nach den Körpern der Verschwundenen und nach Informationen darüber, was wirklich geschehen ist. Die Straflosigkeit (im Sinn einer Nichtbestrafung der Schuldigen) trägt hierbei wenig zur Aufklärung und nichts zur Wiedergutmachung bei, was zumeist aber die Hauptforderung der Opfer des gewaltsamen Verschwindenlassens ist: die Wahrheit.

Von den mehr als 2000 Fällen in Medellín, die sich derzeit offiziell noch in der Untersuchungsphase befinden, sind nur 6,9 Prozent aktiv. Zu lediglich 160 Fällen werden also tatsächlich Ermittlungen angestellt. Die mit der Aufarbeitung beauftragten Institutionen arbeiten ineffizient und unkoordiniert, wenn es eigentlich darum gehen sollte, die Suche nach Vermissten zu beschleunigen. Doch nicht nur das Auffinden verschwundener Menschen, sondern auch die Identifizierung von Verantwortlichen und ihren Motiven läuft mangels politischen Willens nur schleppend und hinterlässt vor allem Ungewissheit.

"Seit 22 Jahren, drei Monaten und ein paar Tagen bin ich auf der Suche", sagt eine Mutter, die ihren Sohn vermisst. Sie will zumindest seinen Leichnam finden und bestatten, damit seine Seele endlich ruhen kann - und sie will die Wahrheit erfahren, damit sie selbst endlich Frieden findet.


Übersetzung: Patrick Schütz


Anmerkungen:
[1] https://docs.google.com/spreadsheets/d/13-cirP1_DKDM0Q0gTrFnoRB6n2BOmOcdh3G43PoCRQE/edit#gid=2031564423
[2] https://redesmadresdelacande.wixsite.com/madresdelacandelaria/sobre-nosotros
[3] http://www.centrodememoriahistorica.gov.co/micrositios/desaparicionForzada/libros-tomo1.html
[4] https://www.documentcloud.org/documents/3219364-5-Acuerdo-sobre-las-v%C3%ADctimas-del-conflicto.html


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/memoria-justicia/auf-den-spuren-eines-verbrechens-ohne-spuren/


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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 5. Oktober 2021

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