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MELDUNG/090: Asylrecht - Hintergrund-Papier zur Verhandlung am 28.10.10 (Institut für Menschenrechte)


Deutsches Institut für Menschenrechte - 27. Oktober 2010

Menschenrechtsinstitut legt Hintergrund-Papier vor

Mündliche Verhandlung Bundesverfassungsgericht betreffend die Abschiebung eines Asylbewerbers nach Griechenland am 28. Oktober 2010


Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verhandelte am 28. Oktober 2010 über eine Verfassungsbeschwerde, die den einstweiligen Rechtsschutz gegen die Anordnung der Abschiebung nach Griechenland auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003, der so genannten Dublin II Verordnung, betrifft.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte legt zum Hintergrund der mündlichen Verhandlung am 28. Oktober 2010 beim Bundesverfassungsgericht betreffend die Abschiebung eines Asylbewerbers nach Griechenland das Hintergrund-Papier "Deutsches und europäisches Asylrecht vor dem Bundesverfassungsgericht - eine Entscheidung von großer Relevanz für Flüchtlinge in Europa und die Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzsystems" vor. Folgende Fragestellungen werden in dem Papier angesprochen:

(Wie) wird das Bundesverfassungsgericht nach Überprüfung seiner eigenen Rechtsprechung das deutsche Grundrecht auf Asyl als deutsche Grundrechtserrungenschaft zu europäischer Aufmerksamkeit bringen? Wird das Bundesverfassungsgericht erstmals einen Fall dem EuGH zur Prüfung vorlegen, weil die (erschütterte) Grundannahme einer EU-Verordnung und EU-Grundrechte entscheidend sind? Wird der EGMR im Vorfeld des Beitritts der EU zur EMRK seine Zurückhaltung im Hinblick auf die Bewertung von EU-Recht aufgeben und seine strengen Maßstäbe an das EU-Recht anlegen?


Hintergrund-Papier "Deutsches und europäisches Asylrecht vor dem Bundesverfassungsgericht - eine Entscheidung von großer Relevanz für Flüchtlinge in Europa und die Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzsystems" (PDF, 52 KB, nicht barrierefrei)
(Link: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/index.php?RDCT=5b276f3869aa4ced156d)


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Deutsches und europäisches Asylrecht vor dem Bundesverfassungsgericht - eine Entscheidung von großer Relevanz für Flüchtlinge in Europa und die Entwicklung des europäischen Grundrechtsschutzsystems




Der Fall

Das Bundesverfassungsgericht [1] verhandelt am 28. Oktober 2010 über die Verfassungsbeschwerde eines irakischen Asylbewerbers, der zur Durchführung seines Asylverfahrens in den nach dem EU-Recht (Dublin II-Verordnung) [2] für ihn zuständigen EU-Staat Griechenland abgeschoben werden sollte.


Griechische Zustände als Widerspruch zur Grundannahme des deutschen Rechts und des EU-Rechts: ein EU-Staat ist für Schutzsuchende nicht sicher

Nach den Berichten des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) [3], des UN-Sonderberichterstatters für Folter [4], des Menschenrechtskommissars des Europarats [5] und einer Reihe von Nichtregierungsorganisationen ist das griechische Asylsystem kollabiert und bietet ankommenden Flüchtlingen in vielen Fällen weder Zugang zum Asylverfahren noch Versorgung mit dem Notwendigsten. Vielmehr drohen Haft unter sehr schlechten Bedingungen und Kettenabschiebungen über die Türkei. Obwohl Griechenland ein EU-Staat ist, ist das Land offensichtlich kein sicherer Staat für Asylbewerber und andere Menschen, die des internationalen Schutzes bedürfen. Und Griechenland erfüllt auch nicht die grund- und asylrechtlichen Anforderungen, die sich aus dem durch Richtlinien harmonisierten EU-Recht ergeben.

Dies widerspricht der Grundannahme sowohl der Dublin II-Verordnung als auch der Entscheidung [6] des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1996. Das Bundesverfassungsgericht hatte damals die 1993 durch Grundgesetzänderung eingeführte Regelung über sichere Drittstaaten und sichere EU-Staaten grundsätzlich für verfassungskonform erachtet. Dass EU-Staaten als sicher gelten und das Asylverfahrensgesetz die Abschiebung vor einer gerichtlichen Entscheidung über den Einzelfall erlaubt, akzeptierte das Bundesverfassungsgericht damals in offenbar sehr großem und aus heutiger Sicht nicht gerechtfertigten Vertrauen auf die Europäisierung des Flüchtlingsrechts. Dieses Vertrauen scheint nun im Hinblick auf Griechenland erschüttert. Im Hinblick auf andere EU-Staaten könnte dies durchaus auch bald auch passieren.


Neue Verfassungsgerichtsentscheidung zum Asylgrundrecht zu erwarten

Dass das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung aus dem Jahr 1996 überprüfen will, ergibt sich aus der Reihe der einstweiligen Anordnungen, mit denen das Bundesverfassungsgericht seit September 2009 Überstellungen von Asylbewerbern nach Griechenland gestoppt hat. Voran gegangen war eine Vielzahl von deutschen Verwaltungsgerichtsentscheidungen, die angesichts der aktuellen Griechenlandberichte gegen den Wortlaut des Asylverfahrensgesetzes Abschiebungen nach Griechenland vorläufig ausgesetzt hatten.


Der Fall als Beleg für mangelnde Solidarität der EU-Mitgliedstaaten beim Flüchtlingsschutz

Dass der am 28. Oktober vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelte Fall im europäischen Kontext zu betrachten ist, ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass die streitgegenständliche Abschiebung auf der Grundlage einer Dublin II-Verordnung (s.o.) der EU erfolgen sollte, die das EU-interne Zuständigkeitssystem für die Prüfung von Asylanträgen regelt. Die oben genannten Berichte über Griechenland belegen zudem, dass wesentlicher Grund für die schlechten Zustände in Griechenland eine überproportionale Belastung Griechenlands ist.

Diese rührt von der geographischen Lage Griechenlands als Staat an der EU-Außengrenze her. Als Randstaat ist Griechenland einerseits zuständig für den Schutz eines Teils der schwer kontrollierbaren Seeaußengrenze der EU nach strengen Schengen-Standards. Andererseits ist es für die Prüfung der Asylanträge derer zuständig, denen es trotz dieser Kontrollen gelungen ist, die Grenze nach Griechenland zu überwinden.

Anfang der 1990er Jahre hatte sich Deutschland als damals an der EU-Außengrenze gelegener Randstaat vergeblich um die Etablierung eines innereuropäischen Lastenteilungssystems beim Flüchtlingsschutz bemüht. Bis heute konnten sich die EU-Mitgliedstaaten auf ein solches System der Solidarität nicht einigen, Deutschland scheint es derzeit politisch auch nicht zu befördern.


Das Bundesverfassungsgericht im Mehrebenesystem des europäischen Grundrechtsschutzes

Dem transnationalen und europäischen Phänomen der Flucht und Migration und dem EU-Flüchtlingsrecht steht das Mehrebenensystem des europäischen Grundrechtsschutzes gegenüber. In diesem System spielen die EMRK, die EU-Grundrechte und die nationalen Grundrechte aus den Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten eine Rolle.

Als Höchstgerichte fungieren auf der Ebene der EMRK der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, auf der Ebene der EU-Grundrechte und des EU-Asylrechts der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH)in Luxemburg und auf nationaler Ebene die Verfassungsgerichte.

Das grund- bzw. menschenrechtliche Problem von Überstellungen von Asylbewerbern nach Griechenland auf der Grundlage der Dublin II-Verordnung der EU beschäftigt derzeit nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern auch die anderen beiden höchstgerichtlichen Ebenen. Am 1. September fand vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) [7] eine diesbezügliche öffentliche Anhörung [8] im Fall einer Beschwerde gegen Belgien und Griechenland statt. Der EGMR hat in den vergangenen Jahren in mehreren Entscheidungen sehr deutlich gemacht, dass die EMRK automatischen vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz dann verlangt [9], wenn einer Person durch Abschiebung Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen.

Danach wäre die deutsche Rechtslage so nicht haltbar. Dem EuGH [10] liegen derzeit durch Vorlage [11] nationaler Gerichte mehrere Dublin-Fälle zur Entscheidung vor. Der EuGH wiederum legt in seiner Rechtsprechung [12] großen Wert auf die Wahrung des EU-Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz, das durch die nationalen Gerichte in Durchführung des EU-Rechts zu wahren ist.


Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als Meilenstein für das System des Europäischen Grundrechtsschutzes?

Die bevorstehende neue Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht also in engem Zusammenhang mit den bevorstehenden Entscheidungen der anderen beiden Höchstgerichte, die für Wahrung des Grundrechtsschutzes in Europa zuständig sind. Ob diese Gerichte kooperativ oder gegenläufig entscheiden werden, ob und wie die Wirkung der Entscheidungen den Grundrechtsschutz in Europa stärken wird, ist offen.

(Wie) wird das Bundesverfassungsgericht nach Überprüfung seiner eigenen Rechtsprechung das deutsche Grundrecht auf Asyl als deutsche Grundrechtserrungenschaft zu europäischer Aufmerksamkeit bringen?

Wird das Bundesverfassungsgericht erstmals einen Fall dem EuGH zur Prüfung vorlegen, weil die (erschütterte) Grundannahme einer EU-Verordnung und EU-Grundrechte entscheidend sind? Wird der EGMR im Vorfeld des Beitritts der EU zur EMRK seine Zurückhaltung im Hinblick auf die Bewertung von EU-Recht aufgeben und seine strengen Maßstäbe an das EU-Recht anlegen?

Die Verhandlung am 28. 10. 2010 verspricht spannend zu werden.



Quellen:

Ruth Weinzierl: Der Asylkompromiss 1993 auf dem Prüfstand. Gutachten zur Vereinbarkeit der deutschen Regelungen über sichere EU-Staaten und sichere Drittstaaten mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, dem EU-Recht und dem Deutschen Grundgesetz, Berlin: Deutsches Institut für Menschenechte 2007 (35 S.).
http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/studie_der_asylkompromiss_1993_auf__dem_pruefstand.pdf

Ruth Weinzierl: Deutsche und Europäische Grundrechte im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Das Asylrecht als Testfall für den kooperativen Grundrechtsschutz in Europa. In: Zeitschrift für Ausländerrecht 2010, S. 260-270.

Kurzzusammenfassung des ZAR-Artikels: Noch im diesem Jahr möchte das BVerfG in der Hauptsache über Verfassungsbeschwerden von Asylbewerbern entscheiden, deren Überstellung nach Griechenland auf der Grundlage einer EU-Verordnung es durch einstweilige Anordnungen gestoppt hatte. Es steht zu erwarten, dass das BVerfG seine Rechtsprechung zu Art. 16a GG aus dem Jahr 1996 überprüfen wird. Parallele Fälle sind derzeit vor dem EGMR anhängig. Der Beitrag stellt die Verfassungsbeschwerden in den Kontext des Mehrebenensystems des europäischen Grundrechtsschutzes und der europapolitischen Entwicklungen, die das deutsche Recht bisher geprägt haben. Er zielt auf die deutliche Unterscheidung zwischen rechtspolitischer Argumentation einerseits und grundrechtlicher Argumentation auf der Ebene des Verfassungs- bzw. EU-Primärrechts andererseits. Die Autorin setzt sich mit der Frage auseinander, ob eine Vorlage des Bundesverfassungsgerichts zum EuGH erforderlich ist. Darüber hinaus wird die Bedeutung des deutschen Asylgrundrechts für die weitere Entwicklung des Asylrechts dargelegt.

Dr. Ruth Weinzierl, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Menschenrechte


Links:
 [1] http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg10-079.html
 [2] http://europa.eu/legislation_summaries/justice_freedom_security/free_movement_of_persons_asylum_immigration/l33153_de.htm
 [3] http://www.unhcr.de/uploads/media/Griechenland/AufnahmelandAsylsuchende.pdf
 [4] http://www2.ohchr.org/english/issues/torture/rapporteur/
 [5] http://www.coe.int/t/commissioner/news/2010/100901strasbourgcourt_EN.asp
 [6] http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv094049.html
 [7] http://www.echr.coe.int/ECHR/EN/Header/Press/Multimedia/Webcasts+of+public+hearings/webcastEN_media?&p_url=20100901-1/en/
 [8] http://www.echr.coe.int/ECHR/EN/Header/Press/Multimedia/Webcasts+of+public+hearings/webcastEN_media?&p_url=20100901-1/en/
 [9] http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/studie_der_asylkompromiss_1993_auf__dem_pruefstand.pdf
[10] http://www.asyl.net/index.php?id=130&tx_ttnews[tt_news]=40045&cHash=75a39ad90f
[11] http://www.asyl.net/index.php?id=130&tx_ttnews[tt_news]=40045&cHash=75a39ad90f
[12] http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/studie_der_asylkompromiss_1993_auf__dem_pruefstand.pdf


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Quelle:
Pressemitteilung und Stellungnahme vom 27. Oktober 2010
Deutsches Institut für Menschenrechte e. V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2010