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MENSCHENRECHTE/061: Nachhaltigkeit braucht Menschenrechte (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 150/Dezember 2015
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Nachhaltigkeit braucht Menschenrechte

Die Umsetzung der UNO-Ziele ist auch eine juristische Aufgabe

von Michael Wrase


Kurz gefasst: Nachhaltigkeit ist von den Vereinten Nationen zu einem globalen Leitbild gesellschaftlichen und politischen Handelns erklärt worden. Die 17 Nachhaltigkeitsziele umfassen ökologische, aber auch menschenrechtliche Standards. Diese müssen auch in Deutschland umgesetzt werden. Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie wird vom Bundeskanzleramt koordiniert und gesteuert. Neue Gesetze und Verordnungen müssen im Rahmen der Folgenabschätzung auf ihre Vereinbarkeit mit den Nachhaltigkeitszielen geprüft werden. Vor diesem Hintergrund muss die Wirkungsanalyse von Gesetzen neu aufgestellt werden.

Von einem umwelt- und entwicklungspolitischen Programm ist das Konzept der nachhaltigen Entwicklung zu einem übergreifenden Leitbild der internationalen, nationalen und lokalen Politik geworden. Die Weltgemeinschaft steht vor einer Mammutaufgabe. Auf wissenschaftlicher Seite sind jetzt nicht nur Politologen, Ökonomen und Ökologen gefordert. Auch für die Rechtswissenschaften ist die Nachhaltigkeit ein Thema geworden. Denn das Recht ist in zwei Punkten grundlegend für die Umsetzung der globalen Entwicklungsziele. Zum einen muss Nachhaltigkeit als Ziel durch staatliche Regulierung, sprich: das Recht, umgesetzt werden. (Neue) Gesetze müssen darauf überprüft werden, inwiefern sie in ihren tatsächlichen Wirkungen den einzelnen Zielen entsprechen und diese fördern können - oder aber zu ihnen im Widerspruch stehen.

Das erfordert neue Verfahren und Instrumente zur Gesetzesfolgenabschätzung. Zum anderen beruhen die meisten der neu formulierten globalen Entwicklungsziele auf Menschenrechten wie dem Recht auf Gesundheitsversorgung, dem Recht auf inklusive Bildung oder Geschlechtergleichheit. Damit stellen sich auch neue Fragen und Herausforderungen für die Rechtssoziologie: Wie lassen sich Normen und Gesetze mit Blick auf ihre sozialen Wirkungen menschenrechtlich bewerten? Und wie kann das im Rahmen der Gesetzesentwicklung und -evaluation ganz praktisch geschehen?


Was genau bedeutet nachhaltige Entwicklung?

Auf ihrer Gipfelkonferenz in New York Ende September 2015 haben die Vereinten Nationen (UN) die "Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung" verabschiedet. Die Bundesregierung, vertreten durch die Kanzlerin, hat sich dabei zur Umsetzung von siebzehn Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals, SDG) bekannt. Die Ziele sind teils absolut formuliert (wie SDG 7: "Sicherstellung erschwinglicher, verlässlicher, nachhaltiger und erneuerbarer Energiequellen für alle"), teils aber auch relativ (SDG 10: "Senkung der Ungleichheit innerhalb von und zwischen Ländern").

Die Verringerung sozialer Ungleichheit ist eine Vorgabe, die für Deutschland genauso Bedeutung hat wie etwa für südamerikanische oder afrikanische Staaten, auch wenn die gesellschaftliche Ausgangssituation sehr unterschiedlich ist. Das gilt ähnlich für die umweltpolitischen Ziele wie den Kampf gegen den Klimawandel (SDG 13) - die Europäische Union und die Vereinigten Staaten zählen neben China zu den Hauptemittenten der Treibhausgase. Verschiedentlich ist davon gesprochen worden, dass angesichts dieser Zielvorgaben auch Deutschland zu einem "Entwicklungsland" wird.

Als globales Konzept hat die Nachhaltigkeit ihren Ursprung im Bericht "Our Common Future", den die von der UNO eingesetzte Weltkommission für Umwelt und Entwicklung unter dem Vorsitz der damaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland 1987 formulierte. Der Brundtland-Bericht markierte eine grundlegende Neuausrichtung der Entwicklungsstrategie der Vereinten Nationen. Hatte man in den 1960er und 70er Jahren vor allem auf Marktliberalisierung und Wachstum gesetzt, wurde spätestens Ende der 1970er Jahre deutlich, dass wirtschaftliches Wachstum mit dem Verbrauch ökologischer Ressourcen und mit irreversiblem Raubbau an der Natur einherging. Auch zeigte sich zunehmend, dass Wirtschaftswachstum keineswegs automatisch zu besseren sozialen Bedingungen führte, sondern dass Industrialisierung und Verstädterung erhebliche (neue) Armutsprobleme und -risiken mit sich brachten. Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung wurde zum zentralen Leitprinzip der Vereinten Nationen, Regierungen, privaten Institutionen, Organisationen und Unternehmen erklärt. Es diente als konzeptionelle Grundlage für die UN-Staatenkonferenz 1992 in Rio und für die dort ins Leben gerufene Agenda 21. Es vereinigt zwei zentrale Dimensionen: den integrativen Ansatz und die Zukunftsbezogenheit.

Der integrative Ansatz erfordert die ganzheitliche Betrachtung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Folgen aller Maßnahmen. Eine Politik, die einseitig das Wirtschaftswachstum forciert, dabei aber erhebliche negative Folgen für die Umwelt und/oder das soziale Gleichgewicht in der Bevölkerung in Kauf nimmt, ist nicht nachhaltig. Zukunftsbezogenheit bedeutet, dass Verantwortung für die nachfolgenden Generationen übernommen wird: Entwicklungsprozesse sollen so angelegt sein, dass sie nicht nur innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft zu positiven Ergebnissen in den Bereichen Wirtschaft, Soziales und Umwelt führen, sondern die Folgen für zukünftige Generationen in den Blick nehmen.

Das Konzept der Nachhaltigkeit ist nicht nur für politische Akteure ein Maßstab, sondern auch für Unternehmer und sogar für Einzelpersonen. Nachhaltiger Konsum beispielsweise bedeutet, Produkte anzubieten und zu kaufen, die den Herstellern - etwa Kaffeebauern in Südamerika - einen fairen Lohn für ihre Arbeit garantieren und die zudem ressourcen- und umweltschonend hergestellt und vertrieben werden. Wenn eine solche Wertschöpfungskette für alle Beteiligten wirtschaftlich einträglich ist, insbesondere den Unternehmen angemessene Gewinne ermöglicht, sind alle drei Faktoren des Nachhaltigkeitskonzepts - Ökonomie, Ökologie und Soziales - im Plus. Da im Endeffekt aber der Preis für den Verbraucher ansteigt, ist für die Realisierung des nachhaltigen Konsums ein nicht nur am Preis orientiertes Konsumverhalten erforderlich und eine staatliche Regulierung, die beispielsweise Mindestlöhne festlegt und Ressourcenverbrauch besteuert. Als Politikziel ist Nachhaltigkeit eben nicht (nur) eine Handlungsmaxime für Einzelne, sondern eine Strukturvorgabe auf staatlicher Ebene.


Ökonomie - Ökologie - Soziales

Der Brundtland-Bericht geht von "menschlichen Bedürfnissen" als Referenzpunkt aus. Angestrebt wird eine möglichst hohe Lebensqualität für alle Menschen - die Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Ernährung, Wohnen, Gesundheit und die Teilhabe an der Gesellschaft ohne Gewalt, Bevormundung und Diskriminierung. Die Menschenrechte werden damit, wie Katja Gehne ausführt, zum "normativen Referenzrahmen" der Nachhaltigkeit. Das Deutsche Institut für Menschenrechte stellt fest, dass die meisten der Nachhaltigkeitsziele mit Menschenrechten korrespondieren und "Kernelemente wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte beinhalten". Das Konzept der Nachhaltigkeit zeigt sich damit als rechtebasierter Ansatz.

Das gilt auch für die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit, also die Sorge um Natur und Lebensbedingungen angesichts einer auf stetiges Wachstum angelegten globalen Wirtschaft, die unter Ausbeutung von Umweltressourcen stattfindet. Sie umfasst auch die Risiken und Gefahren, die von technologischen Entwicklungen für die Umwelt ausgehen. Grundausrichtung des ökologischen Faktors der Nachhaltigkeit ist nach der Brundtland-Kommission ein anthropozentrisches Verständnis des Umwelt- und Ressourcenschutzes. Diese Sichtweise steht im Einklang mit Artikel 20a des Grundgesetzes, der den Staat zum Schutz der "natürlichen Lebensgrundlagen" gerade "auch in Verantwortung für die künftigen Generationen" verpflichtet.

Wirtschaftswachstum wird im Brundtland-Bericht - trotz stärker werdender Kritik - keineswegs abgelehnt, sondern weiter als ein zentraler Bestandteil der Strategie gegen Armut und ökologische Katastrophenszenarien angesehen. Auch SDG 8 spricht von "inklusivem und nachhaltigem Wirtschaftswachstum".

Das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung basiert mithin auch auf der Idee der wirtschaftlichen Freiheit, wie er den heftig diskutierten internationalen Freihandelsabkommen zugrunde liegt. Es fordert aber zugleich ihre Begrenzung und Einhegung in soziale und ökologische Prozesse sowie die vorrangige Beachtung menschenrechtlicher Standards. Dem müssen internationale Handelsübereinkommen wie das geplante TTIP und CETA entsprechen.


Reform der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie

Im Rahmen der Verhandlungen zur Agenda 2030 hat sich Deutschland für eine globale Verankerung der Nachhaltigkeitsziele stark gemacht. Bei der nationalen Umsetzung hinkt die Bundesregierung der globalen Entwicklung jedoch hinterher. Zwar gibt es bereits seit 2002 eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie, die die Umsetzung des Konzepts zur Querschnittsaufgabe aller Ministerien macht. Schaltstelle ist der Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung unter Leitung des Chefs des Bundeskanzleramts. Allerdings hat die Strategie bislang wenig politische Bedeutung erlangt und ist nach außen hin weitgehend unsichtbar geblieben.

Momentan wird der Fortschritt beim Erreichen von Nachhaltigkeitszielen im Rahmen der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie anhand von 38 Schlüsselindikatoren in 21 Bereichen gemessen, die jeweils auf Daten des Statistischen Bundesamts beruhen. Ihre Zusammenstellung entspricht allerdings nicht mehr den neueren Entwicklungen der UN-Nachhaltigkeitsstrategie; sie muss den siebzehn Zielformulierungen der Agenda 2030 angepasst werden. Die Indikatoren erfassen wesentliche menschenrechtliche Verpflichtungen nicht, die diesen Zielen zugrunde liegen: zum Beispiel das Recht auf unparteilichen und effektiven Rechtsschutz, die Gewährleistung des sozialen und medizinischen Existenzminimums oder die Inklusion von Menschen mit Behinderung in das Regelbildungssystem nach der UN-Behindertenrechtskonvention.

Die Wirkungsanalyse von Gesetzen muss vor diesem Hintergrund neu aufgestellt werden. Die Gesetzesfolgenabschätzung ist ein institutionalisiertes Verfahren, das bei der internen Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen durch die Bundesministerien zwingend vorgeschrieben ist. Die Gemeinsame Geschäftsordnung der Ministerien (GGO) enthält die ausdrückliche Verpflichtung "darzustellen, ob die Wirkungen des Vorhabens einer nachhaltigen Entwicklung entsprechen, insbesondere welche langfristigen Wirkungen das Vorhaben hat".

In der Praxis der Gesetzgebungsverfahren findet diese Vorgabe allerdings bislang so gut wie keine Beachtung. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Methodik und inhaltliche Vorgaben der Folgenabschätzung bislang nicht ausreichend entwickelt sind und entsprechende Vorgaben fehlen. Wenn nun die globalen Nachhaltigkeitsziele im nationalen Rahmen umgesetzt werden, beinhaltet dieser Prozess die Chance, die Gesetzesfolgenabschätzung konkret und effektiv auszugestalten. Die Bundesregierung sollte hierfür verlässliche Verfahren und Bewertungskriterien mit Blick auf die SDG erarbeiten und implementieren. Die Zielformulierungen der UNO enthalten für alle Politikbereiche relevante (menschen-)rechtliche Vorgaben, anhand derer Gesetzesvorhaben in ihren möglichen Wirkungen eingeschätzt und bewertet werden können - und, mit Blick auf die von Deutschland eingegangene Verpflichtung, auch müssen.

Die parlamentarische Kontrolle der Nachhaltigkeitsprüfung könnte durch den Beirat für nachhaltige Entwicklung des Deutschen Bundestags erfolgen. Dieser würde im Rahmen von Gesetzgebungsverfahren, gegebenenfalls nach Anhörung von Sachverständigen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, die Plausibilität der ministeriellen Folgenabschätzung mit Blick auf die globalen Nachhaltigkeitsziele nachprüfen und jeweils eine eigene - gegebenenfalls auch abweichende - Stellungnahme beifügen. Ein solches Verfahren würde eine echte politisch-partizipative Diskussion über die Erfüllung der Ziele durch einzelne gesetzliche Maßnahmen ermöglichen. Deutschland hat sich nicht nur global, sondern auch national zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele bekannt. Dem müssen nun konkrete Taten folgen.


Michael Wrase ist Mercator-Fellow am WZB in der Projektgruppe der Präsidentin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozial- und Bildungsrecht sowie Rechtssoziologie. Im Rahmen eines Kooperationsprojekts mit dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz befasst er sich mit der Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele in Deutschland.
michael.wrase@wzb.eu


Literatur

Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.): Sind die SDGs für Deutschland relevant? Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte 2015.

Die Bundesregierung (Hg.): Meilensteine der Nachhaltigkeitspolitik. Weiterentwicklung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Berlin: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2014.

Gehne, Katja: Nachhaltige Entwicklung als Rechtsprinzip. Tübingen: Mohr Siebeck 2011.

Kercher, Julia / Mahler, Claudia: Die Nachhaltigkeitsziele oder Sustainable Development Goals - Chance für die Umsetzung von Menschenrechten in und durch Deutschland. Deutsches Institut für Menschenrechte, aktuell 02/2015.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 150, Dezember 2015, Seite 42-44
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2016

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