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PROZESSE/014: Oury Jalloh - Internationale Liga für Menschenrechte fordert neue Ermittlungen (ILMR)


Internationale Liga für Menschenrechte - 16. November 2012

Zum Ende der Beweisaufnahme im Magdeburger Oury-Jalloh-Prozess

Internationale Liga für Menschenrechte kritisiert bisheriges Verfahren und fordert neue Ermittlungen



Am 4. Dezember 2012 wird die 1. Strafkammer des Landgerichts Magdeburg die Beweisaufnahme im Revisionsprozess zum Verbrennungstod Oury Jallohs im Polizeigewahrsam abschließen. Nach 22 Monaten und mehr als 60 Verhandlungstagen werden die Fragen nach dem Brandausbruch weiterhin unbeantwortet bleiben.

Die Strafkammer geht offenbar davon aus, dem Auftrag des Bundesgerichtshofs nachgekommen zu sein. Denn das Gericht wird, anhand computerbasierter Simulationen eines neuerlich bestellten Brandsachverständigten, wie gefordert, den Verlauf der Entwicklung des Brandes nachvollziehbar darstellen können und ebenso die Zeitdauer, die dem wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagten Dienstgruppenleiter Andreas S. zur Rettung Oury Jallohs verblieb. Doch zur "Entwicklung" des Brandes hätte darüber hinaus unweigerlich auch die Untersuchung jener Umstände gehört, die den Ausbruch des Feuers erklären. Eben diese Klärung lehnten, gegen den Willen der Vertreter der nebenklagenden Familie Jallohs, alle übrigen Prozessbeteiligten einschließlich des Gerichts ab.

Ligapräsidentin Prof. Dr. Fanny-Michaela Reisin stellt vor dem Hintergrund ihrer langjährigen Beobachtung der Prozesse zum Verbrennungstod Oury Jallohs fest: "Die Selbstbeschränkung des Gerichts auf das Ziel, ausschließlich den Verlauf des Feuers nach Brandausbruch zu rekonstruieren und die mögliche Schuld des Dienstgruppenleiters an der Verbrennung des Inhaftierten zu untersuchen, wirkte sich als Grenze der richterlichen Unabhängigkeit aus. Demonstriert wurde, eine unverständliche Langmut gegenüber offen zu Tage getretenen Widersprüche zwischen Zeugenaussagen und Indizien bis hin zu einer regelrechten Blindheit gegenüber den vielen, auch in diesem Fall ?verschwundenen? und nachkorrigierten Beweismitteln. Unserer Auffassung nach haben sich in Sachsen-Anhalt Polizei- und Innenbehörden der Vertuschung ihrer ?inneren Zustände? verdächtig gemacht, während Staatsanwaltschaft und Gerichte ihrem gesetzlichen Kontrollauftrag nicht in erforderlichem Maße nachgekommen sind."

Gleichwohl war das Revisionsverfahren keineswegs völlig umsonst. Die vom Dessauer Oberstaatsanwalt Preissner zwei Monate nach dem Brandtag verkündete und seitdem in beiden Verfahren beharrlich vertretene Konstruktion, wonach Oury Jalloh den Brand, an dessen Folgen er verstarb, mit einem - in mehreren Leibesdurchsuchungen nicht gefundenen - Feuerzeug selbst gelegt haben soll, wurde in einem Maße erschüttert, das die Staatsanwaltschaft veranlassen müsste, endlich auch Ermittlungen wegen Mord aufzunehmen. Die Strafkammer müsste selbstkritisch eingestehen, dass sie den Brandausbruch in der Polizeizelle bis heute nicht zu klären vermochte, obwohl die Klärung gerade dieser Frage von entscheidender Bedeutung ist.

Die bereits in erster Instanz als corpus delicti präsentierten "verschmorten Feuerzeugreste" waren nicht etwa bei der ersten Spurensicherung am Tag des Geschehens durch die Kriminalpolizei gesichert und registriert worden, sondern erst drei Tage später nach Öffnung und Durchsuchung der Asservate durch Labormitarbeiter. Die vermeintliche Beweiskraft dieses verspäteten Feuerzeugfundes wurde nun im Magdeburger Verfahren durch weitere Negativbefunde noch stärker in Zweifel gezogen: An besagten Resten konnten weder DNA-Spuren des Verbrannten noch Faserspuren seiner Kleidung oder der Matratze, auf der er gelegen hatte, festgestellt werden. Überdies wäre der erstinstanzliche Freispruch für den Polizeibeamten Hans-Ulrich M., der Oury Jalloh durchsucht und bei diesem gerade kein Feuerzeug gefunden hatte, Grund genug, den späteren Feuerzeugfund und die darauf basierende "Selbstanzündungskonstruktion" komplett in Frage zu stellen.

Zeugenaussagen des Kommissars vom Lagedienst (KvL), Lothar W., verweisen auf weitere Merkwürdigkeiten jener Selbstentzündungsversion. Demnach kamen bereits kurze Zeit nach dem Brandausbruch am Tattag, so gegen 13:30 Uhr, die Zuständigen von Polizeidirektion, Staatsanwaltschaft und Innenministerium zusammen und berieten den Fall. Die Kriminalpolizei, die um 13:30 Uhr mit der Spurensicherung beauftragt war, durfte laut Zeugenaussage des Kriminaloberkommissars H. allerdings erst um 15:30 Uhr die Spurensicherung aufnehmen. Zu diesem Zeitpunkt war die Selbstanzündungsthese bereits in einer so genannten WEM (Wichtige Email) der Polizeidirektion verbreitet. Die Kommentierung des noch erhaltenen Videos der kriminalpolizeilichen Spurensicherung vor Ort belegt, dass sie dem Videograph W. bekannt war. Die Polizeibeamten des Reviers wurden laut Aussagen mehrerer Zeugen in Mitarbeiterbriefen und -gesprächen im Nachhinein instruiert.


Welche Rolle spielt die Staatsanwaltschaft?

Die eklatanten Widersprüche in den Aussagen der Polizeizeugen, die die Vorgänge in der Todeszelle während der letzten 30 Minuten vor Brandausbruch betreffen, sind von der Staatsanwaltschaft nie im Interesse einer rückhaltlosen Klärung des Sachverhalts aufgelöst worden. Zusammen mit unsäglichen Schlampereien und Versäumnissen bei der Staatsanwaltschaft, die während des Magdeburger Verfahrens aufgedeckt wurden, hinterlässt dieses Justizorgan den fatalen Eindruck, eine wirkliche Aufklärung des Falles eher zu behindern denn zu befördern.

Erinnert sei etwa an das verschwundene Dienstjournal, das erst nach der Beantragung einer Hausdurchsuchung durch die Nebenklägerin nach sechs Jahren wieder auftauchte, sowie an das scheinbar für immer verlorene Fahrtenbuch; beide Dokumente waren ursprünglich durch die Staatsanwaltschaft beschlagnahmt worden. Erinnert sei an die Unstimmigkeiten zwischen polizeilichen Vernehmungsprotokollen, die dem Gericht einerseits von der Staatsanwaltschaft, andererseits von der vernehmenden Polizeibehörde vorgelegt wurden. Erinnert sei schließlich an den Skandal, der gegen Ende des Verfahrens offenkundig wurde: Die Staatsanwaltschaft weiß seit Jahr und Tag, dass das Dessauer Polizeirevier bei längerem Freiheitsentziehungen die richterlichen Entscheidungen routinemäßig nicht einholt, obwohl dies nach Polizeigesetz und Strafprozessordnung zwingend erforderlich ist. Sie hat es bis heute unterlassen, wegen dieses fortgesetzten polizeilichen Rechtsbruchs Ermittlungen gegen die Polizei und ihre ministeriale Aufsichtsbehörde aufzunehmen.

Wer kontrolliert die Staatsanwaltschaft?

Wer die zuständige Aufsichtsbehörde im Justizministerium?


Die Internationale Liga für Menschenrechte stellt fest:

Die im Magdeburger Verfahren zutage getretenen Ungereimtheiten, Schlampereien und Unterlassungen sprechen einem rechtsstaatlichen Ermittlungsverfahren Hohn. Das obsessive Festhalten von Polizei, Staatsanwaltschaft und Verteidigung, aber auch des Gerichts, an der höchst fragwürdigen Feuerzeug-Erzählung und Selbstanzündungshypothese verstellt den unvoreingenommenen Blick auf andere - nach Lage der bisherigen Beweisaufnahmen durchaus gleichberechtigte - Hypothesen. Dazu gehört die Möglichkeit, dass der Brand durch Drittverschulden verursacht wurde und ebenso, dass ein Mord durch Polizeibeamte nicht ausgeschlossen werden kann.

Die Liga sieht daher die Staatsanwaltschaft in der Pflicht, endlich entsprechende Ermittlungen - auch wegen des seit langem gehegten Verdachts auf Mord an Oury Jalloh - aufzunehmen.

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Quelle:
Mitteilung vom 16. November 2012
Internationale Liga für Menschenrechte
Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2012