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STRAFRECHT/308: Verbrecherjagd im Datennetz (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - 1/2007
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

Fokus Gesellschaft im Konflikt
Verbrecherjagd im Datennetz

Von Tim Schröder


Das Internet bietet ungeahnte Möglichkeiten - auch Terroristen, Pädophilen und Betrügern. Die Justiz ist gegen Verbrechen in der virtuellen Welt oft machtlos. Ulrich Sieber, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, erforscht, wie sich das Strafrecht an die neuen Gefahren anpassen muss - ohne dass dabei Informationsfreiheit und Bürgerrechte auf der Strecke bleiben.


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David ist ein Besessener. Tagelang hockt er in seinem Zimmer vor dem schwarzen Bildschirm mit der grün leuchtenden Schrift. Wieder und wieder tippt er kryptische Buchstaben und Zahlenkolonnen in seinen Computer. Eigentlich ist David Lightman Schüler. Zu Hause aber wird er zum Hacker. Der respektlose Schlaukopf wählt sich in den Schulcomputer ein, frisiert das Zeugnis seiner Freundin Jennifer. Er überrumpelt ein Flugbuchungssystem und reserviert zwei Tickets nach Paris - ein Teenager-Spaß. Irgendwann überschreitet er die Grenze. David will das Computersystem eines Videospiel-Herstellers knacken und landet direkt in der Nordamerikanischen Verteidigungszentrale Norad. David glaubt, ein virtuelles Spiel zu spielen - "Global thermonuclear war" - und löst damit fast einen Atomkrieg aus.

Die Rolle des naiv-genialen Hackers David im Spielfilm WarGames bringt dem jungen Schauspieler Matthew Broderick 1983 seine erste Oscar-Nominierung ein - und dem Rest der Welt erstmals das ungute Gefühl, dass wild gewordene Computer über das weltweite Datennetz gewaltigen Schaden anrichten können. Zu der Zeit kennen sich nur wenige Fachleute mit der Computerei aus. Mit befremdeter Bewunderung begegnen Laien Hackern - Exoten, die auf unsichtbaren Pfaden durch einen seltsam abstrakten Kosmos navigieren. Mit Atari und Commodore 64 diffundiert die virtuelle Welt erst zaghaft in die Jugendzimmer und Wohnstuben.

Heute, fast 25 Jahre später, sieht die Welt anders aus. Digital verknüpft sind nicht mehr nur Firmen und Behörden. Längst umspannt ein dichtes Datennetz den Globus. Es verbindet weltweit Milliarden Menschen. In Deutschland ist der Klick ins Internet bereits für 75 Prozent der 18- bis 34-Jährigen selbstverständlich. Information rast in Sekundenschnelle um die Erde. Milliarden E-Mails, Dokumente, Grafiken täglich. Röntgenbilder flitzen zwischen Kontinenten hin und her, von Spezialist zu Spezialist. Ingenieure warten sogar Kraftwerke via Datenleitung aus der Ferne.

Mit einer einfachen Tastenkombination kann jeder sich das Wissen der Welt ins Haus holen. Mitunter aber auch ungebetene Gäste. Denn unter Milliarden rechtschaffener Internetnutzer tummeln sich Tausende mit bösen Absichten. Die dunkle Seite des Internets hat inzwischen einen Namen - Cybercrime. Die Täter sind vermummte Terroristen, die in Internet-Videos ihre Waffen schwenken und zum Glaubenskrieg aufrufen. Mit ihren martialischen Websites rekrutieren sie neue Kämpfer. Oder Betrüger, die Trojaner verschicken, um PIN-Nummern für Internetkonten zu ergaunern. Oder Verbrecher, die in geheimen Online-Börsen Bilder von missbrauchten und gequälten Kindern verbreiten. Die Hackerei der frühen 1980er-Jahre wirkt da fast harmlos.


Bauanleitungen für Bomben

Inzwischen bietet der Cyberspace Platz für das gesamte Spektrum transnationaler Kriminalität. Darauf ist die Justiz nicht vorbereitet. An ihre Grenzen kommt sie vor allem dann, wenn die Delikte komplex werden, wenn die Behörden dem organisierten Verbrechen und Wirtschaftskriminellen über den ganzen Globus folgen oder terroristische Netzwerke entwirren müssen. Organisierte Verbrecher und Terroristen kommunizieren in verschlüsselter Form über das Internet. Terroristen veröffentlichen Bauanleitungen für Bomben. Im Datennetz planen sie Anschläge, kundschaften mit Suchmaschinen und Google Earth potenzielle Angriffsziele aus.

Die Verbrecher im anonymen, flüchtigen und superschnellen Internet aufzuspüren gestaltet sich schwer genug. Noch schwieriger ist, sie strafrechtlich zu verfolgen und zu verurteilen. Das Problem liegt vor allem beim Strafrecht: Das Internet ist global, das Strafrecht aber grundsätzlich auf das jeweilige nationale Territorium beschränkt. Meist verurteilt ein Gericht einen Täter in dem Land, in dem er straffällig wurde. Beim Internet aber können zwischen Täter und Tatort 10.000 Kilometer liegen. Viele Gerichtsverfahren haben die Ohnmacht der Justizbehörden in solchen Fällen gezeigt. Ulrich Sieber, einer der beiden Direktoren des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg im Breisgau, kennt die juristischen Grenzen und auch die kriminellen Aktivitäten auf der Weltbühne. Er ist Spezialist für grenzüberschreitende Kriminalität - für organisiertes Verbrechen, für internationalen Terrorismus, für grenzenlose Wirtschaftskriminalität und für Cybercrime. Mit seinen Mitarbeitern der Forschungsgruppe Strafrecht analysiert der Jurist, was sich die Kriminellen dieser Welt einfallen lassen - "Neue Formen der Delinquenz in der globalen Informations- und Risikogesellschaft" heißt das im neuen Forschungsprogramm. Sieber prüft, ob und wie weit das geltende Strafrecht auf der Welt das kriminelle Verhalten überhaupt abdeckt. Er will vor allem auch herausfinden, wie sich die neue Art der Kriminalität effektiver verhindern lässt.

Worin die Herausforderung des Internets für das Strafrecht besteht, machte 1999 der Fall des Holocaust-Leugners Frederic Toeben klar. Von Australien aus hatte Toeben im Internet jahrelang scheinbare Beweise gegen den Holocaust veröffentlicht. Toeben ließ sich in ehemaligen Konzentrationslagern fotografieren, schwafelte Haarsträubendes. Freilich ließ sich Toebens Internetauftritt auch von Deutschland aus erreichen. In Deutschland waren die Inhalte strafbar, in Australien nicht. Toebens Treiben wäre ungesühnt geblieben, wäre er nicht für einen Kurzbesuch nach Deutschland gereist. Dort versuchte er persönlich, den zuständigen Staatsanwalt von seinen Geschichten zu überzeugen. Der Staatsanwalt zögerte nicht lang und ließ den Australier festnehmen.

In diesem Fall ist es für die Justiz gut gelaufen. "Doch in vielen Fällen kommt man mit nationalstaatlichen Lösungen bei der Kriminalität im globalen Cyberspace nicht weit", sagt Sieber. "Wir brauchen ein transnational wirksames Strafrecht." Zwei Wege führen dorthin - eine gute zwischenstaatliche Zusammenarbeit oder aber ein supranationales Strafrecht. Für beide Lösungsmodelle ist freilich ein gewisser gemeinsamer Nenner im Strafrecht nötig, auf den sich die Staatengemeinschaft einigen muss. Ein Schwerpunkt in Siebers Forschungsprogramm liegt darauf, die Modelle für ein transnationales Strafrecht zu entwickeln und Grundlagen eines solchen Nenners zu finden. Für das Internet ist das besonders schwierig. Sieber: "Im globalen Cyberspace kulminieren die Probleme des internationalen Verbrechens. Cybercrime ist geradezu ein Lehrstück für die Probleme der transnationalen Kriminalität."

Das hat mehrere Gründe. Zum einen die technische und wirtschaftliche Globalisierung. Dank Internet rückt die Welt näher zusammen. Zunehmend wickeln Unternehmen und Privatpersonen Geschäfte über das Internet ab. Ständig wandern Informationen durch dieses Netz, die für Kriminelle interessant sind. Zum anderen hat die zunehmende Technisierung nicht nur Erleichterungen für den Alltag gebracht, sondern auch neue Risiken: Flugzeuge können Hochhäuser einstürzen lassen und mehrere tausend Menschen töten. Via Internet können Verbrecher Technik noch einfacher missbrauchen, sekundenschnell Stromnetze lahmlegen oder Kommandozentralen verrückt spielen lassen. Der Mensch ist von der Informationstechnik abhängig wie nie und entsprechend verwundbar. Sieber findet es daher keineswegs selbstverständlich, dass der große Cyber-Terroranschlag bisher ausgeblieben ist.


Verbrechen in der Glasfaserleitung

In der Vorsilbe Cyber kommt all das zum Ausdruck, was der staatlichen Kriminalitätskontrolle Kopfzerbrechen bereitet: Wie nur soll man in einem virtuellen, von Technik beherrschten und globalen Raum kriminelles Verhalten kontrollieren und verfolgen? Verbrechen versteckt sich hinter Technik, in Glasfaserleitungen, in Serverräumen. Schon Dialer sind dem unbedarften Internetnutzer rätselhaft. Unmerklich schalten sie die Internetleitung auf teure Service-Rufnummern um. Dem Ahnungslosen flattern horrende Telefonrechnungen ins Haus. Wie will ein Wissenschaftler in den unergründlichen Tiefen des Internets erforschen, was sich in Sachen Verbrechen tut? Wie findet ein Jurist heraus, welche neuen Techniken aufkommen, welche betrügerischen Machenschaften? Wie erfährt die Justiz, ob das Strafrecht und die internationalen Abkommen diesen Dingen gewachsen sind? Ulrich Sieber und seine Mitarbeiter gehen da ganz pragmatisch vor. In einem aktuellen Projekt durchforsten sie zunächst Zeitungen und Informationsdienste nach aktuellen Fällen. Dann beginnen sie die Analyse. Sie interviewen die Opfer, Täter und Ermittler, haken nach, ermitteln Details. Sie analysieren nationale und internationale Regelungen zur Computerkriminalität auf Übereinstimmungen und Unterschiede.

Manchmal laden sie Experten ein - ehemalige Hacker etwa, die aus dem Nähkästchen plaudern. "Vor zwei Jahren hatten wir einen der weltweit besten Hacker und einen Ermittlungsbeamten in unserem Institut, die uns gezeigt haben, wie man Sicherheitslücken in Computersystemen findet, wie man Passwörter ausspäht oder Datenverbindungen abhört." Das beunruhigende Fazit des Top-100-Hackers: Noch heute können Spezialisten mehr als 90 Prozent aller Sicherheitssysteme knacken.

Kein Zweifel: Wer auf diesem Feld forscht, braucht technisches Verständnis. Sieber arbeitete bereits als Werkstudent bei IBM und durfte schließlich bei einem Ausbildungsprogramm mitmachen - zwischen lauter Informatikern und Physikern, die sich wunderten, was der Jurist da zu suchen hatte. Siebers Mitarbeiter zum Thema Cybercrime haben ebenfalls Erfahrungen zum Beispiel als Systemadministratoren und kennen Technik und Strafrecht gleichermaßen. Juristischer und technischer Sachverstand sind für das komplexe Cybercrime eine perfekte Mischung. Damit brachte Sieber im Jahr 1999 auch das Urteil gegen den ehemaligen Chef von CompuServe Deutschland, Felix Somm, zu Fall.

Somm war im Jahr zuvor vom Amtsgericht München wegen angeblicher Mittäterschaft bei der Verbreitung von Kinderpornografie zu zwei Jahren Bewährungsstrafe und einer Zahlung von 100.000 Mark verurteilt worden. Der Grund: Auf dem Datenserver des US-Mutterkonzerns in Ohio hatten Newsgroups kinderpornografische Darstellungen und neonazistische Informationen gespeichert. Der Richter machte Felix Somm dafür verantwortlich, dass die Daten auch von Deutschland aus abrufbar waren. Zwar sperrte die US-Mutter die Seiten. Auf Somm aber lastete der Vorwurf, nichts gegen die Verbreitung in Deutschland getan zu haben.


Deutsches Bier im Gully

Das erstinstanzliche Urteil des Münchner Richters sorgte für weltweite Aufregung. Die New York Times berichtete auf der Titelseite. Vor dem Goethe-Institut in San Francisco schütteten Demonstranten deutsches Bier in den Gully und protestierten: "Deutsche Weltpolizisten wollen das globale Internet zensieren." Ulrich Sieber sah in dem Urteil den eher hilflosen Versuch eines deutschen Gerichts, mit nationaler Technik und nationalem Strafrecht internationale Probleme bekämpfen zu wollen. Ihn interessierte an dem Fall die grundlegende Frage, inwieweit nationale Kontrollstrategien transnationale Kriminalität überhaupt verhindern können. Sieber übernahm Somms Verteidigung und demontierte das Urteil - nicht zuletzt wegen "einer ganzen Reihe von Fehlern im technischen Verständnis von internationalen Datennetzen". Zum einen zeigte Sieber, dass es technisch nicht möglich war, den Zugriff der deutschen Nutzer auf die amerikanischen Inhalte zuverlässig zu sperren. Zum anderen habe das Gericht nicht einmal den Versuch unternommen, einen "in den USA handelnden Mittäter festzustellen". Das Ergebnis: Somm wurde in zweiter Instanz freigesprochen.

Das Urteil hallte nach. Es beeinflusste nicht nur das Recht in Deutschland, sondern in der ganzen Europäischen Union. So wurde vielen Justizbehörden erstmals der strafrechtlich relevante Unterschied zwischen Access- und Host-Service-Providern klar. Access-Provider - wie die ehemalige Firma CompuServe Deutschland - leiten Daten lediglich weiter. Für sie ist es technisch unmöglich, alle Informationen zu überprüfen. Für die Inhalte können sie daher strafrechtlich auch nicht verantwortlich gemacht werden.

Host-Service-Provider hingegen - Anbieter, die Daten speichern - können und müssen rechtswidrige Inhalte sperren, sobald sie davon erfahren. Eine entsprechende Notice-and-take-down-Procedure ist inzwischen in vielen Staaten anerkannt. Hinweise erhält der Host-Service-Provider beispielsweise über ein internationales Netz von Hotlines. Internetnutzer melden dort verdächtige Websites. Entfernt der Host-Service-Provider die Daten nicht, macht er sich strafbar. Staatlichprivate Koregulierung nennt Sieber das. Auf solche Alternativen und Ergänzungen zum Strafrecht setzt der Max-Planck-Wissenschaftler in der Kriminalpolitik.

Ein weiteres Beispiel dafür ist die technische Prävention. Derzeit untersuchen die Freiburger Forscher zusammen mit Informatikern, inwieweit es sinnvoll ist, dass Behörden darüber hinaus nationale Sperren gegen ausländische Internetinhalte anordnen. Das Resultat: Nationale Sperrverfügungen schirmen verbotene Inhalte in vielen Fällen nur so gut ab wie ein Gartenzaun einen Einbrecher. Darüber hinaus beeinträchtigen derartige Sperrungen häufig auch den legalen Datenverkehr.

Dennoch können deutsche Behörden derartige - auch symbolische - Maßnahmen anordnen, weil es auf nationaler Ebene bislang meist keine besseren Konzepte gibt. Die Forschungen machen damit deutlich, warum die Wissenschaftler intensiv an der Entwicklung international wirksamer Maßnahmen und Regelungen arbeiten, die weniger in die Meinungsfreiheit eingreifen als die wenig wirksamen Sperrverfügungen.

Bislang scheitern internationale Zusammenarbeit im Strafrecht und eine Strafrechtsharmonisierung oft am Souveränitätsdenken der Nationalstaaten. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) darf beispielsweise keinem ihrer Mitgliedsstaaten Vorschriften machen. Stattdessen veröffentlicht sie kurzerhand nationale Defizite. Naming and shaming nennt Sieber das. Die nichtstrafrechtliche Methode hatte oft Erfolg: Das nationale Recht wurde häufig geändert. Inzwischen haben viele Staaten damit begonnen, ihre Strafgesetze zum Cybercrime in diversen Punkten aufeinander abzustimmen. Der weltweit wohl wichtigste Konsens ist die Cybercrime-Konvention des Europarats, der sich unter anderem auch Kanada und die USA angeschlossen haben. Die Konvention schreibt unter anderem vor, bestimmte Delikte einheitlich zu ahnden: etwa den unbefugten Zugriff auf Daten, die unbefugte Datenlöschung oder die Verbreitung von Kinderpornografie. Darüber hinaus wollen die Staaten die Ermittlungsmaßnahmen im Internet vereinheitlichen. Und noch etwas verlangt die Cybercrime-Konvention von ihren Mitgliedsstaaten: Nationale Kontaktstellen, die sieben Tage in der Woche rund um die Uhr besetzt sind.


Verwischte Spuren im Datennetz

Hacker-Angriffe wandern über viele Computer von Kontinent zu Kontinent. Damit verwischt der Angreifer seine Spur. Für die Fahnder wird es auf diese Weise schwer, den Weg zurückzuverfolgen, weil Verbindungsdaten nur selten länger gespeichert werden. Da ein Hackerangriff die Hoheitsgebiete mehrerer Staaten berührt, ist die Ermittlung der Täter bislang ausgesprochen mühsam. Dank der nationalen Kontaktstellen können die betroffenen Länder die Fahndungen und die internationalen Ermittlungen jetzt schnell und unbürokratisch abstimmen. Damit erweist sich die Bekämpfung des Cybercrime als vorbildhaft für internationale Strafrechtskooperation. Die hier eingesetzten Modelle und Lösungen lassen sich dann später auch auf andere Bereiche übertragen.

Vor Kurzem hat der Europarat das Freiburger Institut mit einer Analyse der Cybercrime-Konvention und anderer internationaler Konventionen beauftragt. Die Forscher sollten die internationalen Regelungen in Sachen Cyberterrorismus auf den aktuellen Stand bringen. Sieber kommt zu dem Ergebnis, dass noch einiges zu tun ist. So wurden die Konventionen bislang noch nicht ausreichend ratifiziert. Zudem fehlt in den internationalen Konventionen "eine allgemeine Verpflichtung zur strafrechtlichen Erfassung von allgemeinen terroristischen Drohungen", wie sie kürzlich in Deutschland durch die Medien tickerten. Auch die Ermittlungsmaßnahmen in der Cybercrime-Konvention müssten aktualisiert werden.

Was dazu gehört, finden die Forscher vor allem durch Strafrechtsvergleichung heraus: Regelmäßig durchstöbern sie das Strafrecht verschiedener Länder, vergleichen, registrieren, welche Eigenarten, welche Neuerungen es gibt. 1700 Fachzeitschriften ruhen in den Regalen des Instituts und dazu etwa 400.000 Bücher. Genug Stoff für ausgiebige Recherchen. "Für wichtige Länder haben wir spezielle Landesreferate. Damit können wir aber nicht alle Sprachen und Rechtsordnungen der Welt abdecken", sagt Sieber. "Deshalb bitten wir häufig die Fachkollegen in anderen Ländern, uns detaillierte Berichte mit den entscheidenden Informationen zu erstellen." Die Vergleiche liefern wichtige Hinweise darauf, welche Strafrechtsregelungen möglich und vielversprechend sind. Daraus gewinnen die Wissenschaftler Erkenntnisse, die am Ende auch der nationalen Gesetzgebung und internationalen Konventionen zugute kommen können.

In vielen Fällen begnügt sich der Gesetzgeber allerdings nicht damit, ein transnationales Strafrecht zu schaffen. Die aktuellen Risiken führen zu prinzipiellen Veränderungen des Strafrechts. Denn oft versagt die traditionelle Abschreckung: Terroristen fürchten Strafe nicht. Um Selbstmordanschläge zu verhindern, will man den Märtyrern mit vorbeugenden Maßnahmen zuvorkommen. Die neuen Gefahren der modernen Risikogesellschaft verändern damit das klassische strafrechtliche Paradigma der Repression: Von alters her reagiert das Strafrecht erst auf begangenes Unrecht. Die neuen Gefahren der komplexen Kriminalität aber fördern stattdessen ein präventiv ausgerichtetes Sicherheitsrecht. Mit neuartigen Überwachungsmethoden soll es Straftaten bereits im Planungsstadium entdecken und verhindern.

Die Gruppe um Ulrich Sieber will herausfinden, wie sich das neue Sicherheitsrecht auf die gesamte Rechtsordnung und also auch auf das Strafrecht auswirkt - nicht nur im Hinblick auf die Cyberkriminalität, sondern auch bei der Reaktion auf Terrorismus, organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität. Eine der großen Fragen im Hintergrund lautet dabei: Wo liegen die funktionalen und territorialen Grenzen des Strafrechts, das den Bürger auch vor übermäßigen Eingriffen schützen muss. Das Internet bietet dafür besonders interessantes Anschauungsmaterial.

Speziell im Hinblick auf die moderne Informationstechnik sieht Sieber dabei ein grundsätzliches Problem der transnationalen Kriminalität und des transnationalen Strafrechts: Mit der Informationstechnik könnten tatsächlich Orwell'sche Visionen zur Realität werden. "Mit Lösungen wie Sperrverfügungen schränken wir automatisch unser Recht auf Informationsfreiheit ein. Letztlich müssen wir uns überlegen, wie viel Sicherheit wir brauchen und wie viel Freiheit wir dafür zu opfern bereit sind", sagt Ulrich Sieber.

Die Prävention von Cybercrime berühre daher gesellschaftliche Grundlagen. Das Freiburger Institut erforscht deshalb nicht nur, inwieweit sich Cybercrime effektiv bekämpfen lässt, sondern auch wie stark dabei Freiheitsrechte betroffen sind - die Anonymität und die Privatsphäre der Bürger im Internet etwa.

Wie wichtig das ist, machen neue zum Teil stark umstrittene Pläne für weitere staatliche Kontroll- und Verfolgungsmaßnahmen im Internet klar. Ein aktuelles Beispiel ist die Online-Durchsuchung, die der Bundesgerichtshof soeben für rechtswidrig erklärte - nicht zuletzt unter Berufung auf einen Beitrag von Sieber: Bei einer klassischen Durchsuchung werden Büros auf richterlichen Beschluss hin nur einmal und in einer offenen Weise durchwühlt.


Warnung vor Terrorhysterie

Die Online-Suche nach flüchtigen digitalen Informationen greift da ungleich schwerer in die Privatsphäre des Bürgers ein, der in seinem Computer möglicherweise jahrelang persönliche Daten wie Steuererklärungen, Krankenkassenabrechnungen oder vielleicht sogar Tagebuchaufzeichnungen gespeichert hat. Von dem staatlichen Hackingangriff bekommt er auch überhaupt nichts mit. Entsprechendes gilt für die Rasterfahndung und neue zentrale Datenbanken, auf die Strafverfolger, Geheimdienste und zahlreiche andere Behörden gemeinsam Zugang haben.

Keine Frage: Die neuen Risiken und die technischen Veränderungen der Informationsgesellschaft erfordern neue strafrechtliche Konzepte und Regelungen sowie neue alternative Lösungsansätze. Doch die Freiburger Forscher warnen davor, in der großen Terrorismushysterie die Rechte der Bürger mehr als nötig zu beschneiden - so wie es die gegenwärtige US-Regierung mit ihrem War on terror vormacht. Verdächtige dürfen dort ohne den Nachweis einer konkreten Straftat lange gefangen gehalten werden. Bürger werden ohne richterlichen Beschluss abgehört und überwacht - rein präventiv.

Ulrich Sieber zufolge sollten die neuen Herausforderungen nicht nur die Fantasien über neue Eingriffs- und Überwachungsmaßnahmen beflügeln. Genauso wichtig sei es, neue Schutzmechanismen für die Freiheit der Bürger zu entwickeln. Auch das tun die Max-Planck-Wissenschaftler. "Wir machen hier vor allem Grundlagenforschung", sagt Sieber. Dabei beziehen er und seine Mitarbeiter meist auch konkrete Probleme des strafrechtlichen Alltags ein. Das Internet liegt Sieber besonders am Herzen. "Es ist eine gigantische Wissensquelle und ein wertvolles Gut", sagt er. Eine seiner Visionen ist es, das Internet zu einem weltweit geschützten Rechtsgut zu machen, behütet durch eine globale Konvention. Ganz so, wie man es schon bei der hohen See, der Antarktis und dem Weltraum gemacht hat.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

> Für die meisten Internetnutzer ist Google Earth ein faszinierendes Spielzeug, doch Terroristen kundschaften damit Anschlagsziele aus.

> Per Kreditkarte identifiziert: In der Operation Mikado ermittelte die Polizei Sachsen-Anhalts 322 Bezieher von Kinderpornografie.

> Eskalation in der Cyberwelt: David Lightman (oberes Bild und mittleres Bild) löst im Film WarGames fast einen Atomkrieg aus.

> Auf dem Weg ins Gericht: Ulrich Sieber (Mitte), der Chef von CompuServe Deutschland, Felix Somm (rechts), und der Rechtsanwalt Wolfgang Dingfelder.

> Getarnt als Mail vom Bundeskriminalamt - der Wurm Sober Y.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin
der Max-Planck-Gesellschaft 1/2007, S. 20-25
Hrsg.: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
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Das Heft als PDF: www.magazin-dt.mpg.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2007