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VERBRAUCHERSCHUTZ/029: Rechtsdurchsetzung - Brauchen wir die Sammelklage? (BMJ)


Bundesministerium der Justiz - Berlin, 25. November 2008

Konferenz zur kollektiven Rechtsdurchsetzung - Brauchen wir die Sammelklage?


Das Bundesministerium der Justiz veranstaltet heute eine Konferenz zum Thema "Kollektive Rechtsdurchsetzung in Deutschland". Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Praxis diskutieren, wie Klagen von vielen geschädigten Verbrauchern oder Kapitalanlegern gebündelt werden können, wenn sie auf dem gleichen Schadensereignis beruhen. Es geht also um sogenannte Sammel-, Gruppen-, Verbands- oder Musterklagen. Mit der heutigen Konferenz möchte das Bundesministerium der Justiz ein Forum für einen breiten Dialog schaffen, der bisherige Erfahrungen ausarbeitet und Impulse für die künftige Entwicklung auf diesem Gebiet erörtert.

"Es ist nicht allein damit getan, die Rechte der Verbraucher zu stärken. Wir müssen auch sicherstellen, dass sie ihre Ansprüche vor Gericht effektiv durchsetzen können", erklärte Bundesjustizministerin Zypries. "Gerade auch bei kleineren Schäden stellt sich die Frage nach einer kollektiven Rechtsdurchsetzung. Bei Kleinst- oder Bagatellschäden zieht ein Einzelner kaum vor Gericht, weil Aufwand und Kostenrisiko außer Verhältnis zum Schaden stehen. Haben viele Menschen solche Kleinstschäden erlitten, kann es im Ergebnis aber um erhebliche Summen gehen. Unser Recht muss sicherstellen, dass kein Unternehmen darauf bauen kann, nicht mit Schadensersatzklagen konfrontiert zu werden. Ein solches Geschäftsmodell darf sich nicht lohnen", sagte Zypries.

"Wir sind in Deutschland bereits heute gut aufgestellt. Initiativen der EU geben uns Anlass zu prüfen, ob wir das deutsche Recht verändern müssen oder ob unser Recht nicht umgekehrt als Vorbild für andere taugt. Zwar sollten wir nicht jede neue Idee vorschnell als "Amerikanisierung" verteufeln. Allerdings ist es auch ein Qualitätsmerkmal von Recht "made in Germany", dass Unternehmen und Verbraucher bei uns sehr viel mehr Rechtssicherheit haben als etwa in den Vereinigten Staaten. Dabei muss es auch in Zukunft bleiben", betonte Zypries.

Zur Initiative der EU-Kommission und der Rechtslage in Deutschland im Einzelnen:

Die EU-Kommission wird in Kürze ein Grünbuch zur Verbrauchersammelklage vorlegen. Erste Vorstellungen zur kollektiven Rechtsdurchsetzung hat sie bereits in einem Weißbuch über Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts veröffentlicht. Zwar müssen Bürger in ganz Europa die Möglichkeit haben, ihre Ansprüche als Verbraucher ohne unzumutbar hohes Prozessrisiko einzuklagen. Es ginge aber zu weit, einen europaweiten Klagemechanismus mit sogenanntem opt-out-Charakter zu schaffen, bei dem ein Repräsentant die Ansprüche aller Geschädigten geltend machen kann, wenn diese nicht ausdrücklich widersprechen. Der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt, dass der Anspruchsberechtigte selbst entscheiden kann, ob er sich an diesem Gerichtsverfahren beteiligt oder seine Teilnahme verweigert. Außerdem stellt sich bei jedem opt-out-Mechanismus die Frage, wie der erstrittene Schadensersatz verteilt werden soll. Der Geschädigte muss daher wählen können, ob er sich an der Sammelklage beteiligt oder nicht (sog. opt-in-Lösung). In Deutschland besteht bereits ein abgestuftes und austariertes System der kollektiven Rechtsdurchsetzung.

Gewinnabschöpfung: Bei Kleinstschäden stehen Aufwand und Kostenrisiko für den einzelnen Betroffenen von vornherein außer Verhältnis zum Schaden. Deswegen wird er regelmäßig auf eine gerichtliche Durchsetzung seiner Ansprüche verzichten. Damit sich ein Geschäftsmodell, das darauf setzt, nicht lohnt, hat der Gesetzgeber seit 2005 im Wettbewerbsrecht und im Kartellrecht einen Gewinnabschöpfungsanspruch geschaffen. Verstößt ein Unternehmen vorsätzlich gegen das Wettbewerbs- oder Kartellrecht, kann der daraus erzielte Gewinn des Schädigers abgeschöpft und an die Staatskasse abgeführt werden. Klageberechtigt sind unter anderem die Verbraucherschutzverbände, die Industrie- und Handelskammern oder andere Verbände zur Förderung gewerblicher oder selbständiger beruflicher Interessen. Einziehungsklage: Bei mittleren Schäden sind die einzelnen Geschädigten häufiger bereit, ihre Rechte durchzusetzen, wenn sich Aufwand und Risiko in vertretbarem Rahmen halten. Dafür gibt es im deutschen Recht seit 2002 eine spezielle Form der opt-in-Sammelklage, nämlich die sogenannte Einziehungsklage für Verbraucherverbände. Sie gibt Verbraucherschutzverbänden die Möglichkeit, Zahlungsansprüche von mehreren Verbrauchern im eigenen Namen einzuklagen. Bei einer Einziehungsklage sind Aufwand und Risiko individueller Klagen spürbar vermindert. Zugleich ist sie gegen Missbrauch und vorschnelles Klagen gesichert. Das am 1. Juli 2008 in Kraft getretene, neue Rechtsdienstleistungsgesetz hat dieses Instrument noch erweitert. Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG): Eine dritte Kategorie sind Großschäden insbesondere in den Bereichen Produkthaftung, Prospekthaftung oder Haftung für schwere Unfälle mit vielen Opfern. Hier sind die Geschädigten meist entschlossen, ihre Ansprüche durchzusetzen. Gerichte müssen über Instrumente verfügen, um solche Großschadenskomplexe möglichst effizient, zügig und einheitlich zu entscheiden. Für den Teilbereich des Kapitalmarktrechts wurde im Jahr 2005 mit dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) eine Lösung geschaffen. Mit dem KapMuG kann in Schadensersatzprozessen wegen falscher, irreführender oder unterlassener Kapitalmarktinformationen ein Musterverfahren durchgeführt werden. Tatsachen- und Rechtsfragen, die sich in mindestens zehn individuellen Schadensersatzprozessen gleichlautend stellen, können in dem Musterverfahren einheitlich durch das Oberlandesgericht entschieden werden. Dieser Musterentscheid hat dann Bindungswirkung für alle gleichartigen Prozesse. Das KapMuG ist ein Pilotprojekt, das am 1. November 2010 außer Kraft treten wird. Der Gesetzgeber wird bis dahin untersuchen, ob das Musterverfahren als allgemeine Regelung in die Zivilprozessordnung aufgenommen werden soll. Es sind Anwendungsfälle denkbar, für die sich ein Musterverfahren durchaus eignen würde.


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Quelle:
Pressemitteilung vom 25.11.2008
Herausgegeben vom Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
des Bundesministeriums der Justiz
Verantwortlich: Eva Schmierer
Redaktion: Dr. Henning Plöger, Dr. Isabel Jahn,
Johannes Ferguson, Ulrich Staudigl
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. November 2008