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VÖLKERRECHT/066: Vom Recht des Stärkeren zur Ächtung des Krieges (friZ)


friZ - Zeitschrift für Friedenspolitik 2/08 - Juni 2008

Vom Recht des Stärkeren zur Ächtung des Krieges

Von Sybille Tönnies


Gefährden humanitäre Interventionen das Völkerrecht? Was geschieht mit dem Asylrecht im modernen Völkerrecht? Und wie modern ist das heutige Völkerrecht überhaupt noch?


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Jetzt, nachdem der Irak-Krieg verloren ist, stellen die Völkerrechtler fest, dass er ein Angriffskrieg war, der gegen die UN-Charta verstossen und damit das Völkerrecht gebrochen hat. Zu spät - sie retten das Recht nicht mehr. Schon viele Jahre vor dem Krieg haben gewandte Juristen das Völkerrecht so lange gewrungen und gewalkt, bis ein neues, bewegliches Völkergewohnheitsrecht entstanden zu sein scheint, in dem alles, was die USA tut, richtig ist.

Zu lange haben die europäischen Völkerrechtler dem zugesehen, ohne zu protestieren. Zu lange haben sie die flachen Argumentationen, die in Zeitschriften gedruckt über den Atlantik kamen, abgeschrieben und weitergegeben. Sie haben die freche sprachliche Neuschöpfung - "Preemptive War" - hingenommen, mit der überspielt wurde, dass damit tatsächlich der offensichtlich verbotene Präventivkrieg legitimiert wurde.

Spätestens seit dem Bombardement Belgrads im Jahre 1999 wird das in der UN-Charta niedergelegte Welt-Recht planmässig unterminiert. Schon dieses Bombardement verletzte den Kern der Charta, das Angriffskriegsverbot, und daran änderte die Tatsache, dass in Serbien schwere Menschenrechtsverletzungen vorkamen, überhaupt nichts. Es handelte sich um eine verbotene Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates.

Wenn man ihr den Namen Humanitäre Intervention gab, konnte man mit der völkerrechtlichen Unbildung der Öffentlichkeit rechnen, die nicht weiss, dass dieser Begriff seit dem neunzehnten Jahrhundert schwer inkriminiert ist. Die Humanitäre Intervention wurde nämlich bereits Ende des 19. Jahrhunderts international geächtet, als der hegemoniale Angriffskrieg noch erlaubt war (was bis 1919 der Fall war). Dem lagen schlechte Erfahrungen mit dem Missbrauch der moralischen Argumentation zugrunde. Die Gefährlichkeit der moralischen Argumentation hatte sich schon im Dreissigjährigen Krieg erwiesen. Die Idee des gerechten Krieges, die das ganze Mittelalter hindurch gegolten hatte, wurde nach den bösen Erfahrungen dieses Krieges, der von beiden Seiten als "gerecht" geführt worden war, als gefährlich verdammt. Sie hatte zu viel Unheil angerichtet: Sie hatte die Eskalation der Kriegshandlungen bewirkt, weil sich keine Macht unter dem Druck der religiösen Moral neutral halten konnte. Sie hatte Friedensschlüsse verhindert, weil diejenigen, die kapitulierten, mit Bestrafung rechnen mussten. An ihre Stelle wurde im Westfälischen Frieden das Prinzip der moralischen Gleichgültigkeit, der Indifferenz, gesetzt.

An die gute Seite der Indifferenz kann man sich heute überhaupt nicht mehr erinnern: Der Papst hat sie unlängst vor den Vereinten Nationen ausdrücklich als schädlich bezeichnet. Das ist moralisch natürlich korrekt, aber gefährlich: der Weltfrieden ist nach wie vor bedroht, wenn derjenige, der sich moralisch im Recht fühlt, die territoriale Integrität eines anderen Staates militärisch verletzen darf. Zwar hatte der Papst nur die Uno als Akteurin im Auge; angesichts der praktischen Behinderung dieser Organisation (durch das Veto) ist es aber wichtig, dass die Idee der Indifferenz weiterhin hochgehalten wird. Die Möglichkeit, dass die moralische Sicht einen Dammbruch bewirkt, hatte die Welt 1999 vor Augen. Die öffentliche Meinung war, weil es bei dem Bombardement Belgrads um Menschenrechte ging, auf der Seite der Nato. Dabei war doch schon damals erkennbar, dass sich die USA der UN-Charta entwinden und - dieses Mal noch moralisch abgestützt - dem Prinzip entziehen wollte. Das wurde nicht rechtzeitig durchschaut. Wer damals gegen das Vorgehen der Nato Bedenken hatte und die UN-Charta über die humanitären Bedürfnisse stellte, war dem Vorwurf ausgesetzt, mehr Wert auf beschriebenes Papier als auf menschliches Leben zu legen.


Verheerende Auswirkungen durch Auflösung des Asylrechts

Hier soll erstmals ein Aspekt erörtert werden, der bei dem im Jahre 2002 folgenden Bombardement Afghanistans zu Unrecht unbeachtet blieb (und erforscht werden möge): Hat dieser Angriff nicht die älteste Institution des Völkerrechts, das Asylrecht, verletzt? Dieses Recht ist nicht etwa das Recht eines Verfolgten, in einem fremden Staat aufgenommen zu werden (ein solches Recht hat es noch nie gegeben und gilt erst neuerdings - als "Wiedergutmachung" - in Deutschland). Es ist das Recht eines souveränen Staates, einen Verfolgten zu beherbergen, ohne dass der Verfolgerstaat darin einen Kriegsgrund sehen darf. Dieses Recht ist hat sich jahrtausendelang als friedensstiftend bewährt. Im Falle Bin Laden, den die Taliban nicht herausgeben wollten, wurde das "Harbouring" eines Staatsfeindes ohne Probleme als Rechtfertigung für einen Krieg angesehen. Über das den Taliban womöglich zustehende Asylrecht wurde nicht einmal gesprochen.

Die Begründung, man führe nicht gegen Afghanistan Krieg, sondern gegen die dort beherbergten Terroristen, verletzte ein weiteres Grundprinzip des Völkerrechts: die Maxime, dass nur gegen einen souveränen Staat Krieg geführt werden darf. Aliud est hostis, aliud est rebellis - der Feind ist etwas anderes als der Rebell. Auch dieses Prinzip - nur ein souveräner Staat kann iustus hostis, legitimer Feind, sein -, gilt seit dem Westfälischen Frieden 1648: Städte, Bischöfe, Raubritter sind seitdem nicht mehr kriegerisch, sondern mit polizeilichen Mitteln zu bekämpfen. Die Auflösung dieses Prinzips hat verheerende Auswirkungen, die sich schon 2006 im Sommerkrieg gegen den Libanon gezeigt haben, als nicht der Staat, sondern die Hamas der Gegner Israels war. Auch dieses Prinzip kommt heute nicht mehr zur Sprache. Als hätten sie etwas Neuartiges entdeckt, stellen Wissenschaftler (z.B. Herfried Münkler) fest, dass der Krieg nicht mehr das ist, was er einmal war - das feindliche Verhältnis zwischen Staaten -, sondern der Kampf gegen autonome Warlords und marodierende Haufen. Diese Wissenschaftler übersehen, dass diese Unordnung so alt ist wie die Welt: sie ist die Unordnung, in die der Westfälische Frieden eine Struktur gebracht hat. Rousseau hat sie mit dem klassischen Wort bezeichnet: "La guerre est une rélation d'Etat à Etat" - der Krieg ist ein Verhältnis von Staat zu Staat.


Das "moderne" Völkerrecht ist schon wieder unmodern

Wenn wir unsere Darstellung des Völkerrechts jetzt in eine historische Reihenfolge bringen, sieht sie so aus:

Am Anfang war das Recht des Stärkeren, und die Gemeinschaften schützten sich nur durch das (sakrale) Asylrecht vor überflüssigen Kämpfen. Auch das Römische Reich kannte keine "Rechte" der unterworfenen Völkerschaften (soweit sie nicht vertraglich vereinbart waren). Erst das christliche Mittelalter schränkte die Kriegsführung durch die Idee des gerechten Krieges ein. Das ging halbwegs gut, solange das Abendland geschlossen den Papst anerkannte. Nach der Glaubensspaltung wurde das "klassische Völkerrecht" gegründet: die Idee des gerechten Krieges wurde im Westfälischen Frieden durch das Prinzip der moralischen Indifferenz ersetzt. (Gleichzeitig bildeten sich die modernen Staaten heraus, die das alleinige Privileg bekamen, Krieg zu führen.) Das Prinzip der moralischen Indifferenz war zunächst auf die christlichen Nationen beschränkt; nach der Unruhe aber, die "humanitäre Interventionen" im Orient angerichtet hatten, wurde es auf heidnische Völker (insbesondere die Türkei) ausgedehnt. Anschliessend wurde auch der unmoralische Krieg für illegal erklärt. Nach dem Ersten Weltkrieg entstand das bis heute geltende "moderne Völkerrecht": Mit dem Völkerbund und dem Kelloggs-Pakt wurde der Krieg generell geächtet, nur die Verteidigung ist weiterhin legitim. Allein die Vereinten Nationen dürfen (bei einer Gefahr für die Weltsicherheit) militärische Gewalt anwenden, sind dabei aber durch das Erfordernis der Einstimmigkeit fast vollständig behindert.

Dieses "moderne" Völkerrecht ist, wie wir sahen, schon wieder unmodern. Aber niemand kann sagen, wie die neue Ordnung aussehen wird.


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Anfang vom Ende

Darf die UN-Charta, die den Angriffskrieg verbietet, um der guten Sache willen verletzt werden? Die Rechtsphilosophie kennt schon lange das Problem, dass die Gerechtigkeit, die der Einzelfall erfordert, im Widerspruch steht zur abstrakten Norm. Sie diskutiert es - in der Polarität Rechtssicherheit gegen Einzelfallgerechtigkeit. Seit zweieinhalbtausend Jahren war ihr Beispiel der Verfassungsbruch der Brüder Gracchus. Die römische Verfassung war im dritten Jahrhundert vor Christi den Brüdern Gracchus bei ihrer wichtigen und richtigen Sozialreform im Wege. Weil ein bestochener Intrigant gegen die Reform stimmte, setzte sich Gaius Gracchus über das rechtliche Erfordernis der Einstimmigkeit hinweg und liess sich für ein weiteres Jahr zum Konsul einsetzen, was in der Verfassung ebenfalls verboten war. Das Ergebnis dieses Rechtsbruchs zu Gunsten einer notwendigen Reform war die unaufhaltsame Auflösung der römischen Republik. Genauso war das Bombardement Belgrads im Jahre 1999, das ein moralisch gerechtfertigter Verstoss gegen das Völkerrecht war, der Anfang von dessen Ende.


Sybille Tönnies, Juristin und Soziologin, hat zurzeit einen Lehrauftrag an der Universität Potsdam inne.


Literatur

Otto Kimminich / Stephan Hobe: Einführung in das Völkerrecht. 2004, Verlag A. Francke, Tübingen und Basel. 615 S., ca. 45 Franken

Helmuth Quaritsch: Recht auf Asyl. Studien zu einem missdeuteten Grundrecht. 1985, Duncker und Humblot. 198 Seiten.

Sibylle Tönnies: Cosmopolis Now. Auf dem Weg zum Weltstaat. 2002, EVA. 149 S., ca. 25 Franken


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Quelle:
friZ - Zeitschrift für Friedenspolitik 2/08, Juni 2008, S. 20-21
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2009