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DILJA/168: Auf leisen Sohlen - Angriff auf das Streikrecht (SB)


Auf leisen Sohlen - Neue Etappe im "Arbeitskampf von oben"

Klammheimlicher Angriff auf das Streikrecht im gesamten EU-Raum


Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, ging es nicht um eine Entwicklung in ganz Europa, mit der nicht zu spaßen ist. Nachdem der Versuch der EU-Kernstaaten, eine geballte imperialistische Macht zu manifestieren, indem sich die EU eine dies begünstigende wie festschreibende "Verfassung" gibt, vor zwei Jahren am Einspruch der Bevölkerungen Frankreichs sowie der Niederlande gescheitert ist, soll dasselbe Projekt nun bar einer direkten demokratischen Legitimation durchgesetzt werden. Am Montag begannen die EU-Außenminister mit ihren Verhandlungen über einen angeblich reformierten EU-Verfassungsvertrag. Die wesentliche "Reform" dürfte allerdings darin bestehen, daß dieses bestenfalls mit kosmetischen Veränderungen versehene und von "Verfassung" in "EU-Vertrag" oder auch "Grundlagenvertrag" umetikettierte Machwerk an den nationalen Parlamenten wie auch dem EU-Parlament vorbei ausgearbeitet wurde und von den Mitgliedsstaaten der Union ratifiziert werden soll, ohne - wenn irgendmöglich - die Bevölkerungen per Referendum überhaupt entscheiden zu lassen.

Da der ursprüngliche EU-Verfassungsentwurf in Frankreich wie auch in den Niederlanden von den Bevölkerungen abgeschmettert worden ist, wäre es ein Gebot demokratischer Prinzipien, den angeblich "verbesserten" neuen Vertragsentwurf in diesen wie auch in allen übrigen EU-Staaten, deren Verfassungen eine solche Volksbefragung ermöglichen, abermals per Referendum zur Entscheidung vorzulegen. Daß dies vermieden werden soll - allein in Irland und Dänemark läßt sich ein solcher Schritt wohl nicht umgehen - spricht Bände und straft die angeblichen Verfassungsänderungen Lügen. So war der 500 Seiten, 448 Artikel und 36 Zusatzprotokolle umfassende "Vertrag über eine Verfassung für Europa", der am 29. Oktober 2004 von den Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten unterzeichnet worden war, jedoch scheiterte, weil er nicht in allen Mitgliedsländern ratifiziert werden konnte, nicht zuletzt deshalb abgelehnt worden, weil er für die gesamte EU ein neoliberales Wirtschaftsmodell unverrückbar festgeschrieben hätte.

Dies widersprach der Verfassungsrealität in allen EU-Staaten und verletzte aufs Gröbste die demokratische Kultur, die das führende Kerneuropa so gern im Munde führt, wenn es gilt, die eigenen globalhegemonialen Feld- und Vereinnahmungszüge schönzureden. In Deutschland beispielsweise wird selbst vom Bundesverfassungsgericht noch immer die Fahne der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes hochgehalten mit dem Argument, daß eine Festlegung - noch dazu per Verfassung - in dieser dem Gestaltungsspielraum der Parlamente und Regierungen obliegenden Grundsatzentscheidung zutiefst undemokratisch wäre. An diese Maßgabe scheint sich die Bundesregierung jedoch nicht gebunden zu fühlen. Sie trieb nicht nur nach Kräften die sogenannte "EU-Verfassung" voran, sie betätigte sich nach deren Scheitern als Motor, um den sogenannten Verfassungsprozeß doch noch zu dem auch von ihr gewünschten Ergebnis zu bringen.

Aus dieser Haltung lassen sich die Absichten der Merkel-Regierung, einen neoliberalen Superstaat in Europa aus der Taufe zu heben, ablesen. Offensichtlich vertreten die Regierungseliten in Berlin wie in Paris die Auffassung, als stärkste Mitgliedsstaaten von einer solchen Entwicklung nur profitieren und den eigenen Einfluß noch weiter ausdehnen zu können. In der "Verfassung" sollte erstmals die "unternehmerische Freiheit" konstitutionell verankert werden (Artikel II-16). Das Eigentum sollte (wie im Grundgesetz) garantiert, im Unterschied zur deutschen Verfassung jedoch von der Gemeinwohl-Verpflichtung entbunden werden (Artikel II-17). Eine Vergesellschaftung, wie im Grundgesetz unter der Maßgabe einer angemessenen Entschädigung ermöglicht, hätte es dem gescheiterten Verfassungsentwurf zufolge überhaupt nicht mehr geben sollen.

Von derlei Einzelbestimmungen abgesehen enthielt dieser Entwurf eine grundlegende Festlegung auf marktwirtschaftliche Prinzipien, so daß jede Bestrebung, einem alternativen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell den Vorzug zu geben, einem Bruch der EU-Verfassung gleichgekommen und somit in der Folge leicht zu diskreditieren und kriminalisieren gewesen wäre. In Teil III des Entwurfes hätten gleich drei Artikel (69, 70 und 71) die Europäische Union auf die Einhaltung der Grundsätze der "offenen Marktwirtschaft und des freien Wettbewerbs" verpflichtet. Als vorrangiges Ziel der Wirtschaftspolitik wurde die "Preisstabilität" explizit hervorgehoben, woraus sich unter Umständen ein indirektes Streikverbot hätte ableiten lassen. In den "Grundfreiheiten" - nicht zu verwechseln mit den Menschenrechten - sollten unternehmerische Freiheiten (der "freie Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit") garantiert werden, womit eine Verpflichtung der EU, diese in besonderem Maße zu schützen, hätte begründet werden können.

Die ursprüngliche EU-Verfassung kam einem Wunschkatalog neoliberaler Großkonzerne sowie der ihnen genehmen Regierungen schon sehr nahe. Er enthielt zwar eine ganze Reihe Artikel, die dem traditionellen Verfassungsverständnis und dementsprechenden Gepflogenheiten in den Mitgliedsländern geschuldet waren - wohl um den Charakter dieser Verfassung, die dem "Klassenkampf von oben" Vorschub leisten würde, nicht allzu deutlich werden zu lassen. Eine substantielle Aufwertung der Gegenseite, sprich der Gewerkschaften oder sonstiger Arbeitnehmerorganisationen, enthielt der Entwurfstext wohlweislich nicht. Das Streikrecht in Artikel II-88 durchaus aufgenommen:

ARTIKEL II-88 Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen

Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen haben nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen.

Doch der Teufel steckt auch hier im Detail. Ein grenzüberschreitendes, EU-weites Streikrecht ist darin nämlich nicht vorgesehen; schließlich sind solche Streiks in "einzelstaatlichen Rechtsvorschriften" nicht geregelt und solche "Gepflogenheiten" bestehen ebenfalls nicht, zumal das Interesse streikbereiter Gewerkschaften, ein- und denselben Konzern in allen EU-Staaten, in denen dieser Niederlassungen unterhält, gleichermaßen zu bestreiken, erst im Zuge der Entstehung solch transnationaler Unternehmen immer akuter wird. Mit einer solchen EU-Verfassung wäre es für die Konzerne leichter denn je, die Belegschaften in verschiedenen Ländern gezielt gegeneinander auszuspielen. Und so hieß es in den "Erläuterungen" zum "Recht auf Kollektivhandlungen und Kollektivmaßnahmen" in der EU-Verfassung denn auch:

Die Modalitäten und Grenzen für die Durchführung von Kollektivmaßnahmen, darunter auch Streiks, werden durch einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten geregelt; dies gilt auch für die Frage, ob diese Maßnahmen in mehreren Mitgliedstaaten parallel durchgeführt werden können.

Aus dem damaligen Verfassungsentwurf hätte sich jedoch sogar die Verpflichtung der EU ableiten lassen, etwaigen Streiks entgegenzutreten. In Artikel II-123 sollte festgelegt werden, daß "keine Bestimmung der Charta" "als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen" sei. Da zu den "Grundfreiheiten" Unternehmensfreiheiten wie der freie Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr gerechnet wurden, liegt es nahe, in einem Streik eine Einschränkung dieser Kapitalfreiheiten zu sehen. Eine solche Auslegung würde mit der unternehmensfreundlichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg (EuGH) übereinstimmen. Der EuGH hatte einen Streik französischer Lastwagenfahrer, in dessen Verlauf es zu Straßenblockaden gekommen war, als Behinderung des freien Warenverkehrs aufgefaßt und die französische Regierung aufgefordert, die Blockaden aufzulösen.

Inzwischen hat der neugewählte französische Präsident Nicolas Sarkozy in Frankreich dem Streikrecht im öffentlichen Dienst direkt den Kampf angesagt. Er will in diesem Bereich Streiks per Gesetz verbieten lassen. Sarkozy hat sich um die Neuauflage der EU-Verfassung in Gestalt eines "neuen" EU-Vertrages, auch "Reformvertrag" genannt, verdient gemacht. Einige Artikel, in denen der "freie Wettbewerb" sowie die "Preisstabilität" unter den Schutz der EU-Verfassung gestellt werden sollten, wurden auf Anregung des neuen Präsidenten Frankreichs gestrichen. Es blieben jedoch noch genug übrig, um den damals wie heute mit dem Vertragswerk verfolgten Zweck aufrechtzuerhalten - nicht zuletzt auch aufgrund der "Geheimdiplomatie" der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel als EU-Ratspräsidentin. Auch dem neuen Vertragsentwurf zufolge soll die EU, wie in Artikel 177 niedergelegt, "dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet" sein, und selbstverständlich ist auch in diesem Entwurf von einem grenzüberschreitenden, EU-weiten Streikrecht mit keiner Silbe die Rede.

Der Angriff auf das Streikrecht als weitere Etappe im "Klassenkampf von oben" wird jedoch keineswegs nur auf EU-Ebene geführt. Wie der jüngste Vorstoß des französischen Präsidenten Sarkozy, der Streiks im öffentlichen Verkehr (in Frankreich) generell verbieten lassen will, vermuten läßt, könnte ein Frontalangriff auf das in den jeweiligen nationalen Gesetzen anderer EU-Staaten verankerte Streikrecht bevorstehen. Schon vor zwei Jahren übernahm die EU die seinerzeit von der NATO beschlossene Terrorismusdefinition, derzufolge die Unterbrechung von Versorgungsleistungen, etwa durch Demonstrationen oder Streiks, bereits eine Vorstufe zum Terrorismus darstelle. Sarkozys Vorschlag, im Verkehrsbereich Streiks verbieten zu lassen, "paßt" so genau in dieses Schema, das eine langfristig angelehnte und sich unterschiedlicher institutioneller Instrumente bedienende Gesamtstrategie hier durchaus unterstellt werden kann.

In Deutschland scheint nach gegenwärtigem Verhandlungs- oder vielmehr Nichtverhandlungsstand ab August ein Lokführerstreik bevorzustehen, so die von der Lokführergewerkschaft GDL anberaumte Urabstimmung die erforderliche Zustimmung von mindestens 75 Prozent der streikberechtigten Gewerkschaftsmitglieder erbringt. Sollte dieser zu den absehbaren schweren volkswirtschaftlichen Schäden führen oder zum Anlaß genommen werden, ein aus ihm resultierendes Bedrohungsszenario für die (Verkehrs-) Sicherheit zu konstruieren, könnte er als Steilvorlage von jenen Kräften instrumentalisiert werden, die in Deutschland die Axt an ein gewerkschaftlich und arbeitsrechtlich ohnehin strikt reglementiertes und damit in seiner politischen Schlagkraft bereits reduziertes Streikrecht anlegen wollen - womit sich im zweiten Schritt die Weigerung der Bahn sowie indirekt auch der Bundesregierung, der als größter Anteilseignerin ein gewisser Einfluß unterstellt werden kann, den Lokführern ein für diese potentiell akzeptables Verhandlungsangebot zu machen, erklären ließe.

26. Juli 2007



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