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DILJA/001: Jugendmedienschutz-Staatsvertrag - Generalvorwand für Maulkorb (SB)


Frontalangriff auf Informations- und Kommunikationsfreiräume im Internet

Jugendmedienschutz-Staatsvertrag erzwingt Zensur und Selbstzensur


"Eine Zensur findet nicht statt." So zumindest steht es an besonders geschützter Stelle in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, nämlich in Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes, durch den die Meinungsfreiheit als "das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten" gewährt sowie "die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film" eigens gewährleistet werden. Eine Zensur dennoch einzuführen und auch so zu bezeichnen, ist schon aus verfassungsrechtlichen Gründen unmöglich, da die Meinungsfreiheit zu den Grundrechten gehört und damit durch Art. 79 Abs. 3, der sogenannten Ewigkeitsgarantie für den Kernbestand des Grundgesetzes, von der Möglichkeit einer Verfassungsänderung prinzipiell ausgenommen ist. Mit anderen Worten: Wenn die Meinungsfreiheit zu repressiven Zwecken eingeschränkt, ausgehöhlt oder sogar in ihrem faktischen Bestand bis an die Nullinie heran angegriffen werden soll, ohne zugleich den durch die Verfassung erhobenen Anspruch demokratischer Rechtsstaatlichkeit vollständig aufzukündigen, müssen andere administrativ-juristische Wege gefunden werden.

Dies gilt umso mehr aus politischen bzw. wahltaktischen Gründen, würde sich doch jeder Funktions- und Mandatsträger einer der beteiligten parlamentarischen Körperschaften politisch "unmöglich" machen, würde er in aller Offenheit einer Zensur zu Zwecken der Herrschaftssicherung in Zeiten absehbarer und anwachsender Proteste einer Bevölkerung, die mehr und mehr in den Zangengriff einer repressiven Armuts- und Mangelverwaltung genommen wird, das Wort reden. Hier mit gespaltener Zunge zu sprechen, ist nicht nur das Gebot der Stunde, um die Adressaten bevorstehender Repressionsverschärfungen, sprich die eigene Bevölkerung, möglichst lange und mit größtmöglicher Plausibilität über die Diskrepanz zwischen den mit Gesetzesnovellen und ähnlichen Maßnahmen vorgeblich und tatsächlich verfolgten Absichten im Unklaren zu belassen, sondern darf als Quintessenz der Herrschaft des Menschen über den Menschen verstanden werden.

Ein aktuelles und absehbar tief in die Restbestände demokratischer Kultur und verbliebener Freiheiten eingreifendes Beispiel ist der am 10. Juni 2010 in Berlin von den 16 Ministerpräsidenten der Bundesländer verabschiedete sogenannte "Jugendmedienschutz-Staatsvertrag" (JMStV), der als 14. Änderung des Rundfunkstaatsvertrages am 1. Januar 2011 in Kraft treten soll und wird, so ihn bis zum 31. Dezember alle Länderparlamente ratifiziert haben. Der vollständige Titel dieses Staatsvertrags, der den Rang eines verbindlichen Gesetzes einnehmen wird, lautet: "Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien" [1], verkürzt Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV). Auffällig ist dabei, daß der "Schutz der Menschenwürde" nicht nur gleichrangig neben dem "Jugendschutz" steht, sondern diesem sogar vorangestellt wurde, obwohl in der politischen und öffentlichen Debatte, so sie denn überhaupt geführt wird, stets der Eindruck erweckt wird, daß diese Gesetzesnovelle allein dem Schutz der Jugend im Internet gewidmet sei. Im Staatsvertrag selbst wird dessen Zweck in § 1 JMStV wie folgt definiert [1]:

Zweck des Staatsvertrages ist der einheitliche Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Angeboten in elektronischen Informations- und Kommunikationsmedien, die deren Entwicklung oder Erziehung beeinträchtigen oder gefährden, sowie der Schutz vor solchen Angeboten in elektronischen Informations- und Kommunikationsmedien, die die Menschenwürde oder sonstige durch das Strafgesetzbuch geschützte Rechtsgüter verletzen.

Hier steht der propagierte "Schutz der Kinder und Jugendlichen" vor Internetangeboten, die ihre "Entwicklung oder Erziehung beeinträchtigen oder gefährden", so sehr im Vordergrund, daß diese Zweckbehauptung Argwohn hervorrufen muß, weil nicht ausgeschlossen werden kann, daß der behauptete Jugendschutz als Generalvorwand für einen Maulkorb im Internet instrumentalisiert werden soll. Welcher Medienschaffende verfügt denn schon, noch dazu es in diesem Zusammenhang um die Beantwortung im Grunde erziehungswissenschaftlicher bzw. medienpädagogischer Fachfragen mit unter Umständen schwerwiegenden juristischen Konsequenzen geht, über die dafür erforderliche Sachkompetenz, um von dem nicht zuletzt auch verfassungsrechtlichen Widersinn, die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit einer solchen vermeintlichen Sachzwangslogik zu unterwerfen, ganz zu schweigen? Daß diese Problematik von den Initiatoren und Befürwortern des bereits verabschiedeten Staatsvertrages weder im Gesetz selbst noch an anderer Stelle angesprochen und in der gebotenen Tiefe diskutiert wurde, erhärtet den Verdacht, daß mit diesem bundesweit einheitlichen Regelungswerk in einem Bereich, der der Gesetzgebungskompetenz der Länder unterliegt, eine Repressionsverschärfung durchgesetzt werden soll, die sich des postulierten Jugendschutzes um ihrer politischen Durchsetzbarkeit willen zwar bedient, tatsächlich jedoch gänzlich andere Ziele verfolgt.

Es wäre dies nicht der erste Fall in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, bei dem der behauptete Zweck, nämlich Kinder und Jugendliche vor Gefahren welcher Art auch immer beschützen zu wollen, auf gänzlich andere obrigkeitsstaatliche Maßnahmen wie ein Schmiermittel draufgesattelt wurde, um dem andernfalls womöglich drohenden politischen Widerspruch schon im Ansatz entgegenzutreten; schließlich kann es gegen "Jugendschutz" kein Argument geben. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Verfolgung und Stigmatisierung sogenannter "Sekten", worunter Religionsgemeinschaften oder auch sonstige gemeinschaftliche Lebensformen subsumiert wurden, die sich von sich aus niemals als Sekten bezeichnet hätten. Zunächst als Maßnahme zum Schutz Jugendlicher vor für sie angeblich gefährlichen Religions- oder sonstigen Gemeinschaften bezeichnet, förderte erst die Anti-Sekten-Kampagne "Sekten" zu Tage.

Ohne die Zuhilfenahme des Stichwortes "Jugendschutz" hätte sich schwerlich die Frage ausblenden lassen, ob die inkriminierten Gemeinschaften nicht durch die im Grundgesetz in Art. 4 verankerte Glaubens- und Gewissensfreiheit oder auch das allgemeine Freiheitsrecht nach Art. 2 GG geschützt sind und ob nicht die allgemeinen Strafgesetze vollkommen ausreichen, um etwaige Gesetzesverstöße von Mitgliedern dieser Religionsgemeinschaften, die den hier geltenden Gesetzen selbstverständlich wie alle anderen Menschen auch unterliegen, zu ahnden. Allein die Tatsache, daß religiöse Inhalte, Rituale, Praktiken oder Lebensweisen nicht unbedingt mit denen der beiden deutschen Großkirchen wie auch der Mehrheitsgesellschaft übereinstimmen, hätte nach Ansicht vieler keinen stichhaltigen Grund geboten, um erwachsene Menschen in ihrer Tätigkeit so massiv zu beeinträchtigen, wie dies im Zuge der sogenannten Anti-Sekten-Kampagne geschehen ist.

Im Falle der Meinungs- bzw. Pressefreiheit lieferten die Väter und Mütter des Grundgesetzes allerdings - ob willentlich und wissentlich, sei einmal dahingestellt - eine Steilvorlage für das, was in naher Zukunft über das Internet als ein von sehr vielen Menschen benutztes Informations- und Kommunikationsmedium und damit auch über die politische und kulturelle Landschaft Deutschlands mit dem novellierten Staatsvertrag hereinbrechen wird, heißt es doch in Art. 5 Abs. 2 GG, daß die mit dem Grundrecht der Meinungsfreiheit gewährten Rechte "ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre" finden. Wäre da nicht vorstellbar, daß namentlich die mit dem "Schutz der Jugend" begründeten Schranken der Meinungsfreiheit von den Wegbereitern einer das gesamte Internet erfassenden De-facto-Zensur zum Vorwand genommen wurde, um entgegen des ursprünglich enggefaßten Wortverständnisses daraus eine Legitimation abzuleiten? Der Verdacht, daß mit dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, der spätestens in diesem Monat von den einzelnen Länderparlamenten ratifiziert werden soll, Ziele verfolgt werden, die unter das Stichwort politische und soziale Kontrolle bzw. Medienzensur zu subsumieren wären und nur dem Anschein nach dem Jugendschutz gewidmet sind, läßt sich derzeit jedenfalls nicht von der Hand weisen.

Wäre es desweiteren nicht denkbar, daß die Initiatoren dieser Gesetzesnovelle selbst in Sorge darüber waren, daß der behauptete Jugendschutz auf der einen und die tatsächlich im Internet beabsichtigten Kontroll-, Überwachungs- und Zensurmaßnahmen auf der anderen Seite einen zu großen Spreizschritt darstellen würden, um nicht doch infolge mangelnder Plausibilität und Glaubwürdigkeit massiven Unmut und fundierte Kritik hervorzurufen? Nicht auszuschließen ist daher, daß die Autoren des Staatsvertrags aus solchen oder ähnlichen Gründen übereinkamen, den "Schutz der Menschenwürde" und damit ein weiteres Totschlagargument, gegen das kein Widerspruch möglich zu sein scheint, in die Novelle mit aufzunehmen.

Welcher Zusammenhang überhaupt zwischen dem "Schutz der Menschenwürde", der zudem im Wortlaut des oben zitierten Paragraphen (§ 1 JMStV) nicht auf Kinder und Jugendliche begrenzt, sondern ganz allgemein formuliert wurde, und einem Rundfunk- bzw. Mediengesetz bestehen soll, ist nicht ersichtlich. Selbstverständlich könnte angeführt werden, daß durch Veröffentlichungen die Grund- bzw. Menschenrechte Betroffener verletzt werden könnten. Zur strafrechtlichen Ahndung derartiger Verstöße gibt es jedoch ausreichende gesetzliche Möglichkeiten; schließlich ist das Internet nie ein außergesetzlicher Bereich gewesen, für den entsprechende Schutz- bzw. Strafbestimmungen eigens hätten erfunden werden müssen.

In § 1 JMStV ist, so als wäre den Autoren diese Problematik durchaus bewußt gewesen, davon die Rede, vor "Angeboten in elektronischen Informations- und Kommunikationsmedien" zu schützen, die "die Menschenwürde oder sonstige durch das Strafgesetzbuch geschützte Rechtsgüter verletzen". Doch welch einen Sinn soll dies haben? Wo kann hier auch nur die geringste Regelungslücke, die durch den novellierten Staatsvertrag geschlossen werden könnte, vermutet werden, wenn doch der Schutz der Menschenwürde im Grundgesetz ohnehin an vorderster Stelle steht und laut Art. 1 GG "Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" ist und auch die übrigen Rechtsgüter, wie es im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag selbst heißt, "durch das Strafgesetz geschützt" sind? Der Logik der in § 1 JMStV festgelegten Zweckbestimmung folgend können nur medienrechtliche Vergehen in Frage kommen, da ausschließlich von "Angeboten" die Rede ist, die die Menschenwürde oder sonstige Rechtsgüter verletzen würden. Nicht die Folter, sondern die Berichterstattung über die Folter würde hier zum Gegenstand der angeblich dem Schutz der Menschenwürde des Betroffenen gewidmeten Maßnahmen werden.

Wird der sogenannte Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, um zu der Kernfrage zurückzukehren, ein Instrument politisch motivierter Repression vorzugsweise im Internet darstellen, weil Gesetzes- und Ordnungshüter hier von ihnen nicht oder ihrer Meinung nach nicht ausreichend kontrollierte Freiräume vermuten? Soll deshalb einer kritischen Öffentlichkeit, so sie sich in zunehmendem Maße gerade auch der Informations- und Kommunikationsmittel des Internets bedient, der Boden entzogen werden durch Einschränkungen, Maßnahmen und Auflagen, die formal zwar nicht den Titel "Zensur" tragen, unter Strich jedoch den zuständigen Behörden die erforderlichen Mittel an die Hand geben, um gegen ihnen mißliebige Blogs, Web-Anbieter und Foren vorgehen zu können? Stellt, um dies noch einmal zuzuspitzen, der in Anspruch genommene und behauptete Zweck, den Jugendschutz im Netz verbessern zu wollen, eine Art Tarnkappe dar, um gänzlich andere Zielsetzungen, etwa eine faktische und auf politische wie sozialkritische Inhalte und Positionen abstellende Medienzensur, die es laut Verfassung nicht geben kann und darf, auf Schleichwegen durchzusetzen?

Um diesen Fragen nachzugehen, lohnt sich ein kritischer Blick in die gesetzlichen Bestimmungen des sogenannten "Jugendmedienschutz-Staatsvertrags", dessen am 10. Juni 2010 von den Ministerpräsidenten der Bundesländer beschlossene Novelle in Gestalt des 14. Rundfunkänderungsstaatsvertrages [2] am 1. Januar 2011 Gesetzeskraft erlangen und somit im gesamten Bundesgebiet in Kraft treten soll. Gemessen an den tiefgreifenden Veränderungen, um nicht zu sagen schwerwiegenden Eingriffen, die durch diesen Staatsvertrag dem medialen Leben insbesondere im Internet und damit auch der demokratischen Kultur Deutschlands aufgezwungen werden (können), stellt das bisherige Vorgehen ein einziges Demokratiedefizit dar. Den Länderparlamenten als den Repräsentanten des eigentlichen Souveräns, nämlich den Bevölkerungen der jeweiligen Bundesländer, wird unter Umgehung einer öffentlichen Diskussion und kontroversen gesellschaftlichen Debatte ein allein von den höchsten Vertretern der Exekutive auf Länderebene, sprich den Ministerpräsidenten, beschlossener Vertragstext zum bloßen Abnicken vorgelegt.

Wer den Prozeß dieser Ratifizierungen, der von der kritischen Öffentlichkeit in diesen Tagen besonders aufmerksam verfolgt wird, da das Nein eines einzigen Parlaments die Gesetzesnovelle insgesamt null und nichtig machen würde, in parteipolitischer Hinsicht zu analysieren versucht, wird sich des Eindrucks kaum erwehren können, daß hier klammheimlich ein Verfahrensablauf durchgeturnt wird, der mit Staatsräson sehr viel, mit gelebter Demokratie und einem pluralistischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozeß, wie er in einem demokratischen Rechtsstaat in einer Frage von derartiger Tragweite geboten wäre, nicht das geringste zu tun hat.

Für couragierte Abgeordnete, die nicht bereit sind, aus Gründen vermeintlicher exekutiver Notwendigkeiten das eigene Gewissen bzw. die ursprünglichen politischen Überzeugungen an den Nagel zu hängen, bietet diese Konstellation in den Bundesländern, in denen die Vertragsannahme noch aussteht, immerhin noch die Möglichkeit, die angesichts der massiven verfassungsrechtlichen Bedenken gebotene parlamentarische Notbremse zu ziehen, um einer breiten öffentlichen Debatte und Kontroverse, an deren Ende dann gegebenfalls eine neue Gesetzesnovelle stehen könnte, überhaupt erst zur Existenz zu verhelfen.

Es darf prophezeit werden, daß sich die Initiatoren des umstrittenen Staatsvertrags, zu denen sicherlich auch die Bundesregierung zu zählen ist ungeachtet dessen, daß der Bund in dieser Frage keine Gesetzgebungskompetenz hat, mit Händen und Füßen gegen eine solche Option wehren werden, um ihr Machwerk wie von ihnen geplant durchzusetzen, obwohl die zahlreichen Einwände, Kritikpunkte und Gegenpositionen auch den Kreis der abstimmungsbefugten Landtagsabgeordneten längst erreicht haben. In Nordrhein-Westfalen, wo die Abstimmung im Landtag wie auch in Schleswig-Holstein am 16. Dezember bevorsteht, hat die FDP-Landtagsfraktion am 7. Dezember 2010 einen von Dr. Gerhard Papke und Ralf Witzel formulierten Antrag an den Landtag gestellt, den "Jugendmedienschutzstaatsvertrag in der vorliegenden Form" [3] abzulehnen. In ihren Ausführungen zur Ausgangslage geht die FDP-Fraktion unter anderem auch auf die gravierenden Eingriffe in das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) ein [3]:

Das Grundgesetz lässt Eingriffe in die Meinungs- und Informationsfreiheit zwar ausweislich Art. 5 Abs. 2 GG unter dem Gesichtspunkt des Jugendschutzes zu; dieser Gesichtspunkt hat aber einen anderen Bezug und vermag nicht die gravierenden faktischen Auswirkungen der vertraglichen Regelungen auf die Allgemeinheit zu rechtfertigen.

Nicht rechtfertigungsfähig sind demgegenüber Eingriffe, deren weitere Folgen für die über den Kreis der zu schützenden Kinder und Jugendlichen deutlich hinausreichen, sofern wie hier diese Folgen für den Gesetz- und Vertragsgeber klar und deutlich erkennbar waren. Dies ist im vorliegenden Falle angesichts der vielfach geäußerten Bedenken der Sachverständigen in den zahllosen Anhörungen ohne weiteres der Fall. Die nachteiligen Auswirkungen des Vertragswerks beschränken sich im übrigen nämlich nicht nur darauf, dass Nutzer des Web vom Einstellen von Inhalten absehen werden; der Kreis der Folgen umfasst vielmehr zahlreiche weitere Gesichtspunkte.
(S. 3/4)

Wenn aber, wie diesen Sätzen zu entnehmen ist, bei den in den einzelnen Bundesländern durchgeführten Anhörungen sehr wohl von seiten der hinzugezogenen Experten deutlich gemacht wurde, daß der durch die beabsichtigten Maßnahmen angeblich verfolgte Zweck des Jugendschutzes im Internet mehr als fragwürdig ist und daß mit schweren und völlig unverhältnismäßigen Beschneidungen der grundgesetzlich geschützten Meinungsfreiheit zu rechnen ist, können Abgeordnete, die dem Vertrag zustimmen, schwerlich für sich in Anspruch nehmen, nicht gewußt zu haben, welch einer unter demokratischen Gesichtspunkten katastrophalen Entwicklung sie damit den Weg ebnen. Die nordrhein-westfälische FDP-Fraktion vermeidet zwar das Wort "Zensur", spricht jedoch in ihrem Antrag von einer "mittelbar-faktischen Verkürzung der Meinungs- und Informationsfreiheit, da aufgrund des hohen Aufwands schlicht von der Inanspruchnahme von diesen Grundrechten unter Nutzung des Internets abgesehen werden wird" und merkt dazu an [3]:

Dieser Eingriff ist den Vertragsparteien auch bewusst; in sämtlichen Landtagen und Bürgerschaften der Bundesrepublik Deutschland haben im Vorfeld Anhörungen stattgefunden, in denen gerade Webexperten auf die vorgenannten Bedenken ausdrücklich und vielfach hingewiesen haben.
(S. 3)

So kann den Landesparlamentariern, die wie in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein diese Abstimmung noch vor sich haben, nur empfohlen werden, sich ungeachtet welcher auf sie ausgeübten (Fraktions-) Zwänge auch immer in die Einzelheiten des Vertragstextes zu vertiefen und ihn Wort für Wort, Satz für Satz und Paragraph für Paragraph auf die Frage hin zu überprüfen, ob der vorgebliche und auf den ersten Blick über jeden Zweifel erhabene Zweck, nämlich zum Schutz der Jugend wie auch der Menschenwürde beizutragen bzw. diese im Internet, genauer gesagt in dem Anbietern in Deutschland zurechenbaren Bereich, durchzusetzen, mit der tatsächlichen Zweckbestimmung übereinstimmt.

Eine solche Überprüfung kann und darf nicht vor den Grundlagen des in erster Fassung bereits am 1. April 2003 in Kraft getretenen "Staatsvertrags über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien (Jugendmedienschutz-Staatsvertrag - JMStV) [1] halt machen, da keineswegs ausgeschlossen werden kann, daß die jetzige Novelle nur eine (Negativ-) Entwicklung fortschreibt, forciert und auf eine bestimmte Stufe, die einer faktischen Zensur im Internet bereits gleichkommt, hebt in Erfüllung eines von Anfang an mit diesem Vertragswerk verfolgten Zwecks. Die noch vor Ende dieses Jahres geplante Ratifizierung der aktuellen Novelle könnte somit zum Anlaß genommen werden, nicht nur die am 10. Juni beschlossenen Änderungen, sondern das Vertragswerk insgesamt unter Berücksichtigung seiner bisherigen Anwendungspraxis einer kritischen Überprüfung innerhalb wie auch außerhalb der Landesparlamente zu unterziehen.

Der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag enthält - und dies ist kein Novum, sondern Kernbestandteil der seit fast sieben Jahren geltenden Regelungen - Bestimmungen, denen zufolge bestimmte Angebote, worunter nach § 3 JMStV-E "Inhalte im Rundfunk oder Inhalte von Telemedien im Sinne des Rundfunkstaatsvertrages" [2] zu verstehen sind, als "unzulässig" (§ 4 JMStV) oder "entwicklungsbeeinträchtigend" (§ 5 JMStV) angesehen werden. Im geltenden Staatsvertrag wie auch im zur Ratifizierung anstehenden Änderungsvertrag heißt es in § 4 (1) JMStV übereinstimmend: "Unbeschadet strafrechtlicher Verantwortlichkeit sind Angebote unzulässig, wenn sie ...", ohne daß deutlich gemacht worden wäre, inwiefern der strafrechtliche Schutz hier lückenhaft sein soll. Äußerungen, die auf welchem Wege auch immer publiziert und veröffentlicht werden, unterliegen im Geltungsbereich der Bundesrepublik Deutschland den hier geltenden strafrechtlichen Bestimmungen, weshalb außer Frage stehen dürfte, daß ein etwaiger Verstoß gegen die § 4 (1) und (2) bzw. § 5 JMStV aufgelisteten Anwendungsfälle gegebenenfalls auch im Internet strafrechtlich geahndet werden würden.

Die im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag konkretisierten Anwendungsfälle gehen jedoch über die durch das Strafrecht abgedeckten Fälle hinaus bzw. wurden wild durchmischt mit Bestimmungen, denen die verfassungsrechtlich gebotene Konkretisierung fehlt und die Allgemeinplätzen und Blanko-Vorschriften gleichkommen, unter die je nach politischer Verfolgungsabsicht subsumiert werden kann, was die mit der Durchführung der vermeintlich dem Jugendschutz gewidmeten Kontrolle und Überwachung im Internet befaßten Einrichtungen für verfolgungswert halten. Die rechtlichen Folgen bei Verstößen gegen die in § 4 (1) und (2) bzw. § 5 JMStV aufgelisteten "unzulässigen" bzw. "entwicklungsbeeinträchtigenden" Angebote sind durchaus unterschiedlich, woraus sich ein in den Sanktionsandrohungen differenziertes Bild ergibt. § 4 (1) JMStV listet "unzulässige Angebote" auf, für die der Vertrag im Unterschied zu den ebenfalls "unzulässigen" Angeboten des § 4 (2) JMStV keine Ausnahme aufweist und die, wie zu schlußfolgern wäre, unter keinen Umständen publiziert werden dürfen. Mißachtet ein Anbieter diese Maßgabe, handelt er nach § 24 (1) JMStV "ordnungswidrig".

Eine solche Ordnungswidrigkeit kann nach § 24 (3) JMStV mit einer Geldbuße von bis zu 500.000 Euro geahndet werden. Für große Medienkonzerne, so sie als Telemedien-Anbieter im Internet in Erscheinung treten und insofern von den aller Voraussicht nach ab dem 1. Januar 2011 verschärften Bestimmungen des sogenannten Jugendmedienschutz-Staatsvertrags betroffen sind, mag dies eine kalkulierbare und irgendwie noch vertretbare Risiko-Option sein, doch für private Anbieter oder kleine und mittlere Unternehmen, die in ihrer Internet-Präsentation betroffen sind, ist ein solcher Ordnungswidrigkeitsrahmen schon in seiner Androhungswirkung ruinös und wird eine lautlose Flut der Selbstzensur als der weitaus eleganteren Form staatlich erzwungener Medienzensur nach sich ziehen. Wer nun einwendet, derartige Befürchtungen seien überzogen, weil nur ein vergleichsweise kleiner und eng definierter Bereich von Angeboten im Internet überhaupt in Frage kommen könnte, sollte sich die gesetzlichen Bestimmungen genauer ansehen.

In dem bereits erwähnten § 4 (1) JMStV wird unter Punkt 10 der vorherige und derzeit gültige Wortlaut verändert in einer Weise, die mit dem in dem gesamten Vertragswerk erhobenen Anspruch, den Jugendschutz in diesen Medien stärken und verbessern zu wollen, in Übereinstimmung gebracht werden könnte. Statt der bisherigen Formulierung, derzufolge Angebote unzulässig sind, wenn sie

10. pornographisch sind und Gewalttätigkeiten, den sexuellen Mißbrauch von Kindern oder Jugendlichen oder sexuelle Handlungen von Menschen mit Tieren zum Gegenstand haben; dies gilt auch bei virtuellen Darstellungen [1]

soll es in der Neuregelung des § 4 (1) JMStV-E heißen, daß Angebote unzulässig sind, die

10. pornografisch sind und Gewalttätigkeiten, sexuelle Handlungen von, an oder vor Personen unter achtzehn Jahren oder sexuelle Handlungen von Menschen mit Tieren zum Gegenstand haben; dies gilt auch bei virtuellen Darstellungen [2]

Dessenungeachtet befinden sich in der Auflistung des § 4 (1) JMStV Anwendungsbereiche, die in Hinsicht auf die grundgesetzlich geschützte Meinungsfreiheit so fragwürdig sind, daß eine Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht als der einzigen juristischen Instanz in der Bundesrepublik Deutschland, die in Fragen der Auslegung des Grundgesetzes sowie der Verwirkung von Grundrechten entscheidungsbefugt ist, dringend geboten wäre. So heißt es in § 4 (1) unter Punkt 7, daß Angebote unzulässig sind, die "den Krieg verherrlichen". Dies leuchtet auf den ersten Blick sofort ein, doch birgt gerade der schnelle gesellschaftliche Konsens immense Gefahren für die demokratische Kultur einer Gesellschaft. Bei der Verherrlichung von Gewalt, die nach § 131 StGB ohnehin strafbar ist und bestenfalls noch voraussetzt, daß "Krieg" als "Gewalt" bewertet wird, besteht das Problem in der Auslegung des Begriffs Verherrlichung.

So wäre doch beispielsweise vorstellbar, daß ein Anbieter im Internet als seine Meinung kundtut, daß die regierungsamtliche Behauptung, der Bundeswehreinsatz in Afghanistan sei für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland unerläßlich, bereits eine solche Verherrlichung darstelle, weil sie die Grauen dieses Krieges bagatellisiere und ihn wegen vermeintlicher Sicherheitsinteressen Deutschlands als akzeptabel darzustellen versuche. Dieser Position gegenüber steht die von vielen regierungskonformen Medien übernommene Version, daß von einer Verherrlichung des Krieges selbstverständlich nicht die Rede sein könne und daß dieser nicht zuletzt auch im Interesse der afghanischen Bevölkerung und insbesondere der Frauen in Afghanistan geführt werde.

Diese beiden, hier beispielhaft dargestellten Standpunkte sind so konträr, wie sie es in einer pluralistischen Gesellschaft nur sein können. Werden allerdings gesetzliche und administrative Instrumente, wie beispielsweise durch den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag und seine aktuelle Novelle, geschaffen, die es der Exekutive erlauben, auf welchen Wegen und Umwegen auch immer - schließlich darf es eine offene Zensur nicht geben - gegen politisch konträre und oppositionelle Positionen vorzugehen, ist die pluralistische Qualität einer demokratischen Mediengesellschaft insgesamt nicht nur in Frage gestellt, sondern nicht mehr existent.

In § 4 (1) JMStV heißt es unter Punkt 8, um ein weiteres Beispiel zu benennen, in alter wie neuer Fassung, daß Angebote unzulässig sind, wenn sie

8. gegen die Menschenwürde verstoßen, insbesondere durch die Darstellung von Menschen, die sterben oder schweren körperlichen oder seelischen Leiden ausgesetzt sind oder waren, wobei ein tatsächliches Geschehen wiedergegeben wird, ohne dass ein berechtigtes Interesse gerade für diese Form der Darstellung oder Berichterstattung vorliegt; eine Einwilligung ist unbeachtlich [1]

Auch diese Regelung ist höchst problematisch, da die Gefahr, daß der behauptete Zweck, die Würde beispielsweise von Folteropfern vor medialer Zurschaustellung schützen zu wollen, vorgeschützt werden könnte, um eine Berichterstattung über die Folter selbst zu erschweren oder zu verhindern. Die Wege, die die Zensoren beschreiten würden, sind insofern sehr filigran, bedienen sie sich doch der Begrifflichkeiten, Inhalte und Forderungen derer, die den Kampf gegen Folter und Menschenrechtsverletzungen zu ihrer Sache gemacht haben. Wenn nun neben dem behaupteten Schutz der Jugend ausgerechnet der Schutz der Menschenwürde angeführt wird, um Publikationsmöglichkeiten im Internet massiv zu beeinträchtigen und zu beschneiden, ohne daß das Verdikt "Zensur" draufgeschrieben werden müßte, erschwert dies die Mobilisierung öffentlicher Proteste und die Entfachung einer breiten, kontroversen gesellschaftlichen Debatte ungemein, weil Menschenrechtsaktivisten scheinbar mit ihren eigenen Waffen geschlagen werden dadurch, daß faktische Zensurmaßnahmen unter anderem durch den behaupteten Schutz der Menschenwürde jeglicher Kritik enthoben und somit geadelt werden.

Aufschlußreich ist auch § 4 (2) JMStV, in dem weitere Angebote als unzulässig definiert werden. Im direkten Vergleich zu § 4 (1) JMStV fällt auf, daß diese Anwendungsbereiche nicht ganz so schwergewichtig zu sein scheinen wie die des ersten Absatzes. So ist in § 4 (2) JMStV unter Punkt 1 von Angeboten die Rede, die "in sonstiger Weise pornografisch sind", während in § 4 (1) JMStV unter Punkt 10 wie bereits erwähnt besonders widerwärtige und gewaltsame pornographische Darstellungen genannt werden. Unter Punkt 3 befindet sich in § 4 (2) JMStV jedoch eine Formulierung, die der Auslegung in alle Richtungen Tür und Tor öffnet. Hier ist von unzulässigen Angeboten die Rede, die

3. offensichtlich geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit unter Berücksichtigung der besonderen Wirkungsform des Verbreitungsmediums schwer zu gefährden. [1]

Im konkreten Einzelfall mag es schwierig sein, eine schwere Gefährdung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen nachzuweisen. Die Sanktionsandrohungen sind bei § 4 (2) JMStV jedoch besonders hoch, da nach § 23 JMStV alter wie neuer Fassung mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft werden kann, wer nach § 4 (2) Satz 1 Nr. 3 unzulässige Angebote publiziert, ohne von der in § 4 (2) JMStV Satz 2 für das Internet eröffneten Ausnahmeregelung, nämlich sicherzustellen, daß die als unzulässig geltenden Angebote nur Erwachsenen zugänglich gemacht werden, Gebrauch zu machen. Dies wirft netztechnische Schwierigkeiten auf, die den Verdacht hervorrufen, daß hier von den Gesetz- bzw. Vertragstextgebern unüberwindbar hohe Hürden implementiert wurden, um den eigentlichen Zweck, nämlich eine extreme Zensur bzw. Selbstzensur der Netzanbieter zu befördern, voranzutreiben. Zu dieser Thematik gab die FDP-Landtagsfraktion Nordrhein-Westfalens in ihrem Antrag vom 7.12.2010 zu bedenken [3]:

Eine Software, die den Nutzern und Anbietern die Jugendschutzprüfung abnehmen oder den Zugang zu altersbeschränkten Internetseiten regulieren könnte, ist noch nicht einmal entwickelt und kann frühestens Mitte 2011 auf den Markt kommen. Der Vertrag setzt diese Software aber als schon existierend voraus. Bei dem geplanten Inkrafttreten des Vertrags zum 1. Januar 2011 werden die Risiken für alle Inhalteanbieter also noch einmal erhöht, da vertraglich vorausgesetzte Kontrollmechanismen nicht vorhanden sind. Der Regelungsbefehl des Staatsvertrages an den Rechtsanwender läuft so lange leer, wie es die notwendige Software nicht gibt. Eine Rechtsnorm, deren Regelungsbefehl aus tatsächlichen Gründen niemand befolgen kann, ist aber bereits aus diesem Grund verfassungswidrig und mithin nichtig.
(S. 5)

Der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag enthält jedoch nicht nur die Bestimmungen des § 4 (1) und (2), durch die Angebote als unzulässig bewertet und ihre Anbieter mit strafrechtlichen Sanktionen bedroht werden, denen sie im Zweifelsfall nur dadurch entgehen können, daß sie die Inhalte nur für Erwachsene zugänglich halten. In § 5 JMStV sind "Entwicklungsbeeinträchtigende Angebote" geregelt. Wenn zu § 4 JMStV, der bei der nun bevorstehenden Novelle nur geringfügig verändert wurde, schon kritisch anzumerken ist, daß er eine Handhabe für Zensurmaßnahmen liefert, die nicht als solche deklariert, sondern unter den Titeln "Jugendschutz" und "Schutz der Menschenwürde" firmieren, gilt dies für § 5 JMStV umso mehr. Dies ergibt sich schon aus dem Begriff "entwicklungsbeeinträchtigend", der fraglos Anleihen macht in anderen und mit dem Medienrecht nicht einmal locker verbundenen Wissenschaftsdisziplinen wie etwa der Entwicklungspsychologie. Auch medienpädagogische Fragestellungen, die hier offensichtlich bemüht wurden, berühren ein Fachgebiet, das nicht zum journalistischen Handwerk gehört oder der journalistischen Sorgfaltspflicht unterliegt.

Gleichwohl wird den Anbieter welcher Internet-Inhalte auch immer auferlegt und abverlangt, sämtliche Angebote dementsprechend zu prüfen. Zwar sind Angebote, die - von wem, unter welchen Bedingungen und anhand welcher Kriterien und Überprüfungsmaßstäbe auch immer - als "entwicklungsbeeinträchtigend" bewertet und folglich unter § 5 JMStV subsumiert werden, nicht generell gesperrt, ihre Veröffentlichungsmöglichkeiten unterliegen jedoch massiven Einschränkungen. So heißt es im Vertragstext, der am 1. Januar 2011 in Kraft treten soll, in § 5 (1) JMStV-E [2]:

Sofern Anbieter Angebote, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen, verbreiten oder zugänglich machen, haben sie dafür Sorge zu tragen, dass Kinder und Jugendliche der betroffenen Alterstufen sie üblicherweise nicht wahrnehmen. Die Altersstufen sind:
1. ab 6 Jahren,
2. ab 12 Jahren,
3. ab 16 Jahren,
4. ab 18 Jahren.
Die Altersstufe "ab 0 Jahre" kommt für offensichtlich nicht entwicklungsbeeinträchtigende Angebote in Betracht. [...]

Der erste Satz dieses Paragraphen, allerdings ohne den nun angefügten Zusatz "oder ihre Erziehung", steht schon im derzeit noch gültigen Vertrag von 2003. Der Gedanke des Jugendschutzes, eigentlich eine der wichtigsten Aufgaben staatlicher Gewalt, so darunter tatsächlich der spezifische Schutz junger Menschen vor Gefahren und schädlichen Folgewirkungen verstanden wird, wird hier vollkommen kompromittiert und instrumentalisiert für Zwecke, die ohne einen solchen Umweg und die Inanspruchnahme dieser nicht zu hinterfragenden Zielsetzungen wohl kaum hätten realisiert werden können. Daß in den zurückliegenden Jahren von diesen Möglichkeiten seitens der zuständigen Behörden kaum Gebrauch gemacht wurde, könnte allein dem immensen Aufwand geschuldet sein, der nach bisheriger Rechtslage zu leisten gewesen wäre.

Nun werden, sollte die Novelle wie geplant in Kraft treten, die Vorarbeiten und Bereitstellungen zu den den Anbietern und Betreibern drohenden Zensurmaßnahmen diesen zu einem Gutteil selbst zugelastet. Wer nämlich "entwicklungsbeeinträchtigende Angebote" im Netz zugänglich macht, ohne die umfangreichen Bestimmungen des §5 JMStV-E zu berücksichtigen und bei Altersfreigaben u.a. alles richtig zu machen, muß damit rechnen, daß dieser Verstoß nach § 24 (1) oder (2) JMStV-E als Ordnungswidrigkeit bewertet und nach § 24 (3) JMStV mit einer Geldbuße von bis zu 500.000 Euro geahndet wird.

Neu hinzu kommen die ausdifferenzierten sogenannten Altersstufen, wie man sie von Alterfreigaben bei Kinofilmen her kennt. Durch § 5 JMStV werden im Grunde alle Anbieter unter Pauschalverdacht gestellt, da die Formulierungen, sicherlich gezielt und absichtlich, so allgemein und vage gehalten wurden, daß niemand mit Sicherheit sagen kann, daß das von ihm zugänglich gemachte Angebot nicht geeignet sein könnte, die Entwicklung oder Erziehung von Kindern und Jugendlichen zu beeinträchtigen. Da ein Zuwiderhandeln mit ruinösen Folgen bedroht ist - neben hohen Geldbußen bei einer vermeintlichen Ordnungswidrigkeit können unter Umständen und in Verbindung mit weiteren Mediengesetzen sogar komplette Angebote gesperrt werden -, wird jeder Anbieter nach einem der ihm gebotenen Strohhalme greifen bzw. greifen müssen.

So eröffnet der neuverfaßte § 5 JMStV-E dem Anbieter die Möglichkeit, seine Angebote entsprechend der Altersstufen zu kennzeichnen bzw. kennzeichnen zu lassen. Letzteres dürfte sich für Kleinanbieter bereits als existenzgefährdend erweisen, da die dafür in Frage kommenden Einrichtungen der Freiwilligen Selbstkontrolle nach Angaben des Berliner Rechtsanwalts Thomas Schwenke [4] Gebühren in Höhe von mindestens 4.000 Euro pro Jahr erheben. Wer deshalb die Alterklassifizierung selbst vornimmt, läuft nahezu unweigerlich und selbst bei bestem Willen Gefahr, eine Ordnungswidrigkeit mit dem besagten Folgen zu begehen bzw. den Behörden einen Anlaß zu bieten, gegen ihn mit empfindlichen Sanktionsmöglichkeiten vorzugehen. RA Schwenke erläuterte auf die Frage, wie hoch denn die Wahrscheinlichkeit sei, bei der Kennzeichnung Fehler zu begehen [4]:

Der Arbeitskreis gegen Internet-Sperren und Zensur (AK Zensur) hat ein Experiment durchgeführt, bei dem Nutzer Webinhalte einstufen sollten. Deren Einstufungen wurden anschließend mit der Analyse des Medienpädagogen Jürgen Ertelt verglichen. Nach eigenen Angaben lagen 80 Prozent der 12.000 Stimmen falsch.

Nach § 5 (5) JMStV-E kann ein Anbieter der ihm in § 5 (1) JMStV-E auferlegten Pflicht, die Angebote so bereitzuhalten, daß "Kinder oder Jugendliche der betroffenen Altersgruppen sie üblicherweise nicht wahrnehmen", auch dadurch Genüge tun, daß er

1. durch technische oder sonstige Mittel die Wahrnehmung des Angebots durch Kinder und Jugendliche der betroffenen Altersgruppe unmöglich macht oder wesentlich erschwert oder
2. die Zeit, in der die Angebote verbreitet oder zugänglich gemacht werden, so wählt, dass Kinder oder Jugendliche der betroffenen Altersgruppe üblicherweise die Angebote nicht wahrnehmen.

Da die 1. Alternative mangels verfügbarer Software nicht in Anspruch genommen werden kann, bleibt den betroffenen Internet-Medien ein Nachtwächterdasein, so sie nicht das Risiko empfindlicher und existenzbedrohender Abmahnungen, Sperren und Geldbußen riskieren wollen. Zu dieser Schlußfolgerung scheinen auch die Autoren des Staatsvertrags gekommen sein, führen sie doch im Anschluß in § 5 (6) JMStV-E im ersten Satz [2] aus:

Ist eine entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung im Sinne von Absatz 1 auf Kinder oder Jugendliche anzunehmen, erfüllt der Anbieter seine Verpflichtung nach Absatz 1, wenn das Angebot nur zwischen 23 Uhr und 6 Uhr verbreitet oder zugänglich gemacht wird.

Eine Zensur findet wie gesagt nicht statt. Und wenn sie doch stattfindet, wird sie zumindest nicht so genannt. Wer kritische und namentlich politisch oder sozialkritische Inhalte und Meinungsäußerungen im Netz verbreiten möchte, muß damit rechnen, sich in den Fallstricken des (novellierten) Jugendmedienschutz-Staatsvertrages zu verfangen. Wer könnte denn schon definitiv für sich ausschließen, daß die Überwachungs- und Kontrollorgane, die mit der Umsetzung des vermeintlichen Jugendschutzgesetzes im Medienbereich befaßt sind, nicht beispielsweise die Auffassung vertreten, daß eine kritische Haltung gegenüber der Arbeits- und Sozialpolitik der Bundesregierung, Stichwort Hartz IV, nicht die Erziehung von Kindern und Jugendlichen gefährden könnte, weil diese doch lernen müßten, sich administrativen Zwängen und nicht zuletzt auch der von der Bundesregierung im Sozial- und Arbeitsbereich in Anspruch genommenen Sachzwangslogik zu unterwerfen?

Wie sehr das gesamte Machwerk der Kontrolle der Medien und insbesondere des Internets geschuldet ist, deutet auch § 5 (8) JMStV-E an [2]:

Absatz 1 gilt nicht für Nachrichtensendungen, Sendungen zum politischen Zeitgeschehen im Rundfunk und vergleichbare Angebote bei Telemedien, es sei denn, es besteht offensichtlich kein berechtigtes Interesse gerade an dieser Form der Darstellung oder Berichterstattung.

Dieser Absatz darf wohl als repräsentativ für das Demokratie- und Verfassungsverständnis der Autoren und Initiatoren des gesamten Staatsvertrages gelten. Für bestimmte Nachrichtensendungen oder ähnliche Internetanbieter gilt die allen übrigen in § 5 (1) JMStV-E auferlegte Verpflichtung nicht. Sie dürfen demnach "entwicklungsbeeinträchtigende" Angebote ohne weiteres publizieren unter der Voraussetzung, daß ein "berechtigtes Interesse gerade an dieser Form der Darstellung oder Berichterstattung" besteht. Ein berechtigtes Interesse? Wie verträgt sich Recht mit Interesse? Oder, anders ausgedrückt: Das Interesse, sich unter Inanspruchnahme von Art. 5 GG und des dort manifestierten Rechts, "seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten", ist nicht realisierbar, wenn es von einer wie auch immer gearteten administrativen Instanz einer Prüfung unterzogen und nicht vom Grundrechteträger, also dem Bundesbürger, unmittelbar in Anspruch genommen werden kann.

Wer ein "berechtigtes Interesse" vorweisen muß, um frei publizieren zu können - und "frei" heißt hier selbstverständlich unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Grundsätze sowie der geltenden strafrechtlichen Bestimmungen - kann dies schlechterdings tun, ohne sich in seiner inhaltlichen Ausrichtung und Positionierung, und sei es unausgesprochen, den Vorgaben der Prüfinstanz zu unterwerfen. Zwischen Zensur und Selbstzensur eine Trennlinie zu ziehen, ist insofern schwer möglich und in Hinsicht auf den höchst umstrittenen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, dessen Inkrafttreten unmittelbar bevorsteht, so nicht couragierte Landesparlamentarier dem bösen Spuk ein Ende bereiten, in Hinsicht auf dessen demokratiefeindliche Wirkungen ohnehin irrelevant.


Anmerkungen

[1] Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien (Jugendmedienschutz-Staatsvertrag - JMStV)
http://www.artikel5.de/gesetze/jmstv.html

[2] Vierzehnter Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Vierzehnter Rundfunkänderungsstaatsvertrag)
http://www.rlp.de/fileadmin/staatskanzlei/rlp.de/downloads/medien/Vierzehnter_Staatsvertrag_zur_Änderung_rundfunkrechtlicher_Staatsverträge.pdf

[3] Landtag Nordrhein-Westfalen, 15. Wahlperiode, Drucksache 15/857, Antrag der Fraktion der FDP, 07.12.2010: Für einen wirksamen Jugendschutz statt unüberlegter neuer Gesetze - Einschränkungen der Meinungs- und Informationsfreiheit der Bürger stoppen und sinnlose Eingriffe des Jugendmedienschutzstaatsvertrags verhindern
http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD15-857.pdf

[4] Lesepflicht für alle: 17 Fragen zum neuen JMStV, von Thomas Schwenke, 29.11.2010, 2. Seite
http://t3n.de/news/neuer-jmstv-286977/2/http://t3n.de/news/neuer-jmstv-286977/2/

14. Dezember 2010