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KAMINGESPRÄCHE/001: Desmond Fennell, irischer Denker und Schriftsteller (SB)


Interview mit Desmond Fennell in Dublin am 8. Januar 2010



Desmond Fennell - © CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

Desmond Fennell
© CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

In den zurückliegenden fünfzig Jahren hat sich kaum jemand mehr Mühe gegeben, das Niveau des öffentlichen Diskurses in Irland um Kultur, Religion, Politik u. v. m. zu heben, als der 1929 in Belfast geborene Buchautor, Essayist und Kommentator Desmond Fennell. Angesichts des bleiernen Provinzialismus, der fast jede Regung der politischen und medialen Elite Dublins auszeichnet, könnte man jedoch die jahrelangen Bemühungen Fennells für eine einzige Donquichotterie halten.

Zwei Beispiele aus jüngerer Zeit sollten genügen, um zu zeigen, wogegen Fennell unerbittlich ankämpft, nämlich gegen eine bornierte, völlig unreflektierte Unterwürfigkeit der angeblich aufgeklärten Intelligenz Irlands gegenüber jedem Trend aus den angloamerikanischen Metropolen London und New York. Im Herbst 2009 hat sich in Irlands Vorzeigeblatt The Irish Times deren Kulturpapst Fintan O'Toole in seiner Kolumne für die Wochenendbeilage hämisch über die Ära - also bis zum Aufkommen des maßgeblich durch Investitionen amerikanischer Großkonzerne und EU-Subventionen entstandenen Keltischen Tigers - geäußert, als die Iren immer noch dem Traum einer "kulturellen Eigenständigkeit" nachhingen. Wenige Wochen zuvor, als sich im Spätsommer das irische Großbürgertum in "zivilgesellschaftlichen" Gruppierungen formierte, um das vermeintliche Alptraumszenario eines zweiten Neins des irischen Fußvolks zum EU-Reformvertrag zu verhindern, erklärte die Vorzeigefeministin Nell McCafferty bei der Gründung von "Women for Europe" unter dem Jubel ihrer MitstreiterInnen, sie wolle "unter dem Schutz der EU", und nicht "in einem Land, das ausschließlich von der derzeitigen oder irgendeiner irischen Regierung regiert" werde, leben.

Solche Äußerungen dürften sich in den Ohren Fennells, der sich gewissermaßen als geistiger Erbe der Anführer des Osteraufstands von 1916 wie des gälischsprachigen Dichters Pádraig Pearse und des Sozialisten James Connolly, die ihr Leben für ein freies und ungeteiltes Irland, in dem soziale Gerechtigkeit herrscht, ließen, wie der pure Verrat am jahrhundertlangen Kampf der Iren gegen britische Ausbeutung und Fremdherrschaft anhören. Keineswegs ist Fennell jedoch ein Hiberno-Chauvinist. Im Gegenteil ist sein Interesse an anderen Ländern, Sprachen, Kulturen und Ideen stets so umfassend gewesen, daß er im Vergleich zu den Lilliputanern der Dubliner Meinungselite intellektuell den Gulliver verkörpert. Dies zeigte sich besonders deutlich, als er im August 2008 in einem Gastbeitrag für die Irish Times die rückläufigen Geburtenraten in Europa thematisierte. [1] Sofort stempelten die liberalen Wortführer Irlands Fennell als frauenfeindlichen Reaktionär ab, ungeachtet der Tatsache, daß er in dem Artikel nicht viel anders argumentiert hatte als die berühmte australische Feministin Germaine Greer in ihrem 1984 erschienenen Buch "Sex and Destiny - The Politics of Human Fertility".

Fennell, der größtenteils in Dublin aufgewachsen ist, hat bei seinem Abitur Ende der vierziger Jahre den landesweit ersten Platz in Deutsch und Französisch belegt. Daraufhin ging er nicht zu einer Universität, sondern gleich zu zweien. Am University College Dublin (UCD) studierte er Geschichte und Ökonomie und am Trinity College (TCD) Englisch und Spanisch. Nach dem Bachelor machte er am UCD seinen Magister in moderner Geschichte unter der Leitung von Desmond Williams. Von diesem inspiriert, bewarb er sich erfolgreich um ein Stipendium der Universität von Bonn, wo er sich zwei Semester lang der Geschichte der rheinischen Linken in den Revolutionsjahren 1848/49 widmete.

Bereits als Student hatte Fennell erste Artikel in der Irish Times veröffentlicht. Nach dem Abschluß seines Studiums arbeitete er unter anderem als englischsprachiger Nachrichtensprecher für die Deutsche Welle und als erster Vertreter der sich damals im Aufbau befindlichen irischen Luftlinie Aer Lingus in der Bundesrepublik. Zwischenzeitlich schrieb er für die Irish Times die ersten Reportagen aus der kommunistischen Sowjetunion, die jemals in der katholisch geprägten Republik Irland erschienen, Artikel auf Gälisch für die Zeitschrift Comhar und Theaterkritiken für die Times of London. Sein erstes Buch "Mainly in Wonder", das Ergebnis einer einjährigen Asienreise, erschien 1959. Zwei Jahre später folgte "Goodbye to Summer", eine kritische Aufarbeitung eines längeren Aufenthaltes im Sozialstaat Schweden.

In der ersten Hälfte der sechziger Jahre begleitete er, damals teilweise in Freiburg seßhaft, als stellvertretender Herausgeber der englischsprachigen Ausgabe der philosophisch-theologischen Monatszeitschrift Herder Korrespondenz publizistisch wohlwollend das Zweite Vatikanische Konzil. Wieder in Irland, erlebte er in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre hautnah den Ausbruch des Bürgerkrieges in den sechs nordöstlichen Grafschaften zwischen Nationalisten und Unionisten. Schon damals traf er sich mit Weggefährten des allgemein als Haßprediger geltenden, freipresbyterianischen Reverends Ian Paisley, um einen Ausgleich zwischen den miteinander verfeindeten Traditionen Grün und Orange auf der Insel zu finden. Frühzeitig trat Fennell öffentlich für die Umsetzung des als "Éire Nua" ("Neues Irland") bekannten Manifests von Sinn Féin und der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) ein. Dieser Plan sah die Wiedervereinigung Irlands als föderativer Staat auf der Basis der vier historischen Provinzen Ulster, Munster, Leinster und Connaught vor. Die vorgesehene Beschneidung der Vormachtstellung Dublins machte den Plan für die Unionisten attraktiv, war leider aber auch der Grund, warum die Führung der großen Parteien in der Republik, Fianna Fáil und Fine Gael, ihn nicht unterstützten und dadurch zum Scheitern verurteilten. Nichtsdestotrotz haben die Ideen in den zahlreichen Artikeln, die Fennell während der ersten Jahre der nordirischen Troubles für die Irish Times, die Sunday Press und die Sinn-Féin-Zeitung An Phobhlacht - letzteres unter dem Pseudonym "Freeman" - schrieb, zum sogenannten Friedensprozeß und zur Beilegung des Konfliktes 1998 durch das Karfreitagsabkommen beigetragen.

1969 ließ sich Fennell westlich von Galway, an der Atlantikküste in Conamara, einem der letzten Teile Irlands, wo die gälische Sprache noch von der Mehrheit der Bevölkerung gesprochen wird, nieder. Dort engagierte er sich rund zehn Jahre lang für die Rechte der gälischsprechenden Bevölkerung und die Wiederbelebung der ursprünglichen Sprache Irlands (1976 bis 1982 lehrte er an der Universität von Galway Politikwissenschaft). Dem damaligen Einsatz von Fennell und anderen Sprachidealisten hat man es zu verdanken, daß es heute auf Gälisch jeweils einen landesweit empfangbaren, staatlichen Radio- und Fernsehsender - Raidió na Gaeltachta und TG4 - sowie Lokalradiosender in Dublin und Belfast - Raidió Life und Raidió Fáilte - gibt, während sich die sogenannten Gaelscoileanna, Schulen in denen alle Fächer auf Gälisch gelehrt werden, immer größerer Beliebtheit erfreuen.

Nach der Rückkehr in die irisch Hauptstadt 1979, wo er einige Jahre Journalistik am Dublin Institute of Technology (DIT) lehrte, setzte sich Fennell in seinen Zeitungsartikeln, Büchern und Pamphleten mit jenem Kräften kritisch auseinander, die, um Irland zu "modernisieren", dabei waren - und heute noch sind -, sich seines katholischen, nationalen Erbes zu entledigen und dabei billigend in Kauf nehmen, daß dadurch das Land politisch und kulturell endgültig zu einem Anhängsel der Anglosphäre wird. Seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges wendet sich Fennell zunehmend europäischen und internationalen Themen zu. [2] 1990 bereiste er die damals dem Untergang geweihte Deutsche Demokratische Republik, worüber er das Buch "Dreaming of Oranges" schrieb, das von einer erstaunlichen Empathie in die zwiespältige Gemütslage der Ostdeutschen angesichts des bevorstehenden Anschlusses an den kapitalistischen Westen gekennzeichnet ist. Es folgten längere Aufenthalte im Ausland - vier Wochen im weißrussischen Minsk, 15 Monate in Seattle und zehn Jahre, von 1997 bis 2007, in Anguillara Sabazia nahe Rom -, die Fennell nutzte, um seine Ideen zum aktuellen Zustand der Welt weiterzuentwickeln. Sein deprimierendes Fazit lautet, wir leben im Westen in einer menschenunwürdigen Konsumgesellschaft, die er Ameropa nennt und dessen heiligstes Gut Atomwaffen sind. Dazu stellt er fest:

Der heutige Westen basiert nicht auf Auschwitz oder Treblinka, zu denen wir "nein" gesagt haben, sondern auf Hiroshima und Nagasaki, zu denen wir "ja" gesagt haben. [3]

Seit mehr als zwei Jahren wieder in Irland, nimmt Fennell weiterhin aktiv am publizistischen Leben dort teil. [4] In der Diskussion um den EU-Reformvertrag gehörte er zu denjenigen, die 2008 und 2009 bei den beiden Volksbefragungen zu Lissabon für Nein plädierten. Letztes Jahr veröffentlicht er sein neuestes Buch "Ireland After The End Of Western Civilisation". Zu dessen Thesen sowie zu anderen Themen konnte der Schattenblick Anfang Januar mit Desmond Fennell bei ihm zu Hause in Sandymount, an der Südküste der Dubliner Bucht, ein längeres Gespräch führen, aus dem folgendes Interview, das übrigens auf deutsch geführt wurde, lediglich einen kleineren Abschnitt darstellt.

SB: Herr Fennell, dieser Tage redet ganz Irland über die politische Krise in Belfast um Peter Robinson und seine Frau Iris. Wenngleich die finanziellen und sexuellen Eskapaden der Gattin und politischen Weggefährtin des Ersten Ministers Nordirlands und Vorsitzenden der Democratic Unionist Party (DUP) für nicht geringe Schadenfreude beiderseits der inneririschen Grenze sorgen, ereignet sich der Skandal zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Die DUP weigert sich, ihre 2006 beim St.-Andrews-Abkommen gegenüber ihrem Koalitionspartner Sinn Féin gemachte Zusage, als Gegenleistung für deren Anerkennung des Police Service of Northern Ireland (PSNI) die Polizeigewalt für die Provinz von London an Belfast zurückübertragen zu lassen, einzulösen. Angesichts des politischen Stillstands verstärken die IRA-Dissidenten, die den Kompromiss Kurs von Sinn Féin gegenüber den Unionisten ablehnen, ihre Aktivitäten. Sie haben sich als Publizist über lange Jahre intensiv mit der Frage des Verhältnisses zwischen der Republik Irland und Nordirland befaßt und immer wieder brauchbare Vorschläge zur Beilegung der sogenannten Troubles gemacht. Von der momentanen Situation einmal abgesehen, wie schätzen Sie die langfristigen Chancen einer gerechten Lösung des Streits zwischen katholischen Nationalisten und protestantischen Unionisten im Rahmen des Karfreitagsabkommens von 1998 ein?

DF: Ziemlich bald, nachdem Ende der sechziger Jahre der Bürgerkrieg in Nordirland ausgebrochen war, bin ich zu der klaren Einsicht gekommen, daß die Lösung nur in einer Anerkennung der beiden ethnischen Gruppen, Briten und Iren, in Nordirland zu finden war. Ich ziehe die Bezeichnung Briten und Iren der von Protestanten und Katholiken vor, denn die Frage der nationalen Zugehörigkeit ist beiden Gruppen wichtiger als die der Konfession. Deshalb begrüße ich das, was im Karfreitagsabkommen beschlossen worden ist. Es ist mehr oder weniger das Optimum dessen, was die irische Nation in diesem Moment der Geschichte erreichen kann.

Wenn ich von der irischen Nation spreche, meine ich die Bürger der Irischen Republik und die rund 600.000 Menschen in Nordirland, die sich zu der irischen Nation bekennen. Das ist die irische Nation. Es gibt auch rund 900.000 Menschen in Nordirland, die sich für Briten halten, deren Vorfahren aus England und Schottland kamen, und die weiterhin zu Großbritannien gehören wollen. Die Irische Republik bzw. die irische Nation hat nicht die militärische Macht, an diesem Umstand etwas zu ändern. Die meisten Nationalstaaten Europas wie zum Beispiel Frankreich oder Italien sind durch Krieg einschließlich der Niederschlagung oder der Unterdrückung der Minderheiten im Namen der Mehrheit und der Staatsräson entstanden. Deshalb glaube ich nicht, daß die Wiedervereinigung Irlands, was als das offizielle Ziel der IRA und Sinn Féins während des Bürgerkrieges galt, kurzfristig zu erreichen ist, denn die Teilung Irlands läßt sich militärisch nicht überwinden. Selbst wenn die britischen Streitkräfte gänzlich aus Nordirland abzögen, gäbe es dort immer noch fast eine Million Protestanten, die sich als Briten betrachten und zum Vereinigten Königreich bekennen würden. Also war das Karfreitagsabkommen die beste Lösung. Dadurch haben wir erreicht, daß die britische Regierung und die Briten in Nordirland die irische Nation dort als solche anerkannt haben. Das heißt, daß die Angehörigen dieser Nation ihre eigene Kultur pflegen und die irische Trikolore benutzen können et cetera. Das Karfreitagsabkommen beinhaltet die erstmalige Anerkennung der Existenz eines Teils der irischen Nation innerhalb Nordirlands.

SB: Wiewohl die Irische Republik dafür die Teilung der Insel völkerrechtlich anerkennen mußte. Artikel II und III der irischen Verfassung, in denen die Republik Anspruch auf die Insel als ganzes erhob, wurden durch einen Passus ersetzt, der die friedliche Wiedervereinigung der Insel zum Staatsziel erklärt.

DF: Das war ein wichtiger Aspekt des Kompromisses.

SB: Erwachsen durch den Verzicht auf den völkerrechtlichen Anspruch der Republik auf die sechs Grafschaften Nordirlands Nachteile, was das Ziel der Verwirklichung der Wiedervereinigung betrifft, oder wie bewerten Sie diesen Schritt?

DF: Er erfolgte aus pragmatischen Überlegungen. Da es unmöglich war, die ganze Insel zu erobern und der Hoheit Dublins zu unterstellen, mußte die Republik dieses Opfer bringen. Um die Anerkennung der Iren in Nordirland als Iren durch Großbritannien sowie die nordirischen Briten/Orangisten/Unionisten zu erreichen, mußte Dublin im Gegenzug die Teilung der Insel als Fakt anerkennen.

SB: Und sind die Chancen der mittel- bis langfristigen Überwindung der Teilung Irlands durch dieses neue Arrangement gestiegen?

DF: Ich glaube persönlich, daß die Teilung ziemlich unwichtig geworden ist. Wenn man jetzt zum Beispiel von Dublin nach Donegal hochfährt und auf dem Weg dorthin durch die zu Nordirland gehörenden Grafschaften Tyrone und Derry fährt, merkt man nicht einmal, daß man eine Staatsgrenze überquert, denn die Kontrollpunkte und Sicherheitsanlagen sind alle beseitigt worden. Folglich befindet man sich immer unter Iren, immer in der Nation. Denn die Bevölkerung westlich des Flusses Bann ist mehrheitlich und überwiegend nationalistisch und irisch. Es gibt keine Hindernisse mehr für die kulturellen Verbindungen über die Grenze hinweg. Das genügt. Mir genügt es.

SB: Wie sehen Sie die Entwicklung angesichts von Devolution und der Unabhängigkeitsbestrebungen der in Edinburgh regierenden schottischen Nationalisten? Welche Auswirkungen sind von dieser Entwicklung auf das Verhältnis zwischen Irland und Großbritannien bzw. zwischen den Bestandteilen des Vereinigten Königreichs - England, Schottland, Wales und Nordirland - untereinander zu erwarten? Welche Folgen hätte die Unabhängigkeit Schottlands auf das Verhältnis der verschiedenen Nationen auf den britischen und irischen Inseln zueinander?

DF: Jedenfalls würde es nichts daran ändern, daß sich die ungefähr eine Million protestantischen Unionisten in Nordirland irgendwie als Briten fühlen. Es würde natürlich jedoch eine Komplikation mit sich bringen, wenn es kein Großbritannien bzw. kein Vereinigtes Königreich mehr, sondern im Grunde genommen nur noch England und Schottland gäbe. Damit käme Nordirlands Unionisten die Union abhanden, worauf sie sich fragen müßten, womit sie überhaupt vereinigt bleiben wollten. Es wäre logisch, wenn sie sich nach Schottland orientierten, denn damit haben sie historisch gesehen mehr Verbindungen oder Gemeinsamkeiten als mit England. Aber ehrlicherweise muß ich gestehen, daß ich nicht viel darüber nachgedacht habe, denn es interessiert mich auch nicht sonderlich.

SB: In den siebziger Jahren sind Sie für eine Regionalisierung oder eine Stärkung der Regionen in Europa sowie auf der ganzen Welt eingetreten. Besteht, bei einer Verstärkung der Regionalisierung in Europa - ein Phänomen, wie wir es in letzter Zeit besonders in Schottland, im Streit zwischen Flamen und Wallonen in Belgien und im Kampf Kataloniens gegen die spanische Zentralregierung in Madrid erleben - nicht die Gefahr, daß sie zu einer Schwächung der bestehenden Nationalstaaten bei gleichzeitiger Stärkung der Institutionen in Brüssel bzw. der übergeordneten Strukturen der EU führt?

DF: Ja. Das würde Brüssels Übermacht verstärken. Doch wie stark oder schwach Brüssel wird, ist mir nach dem Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages ziemlich unwichtig, denn ich stelle jetzt fest, daß wir in einem autoritären europäischen Staat mit weitgehenden Vollmachten für Brüssel und immer weniger Macht für die Nationalstaaten leben. Es ist eine Art neuer Sowjetunion, wobei ich nicht der erste bin, der diesen Vergleich zieht. Der Lissaboner Vertrag hat unserem Parlament in Dublin die letzten unabhängigen Befugnisse genommen. Jetzt hat jedes Gesetz, das aus Brüssel kommt, Vorrang vor nationalem Gesetz. Daher sehe ich die Situation eines Landes wie Irland innerhalb der Europäischen Union etwa wie die von Litauen zu Sowjetzeiten. Litauen hatte damals ein eigenes Parlament und das Recht auf eine nationale Kultur usw. und konnte für dieses und jenes Lobby-Arbeit in Moskau betreiben. Irland kann das auch in Brüssel. Ich sehe da wenig Unterschiede.

SB: Eine erstaunliche Sache trotzdem in Bezug auf die Debatte zum Lissaboner Vertrag in Irland, jedenfalls bei der ersten Abstimmung, war die massive Ablehnung derjenigen Linie, die von der Elite in Politik und Medien herausgegeben wurde, auf Seiten der einfachen Bevölkerung. Könnte man das vielleicht als letztes Aufbäumen der irischen Nation verstehen oder sind von jenem Aufbegehren für die Zukunft vielleicht positive Entwicklungen im Sinne der Stärkung der kulturellen Eigenständigkeit, Rückbesinnung auf die gälische Sprache oder ähnliches zu erwarten?

DF: Wie ich in meinem jüngsten Buch in Bezug auf das erste Referendum geschrieben habe, war der großartige und erfolgreiche Widerstand gegen Lissabon im Sommer 2008 der letzte Kampf des irischen Nationalismus. Beim zweiten Volksentscheid im Herbst 2009 hat man leider diesen Kampf verloren. Das, was Sie als mögliche Reaktion auf diese Niederlage postulieren, Stärkung einer eigenständigen irischen Kultur und ähnliches, sehe ich nicht, besonders weil wir geographisch und medial von Amerika und Großbritannien umklammert sind. Anstelle einer solchen Stärkung sehe ich das Ende der Möglichkeit der Realisierung dessen, was die Verfechter der irischen Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts angestrebt haben, bin deshalb persönlich enttäuscht und habe das Interesse an der Zukunft meines Landes mehr oder weniger verloren.

SB: Eine Sache, die Sie in den letzten Jahren häufiger und zurecht beklagt haben, ist das provinzielle, fast ausschließlich auf Entwicklungen in Großbritannien und den USA ausgerichtete Denken in Irland. Momentan sind die obersten Plätze der Bestsellerliste für Sachbücher in Irland von Schriften belegt, die sich mit der einheimischen Wirtschaftskrise befassen und damit, wie es ab 2003 zur Immobilienblase und 2008/09 zu deren Platzen kommen konnte. Könnte man das Interesse an solchen Büchern als Anzeichen oder Hoffnungsschimmer dafür deuten, daß mehr Leute als früher an einer sachbezogenen Diskussion über die Richtung, die das Land soziopolitisch nehmen soll, interessiert sind und daß der Markt, was Ideen betrifft, größer geworden ist, wenngleich viele derjenigen, die in diesem Bereich veröffentlichen - Mark Coleman, David McWilliams und andere - eine etwas neoliberale Linie vertreten? Deutet der Erfolg dieser politisch-ökonomischen Sachbücher auf verbesserte Chancen einer größeren, differenzierteren gesellschaftlichen Debatte verglichen mit der Situation, wie Sie sie in der Vergangenheit erlebt haben, hin?

DF: Nein. Ich habe keine Hoffnung in dieser Hinsicht, denn die Abwesenheit eigenständigen Denkens in Irland auf anderen Gebieten außer dem wirtschaftlichen ist zu vollständig. Ich erwarte wenig Positives für mein Land.

SB: Inwieweit könnte man die kulturelle und wirtschaftliche Abhängigkeit Irlands gegenüber Großbritannien und Amerika mit der der EU gegenüber den USA vergleichen? Sie haben in ihren jüngsten Schriften von Europa als Schatten, als Schein im Gegensatz zu etwas wirklich Existierendem gesprochen. Gibt es eine eigenständige EU bzw. ein eigenständiges Europa oder ist es nur als Element eines größeren transatlantischen Projektes zu begreifen?

DF: Ich halte das, was man jetzt als Europa bezeichnet, für die Leiche Europas. Europa ist für mich tot. Denn was war Europa? Ähnlich dem antiken Griechenland war das Abendland eine Gruppe von Staaten, die eine gemeinsame Kultur hatten - im antiken Griechenland war es die Kultur und Religion von Delphi und Olymp. Diese Staaten konkurrierten und kämpften miteinander, aber formten zusammen eine Zivilisation, die sie verband. So war Europa. Europa ist das nicht mehr. Es ist eine Pluralität der Macht, keine unabhängige Nationen, die miteinander konkurrieren - das soll man nicht; alle sollen zusammenarbeiten. Heute hat das Wort Europa für mich lediglich eine geographische Bedeutung. Das eigentliche Europa gibt es nicht mehr. Europa war mit allen Vorteilen und Nachteilen eine große Zivilisation, aber diese Zivilisation war ihrer Natur nach pluralistisch. Sie bestand aus einer Anzahl von Mächten, und aus der Konkurrenz miteinander oder auch in den Kriegen untereinander, entsprang die schöpferische Macht Europas. Die schöpferische Macht ist in Europa am Ende. Jetzt ist es eine Leiche mit Brüssel als Bestattungsunternehmer.

SB: Aber in welchem geschichtlichen Moment ist für Sie der Tod Europas eingetreten?

DF: Der Zweite Weltkrieg war der Selbstmord Europas. Jetzt besteht ein Großteil der Kultur Europas darin, auf den Zweiten Weltkrieg zurückzublicken. Der Zweite Weltkrieg ist das einzige große Geschehen, dessen alle Europäer gemeinsam gedenken. In den Zeitungen und im Fernsehen wird man mit Gedenkveranstaltungen zum Zweiten Weltkrieg regelrecht bombardiert. Gedenken an die Gefallenen und so weiter. Das ist keine schöpferische Leistung und war es nie. Eine schöpferische Zivilisation richtet ihr Hauptaugenmerk stets auf Gegenwart und Zukunft, nicht auf die Vergangenheit. Diese Obsession mit dem Vergangenen ist morbide.

Ganz anders stehen die USA da. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat man dort große Dinge erlebt - den Koreakrieg, den Vietnamkrieg, den Golfkrieg - hauptsächlich Kriege, aber immerhin wurde Geschichte geschrieben. Amerika ist lebendig. Amerika ist eine schöpferische Macht in der Welt und führt, muß man eingestehen, innerhalb des englischsprachigen Raums intellektuell. Alle interessanten Bücher über den Stand der Werte, den Stand des Westens kommen aus Amerika. Was kommt jetzt aus Frankreich? Was kommt aus Deutschland, das im Denken der Welt bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein führend war und jetzt nichts zu sagen hat?

Wir merken diesen Tod, von dem ich spreche, in der Unfähigkeit Europas, Initiative in der Weltpolitik zu ergreifen. Was hat Europa in den letzten Jahrzehnten zur Lösung des Dauerkonflikts zwischen Israelis und Palästinensern beigetragen? Beim Weltklimagipfel im Dezember in Kopenhagen konnte man erleben, daß die EU in den entscheidenden Verhandlungen überhaupt nicht zählte. Der Mangel der EU an politischer Initiative in der Welt zeigt, wie tot Europa ist. Er zeigt, daß die EU nicht mehr das alte Europa ist. In früheren Zeiten hätte bei solchen internationalen Problemen ein einziges europäisches Land wie England, Frankreich oder Österreich-Ungarn interveniert und eine Lösung herbeigeführt. Diese einzelnen Länder waren, jedes für sich, stärker und lebendiger in der Weltpolitik als heute die ganze Europäische Union.

SB: In Ihrem jüngsten Buch sprechen Sie unter Verweis auf die von Ihnen postulierte Zweite Amerikanische Revolution unter Franklin D. Roosevelt, die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland und die Oktoberrevolution der Kommunisten in Rußland von einem Quantensprung in der westlichen Zivilisation. Sie vertreten die These, daß wir im Westen seit einigen Jahrzehnten sozusagen in einer heidnischen Konsumgesellschaft leben. Sie führen mehrere Beispiele an, an denen Sie das festmachen. Sie sagen unter anderem, daß man früher im Westen keine Zivilisten massakrierte, was man jedoch mit Hiroshima und Nagasaki gutgeheißen hat.

DF: Man hat natürlich Massaker verübt, aber nicht gutgeheißen. Das war der Unterschied. Hiroshima und Nagasaki hat man gutgeheißen.

SB: Aber die christlichen, westlichen Kreuzritter, Konquistadoren und Imperialkolonialisten haben in den Jahrhunderten vor Hiroshima in Afrika, Asien sowie Nord- und Südamerika Abermillionen von Menschen umgebracht, ganze Völkerschaften ausgerottet und sich auch nicht dafür entschuldigt.

DF: Das stimmt, aber gleichzeitig hat man nicht einfach gesagt, daß es in Ordnung war. Im Fall von Hiroshima dagegen hat der damals amtierende Präsident der USA, Harry Truman, ganz eindeutig reklamiert, daß der Einsatz der Atombombe gegen zwei japanische Städte moralisch legitim war, und hat auch noch Gründe dafür angeführt.

SB: Also daran würden Sie den qualitativen Unterschied festmachen, daß man im Westen den Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki einschließlich der sofortigen Auslöschung des Lebens von mehreren hunderttausend Menschen gutgeheißen hat?

DF: Nun, meine Argumentation gründet sich nicht ausschließlich auf Hiroshima und Nagasaki, denn wie ich in diesem Aufsatz über die Zweite Amerikanische Revolution geschrieben habe, ist es im zwanzigsten Jahrhundert, als sich Europa allmählich dem Tod näherte, zu drei Ausbrüchen aus der europäischen Zivilisation gekommen. Mit Zivilisation meine ich - und das erläutere ich in meinen letzten Büchern - einen Komplex von Regeln, über die Einigkeit herrscht, daß man nach ihnen leben sollte. Herrscher und die Beherrschten sind sich darüber einig, daß man nach einer gewissen Struktur von Regeln lebt - Vorschriften, die mit dem zwischenmenschlichen Leben, mit dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen, Himmel und Erde, Jungen und Alten zu tun haben und die Politik, Tod, Mord, Arbeit und vieles mehr regeln. Jeder großen Zivilisation liegt ein Regelkomplex zugrunde. Und derjenige Europas war ganz klar umrissen und hat mehr oder weniger tausend Jahre Bestand gehabt.

Im zwanzigsten Jahrhundert ist man in drei Fällen in Europa und Nordamerika aus diesem Komplex ausgebrochen. Als erstes geschah dies mit dem Sieg der Oktoberrevolution 1917 über das zaristische Rußland. Bei der Gründung der Sowjetunion haben die Bolschewiken die früheren Regeln des Zarenreichs für furchtbar und ungerecht erklärt und an deren Stelle neue Regeln des Kommunismus verkündet. Man hat versucht nach diesen Regeln zu leben, ist jedoch daran gescheitert. Man ist deshalb daran gescheitert, weil der Regelkomplex der Sowjetunion keinen Sinn hatte, sinnlos war. Eine Zivilisation, die einen Komplex von Regeln hat, die für die Menschen Sinn machen, besteht deshalb eine lange Zeit. Die großen Zivilisationen der Geschichte haben tausend oder mehrere tausend Jahre überdauert. Und warum? Weil ihre Ordnung, das heißt ihr Regelkomplex, für die Leute, die ihm unterworfen waren, einen Sinn ergab.

Nach wenig mehr als einem halben Jahrhundert sind diese neuen Regeln, nach denen man nicht nur in der Sowjetunion, sondern in ganz Osteuropa zu leben versucht hat, zusammengebrochen, denn sie machten keinen Sinn. Der zweite Ansatz war der des Nationalsozialismus ab 1933 in Deutschland. Dort haben Adolf Hitler und die Nazis versucht neue Regeln für das Zusammenleben der Menschen zu schaffen. Sie hatten zwar nur zwölf Jahre, um diese umfassend auszuformulieren, aber schon in der Zeit hat man klar erkannt, daß das neue Regeln waren. Bevor sich das weiterentwickeln konnte, ist es militärisch niedergeschlagen worden. Zum dritten Ansatz, den ich die Zweite Amerikanische Revolution nenne, kam es 1933 in den USA mit dem Amtsantritt von FDR. Es handelte sich um eine linksliberale Revolution, die mit einiger Verzögerung in den sechziger Jahren unter Lyndon B. Johnson zur vollen Blüte gelangte und die diese ganzen neuen Regeln des Zusammenlebens mit sich brachte, die wir Political Correctness (PC) nennen und die auch noch in Westeuropa als Gegenkonzept zum kommunistischen System des Ostblocks Verbreitung fanden.

Wenn man einerseits sagt, hunderttausend Leute mit einem Atombombenabwurf wie in Hiroshima zu massakrieren, das ist völlig in Ordnung, sich andererseits für die Abschaffung der Rassengesetze, für die Gleichberechtigung der Frauen, für ein Ende des Verbots der Homosexualität, halt für die ganzen Regeln und Moralvorstellungen, die das jetzige PC-System des Westens ausmachen, einsetzt, ergibt das keinen Sinn. Deshalb sage ich in meinem neuen Buch voraus, daß dieses System am Ende zusammenbrechen wird. Ich sage nicht, daß diese Regeln ohne Wert sind, wenn man jede von ihnen einzeln nimmt, aber die Struktur als ganzes ergibt keinen Sinn.

SB: Woran machen Sie das fest, daß dieses System keinen Sinn macht? Weil es keine höhere Instanz als den Menschen postuliert? Weil es keine transzendentale Macht voraussetzt, die das ganze Universum in Gang hält und uns nach dem Tod zu sich nimmt? Das linksliberale Moralsystem, das sie kritisieren, beruht zum Teil auf humanistischen Ansätzen, deren Grundgedanke lautet, andere Menschen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Warum sollte das keinen Sinn ergeben? Worin besteht die von Ihnen ausgemachte Sinnlosigkeit des Systems? Vielleicht darin, daß man sich auf keinen Gott beruft, wie es die Christen, Juden und Moslems tun?

DF: Man braucht nur einige dieser modernen Regeln nebeneinander zu halten, um sofort zu merken, daß sie keinen Sinn ergeben. Man soll zum Beispiel aus der Frau kein Sexualobjekt machen, gleichzeitig soll die Pornographie, welche die Frauen zum Teil massiv erniedrigt und ihre Würde mit Füßen tritt, für jeden Erwachsenen frei erhältlich sein. Man soll Meinungsfreiheit genießen, darf jedoch nicht - in einigen EU- Staaten sogar unter Androhung von Strafe - Zweifel an der offiziellen Version des Holocausts öffentlich äußern. Man soll sich bei Kritik an der Atommacht Israel um Mäßigung bemühen, darf gleichzeitig Ländern wie dem Irak und dem Iran aufgrund fadenscheiniger Verdachtsmomente den illegalen Besitz von Massenvernichtungswaffen unterstellen. Das ist doch alles Unsinn. Der Regelkomplex als ganzes weist schwerwiegende Widersprüche auf.

SB: Aber in einem ihrer Aufsätze über den frühen Sozialismus im neunzehnten Jahrhundert haben Sie William Thompson zitiert, der die damals herrschende Moral als eine einzige Heuchelei bezeichnete. Also scheint auch jenes christliche Werte- und Moralsystem, das zumindest bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika geherrscht hat, aus jeder Menge Widersprüche bestanden zu haben, und hat trotzdem mehr als eintausend Jahre überdauert.

DF: Aber Thompson und solche Kritiker haben von dem Widerspruch zwischen der Theorie und der Praxis, nicht von den Widersprüchen innerhalb des Moralsystems als ganzes gesprochen. Das alte, christlich geprägte System war in sich logisch schlüssig und deshalb intellektuell befriedigend. Ich meine, daß gerade die Sinnlosigkeit des heutigen westlichen Regelsystems großes Leid unter den Menschen verursacht. Warum sonst haben wir diesen Drogenkonsum in einem noch niemals dagewesenen Ausmaß? Illegale Rauschmittel werden in riesigen Mengen in den Westen geschmuggelt bzw. dort hergestellt, um dieses seelische Leiden der Menschen zu lindern.

SB: Nun ja, es gibt auch geschichtliche Beschreibungen der massenweisen Trunksucht und der Sauferei in den großen Städten Englands während der sogenannten Gin Craze zu Anfang der industriellen Revolution.

DF: Das war vorübergehend. Es gibt immer Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche, wo die Sinnlosigkeit für einige Zeit um sich greift. Solche Beispiele von früher sind jedoch nicht mit der Situation im Westen zu vergleichen, wie wir sie praktisch seit den sechziger Jahren erleben. In Irland hat es niemals so viele Selbstmorde besonders unter den jungen Leuten gegeben. Warum begeht man Selbstmord? Warum dröhnt man sich mit Drogen zu? Meines Erachtens, weil man das Leben als sinnlos empfindet.

SB: Doch gerade das Beispiel mit der Selbstmordrate in Irland ist nicht unproblematisch. Früher, als in der Irischen Republik die Regeln der katholischen Kirche strenger gehandhabt wurden, durfte kein Selbstmord als solcher anerkannt werden, weil ansonsten der Verstorbene nicht in geweihtem Boden beerdigt werden durfte, was für die Angehörigen eine Schande gewesen wäre. Deswegen wurden die allermeisten Selbstmorde zu Unglücken oder Tod durch natürliche Umstände umdeklariert. Das wußten auch alle, Kleriker und Laien zugleich. Folglich ist es schwierig einen angemessenen Vergleich zwischen heute und damals zu ziehen.

DF: Ihr Einwand ist berechtigt, denn es war tatsächlich teilweise so. Nichtsdestotrotz schlagen in letzter Zeit in Irland angesehene Mediziner, Psychiater und Soziologen, welche die Lage kennen und die Statistiken untersuchen, wegen des ungeheuren Anstiegs der Selbstmordrate in den letzten 40 Jahren geradezu Alarm. Ein anderes Indiz für die Sinnlosigkeit des derzeitigen Regelsystems besteht in der rückläufigen Geburtenrate. Eine bekannte Reaktion auf einen sinnlosen Regelkomplex ist, daß die Bevölkerung aufhört, sich zu reproduzieren. Das hat man unter anderem bei Stämmen in Nord- und Südamerika beobachtet, deren traditionelle Lebensweise durch das Eindringen der Europäer verunmöglicht wurde. Die Indianer haben das Interesse am Leben verloren und aufgehört, sich zu reproduzieren. Die weiße Bevölkerung im Westen ist bereits von dieser Entwicklung ergriffen. Statistisch gesehen muß jede Frau 2,1 Kinder auf die Welt bringen, damit eine Bevölkerung ihre bisherige Größe behält. In keinem europäischen Land wird dieses Ziel mehr erreicht. In jedem Land Westeuropas geht die Bevölkerungszahl zurück. Deutschland ist für diese Entwicklung geradezu ein Paradebeispiel. In Italien sieht es noch schlimmer aus. Auf der anderen Seite des Atlantiks rechnet man damit, daß in den USA die weiße Bevölkerung bereits zur Mitte des 21. Jahrhunderts zur Minderheit wird.

SB: Aber warum soll das ein Problem sein? In den sogenannten Entwicklungsländern leben Milliarden von Menschen in größter Armut und setzen deshalb um so mehr Kinder in die Welt.

DF: Weil sie Sinn sehen im Leben.

SB: Oder weil sie nichts anderes haben? Anders ausgedrückt, der Sinn des Lebens kann doch nicht in der Reproduktion der Spezies bestehen, oder?

DF: Das ist der Hauptsinn des Lebens.

SB: Die Reproduktion?

DF: Ja.

SB: Dann ist der Mensch auch nur eine biologische Maschine.

DF: Grundsätzlich ja. In der Biologie sieht man, daß der überwiegende Trieb bei jeder Spezies und bei jeder Gruppe immer das Überleben oder der Erhalt der Art ist. Das ist der Imperativ Nummer eins, sei es unter Insekten oder Säugetieren. Das Gleiche gilt bei den Menschen. Das hat mit Bewußtsein nichts zu tun, sondern liegt tief in unseren Instinkten verwurzelt.

SB: Aber die christliche, europäische Zivilisation, von der Sie gesprochen haben...

DF: Ich spreche nicht von der christlichen, sondern von der europäischen Zivilisation, die sich beim Christentum bedient hat, um ihre Regeln zu erschaffen. Das möchte ich einmal festhalten. Eine Regel der europäischen Zivilisation zum Beispiel, die nichts mit dem Christentum zu tun hatte, war, daß jeder gebildete Mensch Latein sprechen oder zumindest verstehen sollte. Das ist nicht mehr der Fall. Es gab halt Regeln, die Ausdruck der Zivilisation waren und nicht zwingend etwas mit dem Christentum zu tun hatten. Daher ist es richtig zu sagen, daß die Regeln der europäischen Zivilisation sehr stark vom Christentum beeinflußt bzw. geprägt worden sind.

SB: Ist es aber nicht so, daß die Botschaft oder die Lehre von Jesus von Nazareth, auf der die ganze christliche Religion beruht, die Menschen offen dazu aufruft, mehr als nur biologische Maschinen zu sein?

DF: Ich stimme der These von der biologischen Maschine nur bedingt zu. Grundsätzlich sind wir zwar Tiere, gleichwohl gibt es aber beim Menschen auch einen Überbau über dem Tiersein. Nichtsdestotrotz können wir nicht dieses tierische Fundament unseren Daseins einfach bestreiten oder ihm entfliehen.

Man kann seine Zweifel haben, ob ich mit meiner Theorie, wonach das derzeit im Westen herrschende linksliberale Moralsystem keinen Sinn hat, richtig liege. Gleichwohl muß man sich meines Erachtens zwei Fragen stellen. Erstens, muß eine Bevölkerung, um ihr Überleben mittel-bis langfristig zu sichern, ein Regelsystem haben, das Sinn macht? Ich denke ja. Wenn man dem zustimmt, folgt die zweite Frage, nämlich ob das jetzige Regelsystem des Westens ähnlich dem früheren marxistischen Regelsystem Osteuropas sinnlos ist und deshalb in absehbarer Zeit einen Zusammenbruch erleiden wird. Oder können Sie sich vorstellen, daß das jetzige Regelsystem des Westens tausend Jahre überdauern wird?

SB: Ich weiß es nicht.

DF: Oder selbst hundert Jahre?

SB: Ich denke, wir stimmen überein, daß das momentane System in erster Linie auf materieller Vergütung und Befriedigung basiert und daß es, sobald diese versiegt, auf allergrößte Probleme stoßen wird bzw. dies bereits jetzt angesichts der zunehmenden Ressourcenverknappung tut.

DF: In den letzten vierzig, fünfzig Jahren haben die Menschen im Westens dieses System mehr oder weniger angenommen, weil man sie mit diesen materiellen Verbesserungen gelockt hat. Sie haben die Menschen dazu gebracht, die Sinnlosigkeit des Systems an sich zu erdulden. Und wir werden mächtiger. Das ist unbestreitbar. Man braucht sich nur die laufenden Fortschritte in der Technologie vor Augen zu führen, die uns zu Hunderten von Dingen befähigt, die wir früher ohne Computer, Mobiltelefon usw. nicht konnten. Doch wenn diese materielle Befriedung der Menschen allmählich aufhört, wird die fundamentale Sinnlosigkeit des Systems ein soziales Chaos nach sich ziehen.

SB: Könnte der Versuch, jenem sozialen Chaos, das sich bereits in Ansätzen abzeichnet, zuvorzukommen, der Grund sein, warum die Vorstellung, daß es ein Übel in der Welt gibt, das unbedingt bekämpft werden muß, sei es der "Terrorismus" oder Osama Bin Laden oder die chinesische KP oder was auch immer, an gesellschaftlicher Bedeutung gewinnt?

DF: Durchaus. Möglicherweise sind das Vorwände, um die Menschen in den westlichen Industrienationen auf eine bevorstehende, drastische Verschlechterung der sozialen Bedingungen vorzubereiten. Dazu eignen sich die ganzen Disziplinierungsmaßnahmen, die man im öffentlichen Raum - auf Bahnhöfen, Flughäfen usw. - im Namen der "Sicherheit" über sich ergehen lassen muß, perfekt. Ich meine, wodurch unterscheidet sich das jetzige System im Westen von demjenigen im Osten, das wir früher als totalitär kritisierten? Der einzige Unterschied ist, daß wir ein Ritual pflegen, das wir Demokratie nennen. Aber das demokratische Ritual ändert nichts an der Tatsache, daß nur bestimmte Gruppen dieses System beherrschen.

SB: Als jemand, der sich in der Vergangenheit eingehend mit der katholischen Kirche befaßt hat und auf dem Gebiet der christlichen Theologie ziemlich bewandert ist ...

DF: Ich bin gläubiger Katholik, was in Irland nicht ungewöhnlich ist, denn hier ist man vom Katholizismus umgeben.

SB: ... was sagen Sie zu der berühmten Rede, die der jetzige Papst Benedikt XVI. 2006 in Regensburg hielt und in der er einen Gegensatz zwischen dem christlichen Glauben, der auf Vernunft basiere, und dem islamischen Glauben, der angeblich der Unvernunft verhaftet wäre, postulierte?

DF: Das war ein Irrtum.

SB: Man könnte die Rede als plumpen Versuch des Oberhaupts der größten christlichen Gemeinde deuten, sich mit den veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen zu arrangieren, indem er sich in den Dienst des westlichen "Antiterrorkrieges" gegen die bösen Moslems, auch Radikalislamisten genannt, stellt. Würden Sie dem zustimmen, denn im Grunde genommen hat er mit seiner Regensburger Rede den Islam diffamiert, oder?

DF: Ja, das hat er getan. Es war unglaublich auch deshalb, weil er ein großer Intellektueller ist und es eigentlich hätte besser wissen müssen, was er damit sagte. Ich glaube, er hat später anerkannt, daß dieses Zitieren aus einem Gespräch zwischen dem byzantinischen Kaiser und einem persischen Gesandten aus dem 14. Jahrhundert ein Fehler war. Auf der anderen Seite sollte man nicht verkennen, daß die Vertreter des Vatikans und des Islams in den letzten Jahren auf vielen internationalen Kongressen usw., wo die großen Religionen vertreten waren, oft für die Aufrechterhaltung gewisser moralischer Prinzipien zusammengearbeitet haben.

SB: Im positiven Sinne?

DF: Ich denke schon. In ihrer Ablehnung der Abtreibung, der Ausbeutung der Sexualität und der Herabsetzung der Bedeutung der Ehe fanden sie sich als Alliierte. Auf nicht wenigen gesellschaftlichen Feldern stimmen ihre moralisch-ethischen Vorstellungen überein.

SB: Aber der Islam und das Christentum, hätten sie eine Chance, selbst wenn sie gemeinsam agierten, gegenüber dieser linksliberalen oder neoliberalen Agenda zu bestehen?

DF: Nun, global gesehen, wird diese linksliberale, gottlose Agenda des Westens eigentlich nur von einer Elite in einem ganz kleinen Teil der Welt verfochten. Der allergrößte Teil der Weltbevölkerung ist gottgläubig und verhält sich in moralischen Dingen ziemlich traditionell. Das sollte man niemals vergessen. Schauen Sie Asien und Afrika an. Auch in China besinnt man sich mit jedem Tag immer mehr auf die alten Traditionen. Weil der Marxismus seine Anziehungskraft verloren hat, ist in der Volksrepublik seit einigen Jahren eine große Rückbesinnung auf den Konfuzianismus zu beobachten. Die Leute, die heute China führen, sind keine Marxisten mehr. Die Leute um Mao haben ab 1949 ein modernes, westlich geprägtes System geschaffen. Ihre Nachfolger stellten jedoch später fest, daß sie den Konfuzianismus als Regelkomplex, als sinngebendes System, nötig hatten. Unser westliches System ist nur für einen kleinen Teil der Welt wichtig. Schauen Sie Südamerika an. Was hat Linksliberalismus mit der Lebenslage des Großteils der Mittel- und Südamerikaner zu tun? Nichts. Vor diesem Hintergrund bin ich schon der Überzeugung, daß unser westliches System ein Auslaufmodell ist.

SB: Wo Sie Lateinamerika erwähnen, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat man sich dort viel an sozialer Verbesserung von der Befreiungstheologie versprochen. Nach Kritik seitens des letzten Papstes Johannes Paulus II. schien diese Bewegung an Zugkraft zu verlieren. Könnte es aber sein, daß sie heute noch Nachwirkungen in dem, was Hugo Chávez in Venezuela, Daniel Ortega in Nicaragua und Evo Morales in Bolivien versuchen, zeitigt?

DF: Ich denke schon, wiewohl auf säkulare Weise.

SB: Also hat diese Entwicklung in Lateinamerika wenig mit einer Erneuerung des Christentums zu tun?

DF: Wir wissen es nicht. Eigentlich haben wir keine Ahnung, was in dieser Region religiös geschieht. Da sind Voodoo und verschiedene Arten vom Christentum im Spiel. Gleichwohl läge man, denke ich, in der Annahme sicherlich nicht falsch, daß die meisten Menschen dort an irgendeine Transzendenz glauben; ob nun eine christliche oder eine animistische, ist eine andere Frage. Offiziell hat die Befreiungstheologie an Einfluß verloren, dennoch gehört sie zum Grunddenken zahlreicher Geistlicher in Lateinamerika, und zwar deshalb, weil sie einen Sinn ergibt. Als Antwort auf die ungerechten Sozialverhältnisse dort macht sie Sinn, und ohne daß sie groß verkündet werden muß, wirkt sie auch. Häufig ist es so, daß man nicht mehr groß über die Dinge reden muß, sobald man sie begriffen hat.

SB: Desmond Fennell, vielen Dank für dieses Interview.


Irland zum kalten Jahreswechsel 2009/10 - © 2010 by Schattenblick

Irland zum kalten Jahreswechsel 2009/10
Der Blick von Howth Head auf die Dubliner Bucht
Foto: © 2010 by Schattenblick

Fußnoten:
1. Desmond Fennell, We will have to change societal rules devised in
the 1960s and 1970s, if we are to halt the decline in the western
population, Irish Times, 21. August 2008

2. Desmond Fennell, How the Great Story could be better told..., History Ireland, Band 13, Ausgabe 5, September/Oktober 2005 (abrufbar unter www.historyireland.com)

3. Desmond Fennell, The Post-Modern Condition: Between Chaos and Zivilisation, Minerva Press, London 2009, S. 79

4. Desmond Fennell, How we discourage Irish thought - We excel in fiction but repress philosophy and ethics, Village Magazine, Ausgabe 8, Dezember 2009/Januar 2010, S. 78


26. Januar 2010


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