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WIENER GESPRÄCHE/07: Begegnungen am roten Rand Wiens - Teil 7 (SB)


Interview mit Willi Langthaler am 9. Juni in Wien


Willi Langthaler ist Aktivist der Antiimperialistischen Koordination (AIK) und hat sich auf zahlreichen Reisen in den Nahen Osten ein eigenes Bild von den dort herrschenden Konflikten und Kriegen gemacht. Er ist Mitglied der Redaktion der "Zeitschrift für den antiimperialistischen Widerstand - Intifada" und hat zusammen mit Werner Pirker das Buch "Ami go home - Zwölf gute Gründe für einen Antiamerikanismus" verfaßt. Die Schattenblick-Mitarbeiter hatten die Gelegenheit, mit ihm im Österreichisch-Arabischen Kulturzentrum (OKAZ) in Wien ein Gespräch zu führen.

Schattenblick: Wie ist das Selbstverständnis der Antiimperialistischen Koordination (AIK)? Versteht ihr euch als Partei, als Organisation, als außerparlamentarische Bewegung?

Willi Langthaler: Wir sind eine konsolidierte Bewegung mit einer festen Position. Aber wir wollten uns eigentlich nicht als Partei konstituieren, sondern als eine offene Bewegung, die verschiedenste antiimperialistische Positionen mit einschließen kann. Daß es dann durch die Härte der Auseinandersetzung zuerst zu Jugoslawien, dann zum politischen Islam, Afghanistan, Irak, Palästina, Einstaatenlösung wider Willen zu einer Art Parteiformierung gekommen ist, ist eine andere Frage. Der Standpunkt ist so bekämpft worden, und wir haben uns so verteidigt, daß die Reihen ziemlich geschlossen wurden. Von der Zusammensetzung der Mitglieder und Aktivisten her, ob sie aus trotzkistischen, maoistischen oder anderen kommunistischen Strömungen stammen, sind wir ziemlich wild durcheinandergemischt.

SB: Seid ihr eine genuin österreichische Gruppe, oder habt ihr auch Mitglieder in Deutschland?

WL: Wir haben einige gute Freunde, so die Leute von Initiativ e. V. - Verein für Demokratie und Kultur von unten in Duisburg, mit denen wir schon seit vielen vielen Jahren sehr eng zusammenarbeiten. Aber wir sind schon genuin österreichisch. Wir sind hier entstanden. Wir haben schon immer wieder Kontakte, aber nicht so wie Linksruck oder ähnliche Gruppen, die praktisch politische Importprodukte sind. Wir haben auch sehr enge Beziehungen zu der italienischen Bewegung, mit der wir das antiimperialistische Lager gemeinsam veranstalten. Die haben uns schon sehr viele Impulse gegeben, Impulse, die aus der österreichischen Linken nicht zu haben waren, weil es hier sicherlich auch eine gewisse intellektuelle Unterentwicklung gibt.

SB: Ich habe in eurer Satzung gelesen, daß eure Untergruppierungen autonom agieren. Betrifft das auch die inhaltliche Ausrichtung, oder verfolgt ihr eine geschlossene Linie?

WL: Wir verfolgen schon eine geschlossene Linie. Wir sind überhaupt nicht klassisch und nicht orthodox. Das heißt, man kann viele Dinge ausprobieren, und wir sind für jedes Experiment offen, aber, wie ich schon vorher gesagt habe, der Konflikt, den wir die letzten 15 Jahre durchgemacht haben, hat uns politisch schon sehr stark zentralisiert. Allein die Auseinandersetzung zu Jugoslawien und Serbien, das ist jetzt mehr als zehn Jahre her, aber das war so heftig, daß alle, die diese Position nicht unterstützt haben, verschwunden sind.

SB: Es gab in Österreich keine stärkere Unterstützung der Bundesrepublik Jugoslawien?

WL: Da gab es überhaupt keine, wir waren wirklich völlig allein auf breiter Front. Wir haben diese Demonstrationen gemeinsam mit Serben organisiert. Wir haben dann auch die Jugoslawisch-Österreichische Solidaritätsbewegung gegründet. Da die KPÖ zum damaligen Zeitpunkt noch nicht vollkommen transformiert war, hat ein Teil der KPÖ noch mitgearbeitet, aber auf einer viel moderateren Grundlage. Wir sind keine direkten Milosevic-Unterstützer gewesen, aber im Konflikt waren wir eindeutig auf seiner Seite. Im ganzen Werdegang gibt es sicher Punkte, die zu kritisieren sind. Aber insgesamt haben wir das nie mitgemacht, daß er ein großserbischer Nationalist ist. Alle anderen, die dabei waren, haben sich viel stärker von Milosevic abgesetzt, als wir das gemacht haben.

SB: Siehst du eine Gemeinsamkeit zwischen Deutschland und Österreich, was das antiserbische Ressentiment betrifft?

WL: Ja, sicher. Es gibt eine sehr interessante Entwicklung, die die Tiefe der Veränderung der gesellschaftlichen Situation aufzeigt. Diejenigen, die am meisten in der historischen Tradition dieses Ressentiments stehen, entstammen dem Deutschnationalismus, aus dem sich die Haider-Partei und die FPÖ [Freiheitliche Partei Österreichs] rekrutiert. [Heinz-Christian] Strache [Parteivorsitzender der FPÖ] hat beim letzten Wahlkampf offen um die Serben geworben, einfach mit der Idee: "Wenn man gegen alle Migranten ist, dann steht man auf verlorenem Posten. Man muß doch irgendwo Stimmen bekommen, und der Konflikt mit dem Islam ist so scharf, daß man sagt: Alle christlichen Osteuropäer, die noch dazu weiß sind, die integrieren wir schon irgendwie". Nun umwirbt Strache die Serben auch mit einer politischen Position zum Kosovo.

SB: Also hat er diesen Widerspruch, der damals schon immer sehr hervorstach zwischen der antiserbischen Einstellung und dem gleichzeitig schon vorhandenen antiislamischen Credo des Westens, zu seinen Gunsten aufgelöst?

WL: Ja, würde ich schon sagen. Das Antiislamische ist auf jeden Fall die Hauptkarte, auf die er setzt. Das nimmt teilweise für seine Klientel Formen an, die nicht mehr gut ankommen. Zum Beispiel diese Betonung des Kreuzes oder dieser Wahlslogan "Abendland in Christenhand". Das ist deswegen übertrieben, weil seine Klientel aus einem explizit nichtklerikalen Milieu kommt. Die wollen keine Moslems, aber die haben mit der Kirche überhaupt nichts am Hut. Er selbst auch nicht. Er ist auch ein deutschnationaler Antiklerikaler, aber er glaubt halt, daß man das benutzen kann.

SB: Aber FPÖ und BZÖ [Bündnis Zukunft Österreich] sind doch bei der EU-Wahl durchaus erfolgreich gewesen?

WL: Sie waren durch die Spaltung mit dem Haider sehr schwach. Sie repräsentieren 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung, in den letzten Jahren lagen sie immer bei etwa 15 Prozent. Das heißt, sie sind jetzt dorthin zurückgekehrt, wo sie immer schon standen. Aber durch den Charakter der EU-Wahlen, bei denen man sich eher traut, etwas anderes zu wählen, weil man dabei nicht die Administration in die Hand von Wahnsinnigen gibt, sondern einen Denkzettel verpassen kann, war zu erwarten gewesen, daß sie bis zu 25 Prozent bekommen. Das haben sie nicht geschafft, und das ist für sie eher eine Enttäuschung.

SB: Kommt es gesamtgesellschaftlich in Österreich zu einer Art Besinnung auf politisch moderate Positionen, nachdem es hier immer eine sehr starke Rechte gab?

WL: Die EU-Wahlen sind durch den Hans-Peter Martin schon etwas Spezifisches, das man nicht so leicht umlegen kann. Es ist leider so, daß es gegen das Zentrum oder gegen den zentralen Liberalismus, der aus SPÖ [Sozialdemokratische Partei Österreichs], ÖVP [Österreichische Volkspartei] und Grünen besteht, im wesentlichen nur eine Opposition gibt. Es gibt sonst keine Opposition, das ist nur die Strache- oder FPÖ-Partei. Die ist ja keine klassische Rechte, sondern hat in vielerlei Hinsicht die klassisch rechten Positionen über Bord geworfen. So hat Haider schon die Parole geprägt: 'Wir sind die wahren sozialen Demokraten". Ein Beispiel vor einigen Jahren war das Kindergeld. Das Kindergeld oder Karenzgeld war gekoppelt an die unselbständige Erwerbstätigkeit. Wer nicht unselbständig erwerbstätig war, hat keines bekommen. Unter Haider ist das abgeschafft und unabhängig von der Erwerbstätigkeit gemacht worden, aber dafür abhängig von der Staatsbürgerschaft. Im Ergebnis haben die untersten Schichten sehr stark profitiert, aber die Migranten wurden ausgeschlossen. Das entspricht ziemlich genau der Wählerschaft. Die unterste Schicht der Österreicher wird angesprochen, aber mit dem Ressentiment des Chauvinismus.

SB: War Haider selbst nicht doch sehr liberal eingestellt? Ist da wirklich etwas dran, daß er eine soziale Agenda vertreten hat?

WL: Der Haider war ein politisches Genie, weil er mehrere Klientele bedienen hat können. Vor allem durch die spezifische Geschichte Kärntens ist es ihm gelungen, dort seine Bastion zu entwickeln. Dadurch hat ihn auch ein Teil der Eliten unterstützt, das ist nicht nur ein proletarisches oder Unterschichtenmilieu. Kärnten ist von der Geschichte her eine Ausnahme, weil das Bürgertum anders zusammengesetzt, der Katholizismus viel schwächer und die Sozialdemokratie immer viel stärker war. Die Landbevölkerung Österreichs war christlich-sozial. Die einzige Ausnahme außer den Städten hat Kärnten gebildet. Dort waren große Teile der Landbevölkerung auch sozialdemokratisch, weil der Katholizismus mehr mit den Slowenen verbunden und der Deutschnationalismus stark war. Das war auch das einzige rote Bundesland neben Wien.

Auf dieser Basis hat Haider nicht proletarische, sondern plebejische Leute gewinnen können. Er hat den alten Deutschnationalismus, die Wiener Proletarier, die Kärntner, den Kärntner Mittelstand zusammenbringen können. Der Strache kann das überhaupt nicht. Strache führt eine Art Proletarierpartei mit ganz kleinen deutschnationalen Einsprengselungen, aber dieses bürgerlich-nationale Element ist unbedeutend. Das Ergebnis dieser Europawahl ist, daß die wichtigsten traditionellen Bezirke der Sozialdemokratie, also Favoriten, Simmering, Floridsdorf, wo die Sozialdemokratie geboren wurde, wo sie ihre Hauptbasis hat, stark von der FPÖ dominiert werden. Das Proletariat läuft ihr zu, und das geht nicht mit klassischen rechten Positionen. Natürlich wirkt der Chauvinismus gegen Ausländer, aber schon mit einem Sozialprogramm, das im Prinzip sehr viele linke Versatzstücke hat. Ich würde nicht sagen, daß die FPÖ eine neoliberale Partei ist. Sie ist als einzige Partei nicht neoliberal, sie tritt für Staatsinterventionen, für einen Sozialstaat ein, allerdings ohne Ausländer.

SB: Also hat sie erfolgreich die SPÖ beerbt, die früher immer eine sehr starke Sozialstaatlichkeit vorgehalten hat?

WL: Ja, das würde ich schon sagen, das ist kein klassisch rechtes Programm. In der Außenpolitik war es die einzige Partei, die gegen den Irakkrieg angetreten ist.

SB: Freundschaft mit Saddam Hussein?

WL: Freundschaft mit Saddam Hussein, mit Gaddhafi, diese ganze Geschichte, das ist alles nicht ganz konsistent. Zum Beispiel hat Haider im Konflikt über Südossetien und Abchasien eine prorussische Position eingenommen, während die Eliten und das Zentrum immer nur wiederholt haben, was aus Washington kommt. Meiner Ansicht nach ist die FPÖ die einzige Partei, die nicht direkt in die Eliten eingebunden ist. Die Spaltung hat das noch akzentuiert, da sie unter Haider an der Regierung beteiligt war und es einen richtigen bürgerlichen, moderaten Flügel gegeben hat, der durch die Spaltung in die BZÖ gewechselt ist. Sie repräsentieren jetzt den chauvinistischen rechten Sozialpopulismus, aber auch die einzige Opposition.

SB: Gibt es noch Nachwirkungen zu dieser diplomatischen Isolation durch die EU, die erfolgte, als Haider an der Regierung beteiligt war? Hat sich das fortgesetzt in einem gewissen antieuropäischen Denken hier in Österreich, oder ist das vergessen?

WL: Das ist eher vergessen. Die Anti-EU-Stimmung wird von der politisch korrekten Linken automatisch der Rechten zugeordnet. Das halte ich für falsch. Das wird zwar stark von der Kronen-Zeitung angetrieben, die ja eine spezifische Geschichte als CIA-Flügel der Sozialdemokratie hat, der ganz rechte, proamerikanische Gewerkschaftsflügel, der bis in die 90er Jahre hinein offen reaktionär war. Da die Kronen-Zeitung ab einem gewissen Zeitpunkt die einzige Zeitung war, die nicht dem WAZ-Konzern oder diesem globalisierten Medienapparat zugehörig war, hat sie immer wieder antielitäre Positionen eingenommen, mit der sie dem Volk nach dem Maul redet. Da gibt es einen Zeitungsmacher, der einfach Journalismus macht und von dem immer wieder solche Sachen zu erwarten sind, daß er zum Beispiel den Hans-Peter Martin stützt, wobei ich glaube, daß er das nicht machen würde, wenn der in Österreich kandidiert, weil das System zu stark erschüttert würde. Aber den Hans-Peter Martin mit seinen 17 Prozent der SPÖ ins Fenster zu stellen, das macht er allemal.

SB: Wie sieht es mit der Debatte um den Vertrag von Lissabon aus in Österreich? Das Land hat den Vertrag ratifiziert, ist die Debatte abgelaufen?

WL: Die ist weitgehend abgelaufen. Da wird nicht über Lissabon diskutiert, sondern in Begriffen wie "die in Brüssel" relativ vereinfacht: "Die in Brüssel unterdrücken uns, sie nehmen sie uns die Unabhängigkeit und bestimmen alles." Das sind natürlich Dinge, die sehr vereinfachend sind, aber wo es schon einen Impuls gibt, der gegen die Eliten, die Brüssel mitkonstituieren, gerichtet ist. Der Filz und die Korruption sind nur Elemente der Realität, aber es ist schon etwas dabei, daß erstens wahr und zweitens oppositionell ist. Wir haben ja einem enormen Demokratieverlust. Die Eliten machen, was sie wollen, haben den Medienapparat und den politischen Apparat völlig in der Hand. Wenn du ein bißchen abweichst, dann mußt du befürchten, daß du aufgrund einer anderen Meinung bestraft wirst. Schon die Meinung wird reglementiert. Da ist der Impuls gegen die EU meines Erachtens schon positiv und fortschrittlich.

SB: Im Falle Irlands war der wichtigste Aspekt des Neins zum Lissabon-Vertrag der drohende Verlust der militärischen Neutralität. Inwieweit ist das eine Frage in Österreich?

WL: Es ist auf jeden Fall ein Aspekt, aber sicherlich viel weniger stark als in Irland.

SB: Die Österreicher hängen weniger an ihrer Neutralität als die Iren?

WL: So würde ich es nicht sagen. Es gibt immer wieder Umfragen, die von 60, 70, 80 Prozent für die Neutralität ausgehen. Von dem Beitritt zur NATO, der in den 90er Jahren forciert worden ist, ist überhaupt keine Rede mehr, der ist undurchsetzbar. Aber das wird nicht so offensiv politisch artikuliert. Dadurch, daß es nicht explizite Linke, sondern die Kronen-Zeitung und Hans-Peter Martin tragen, kommt es sehr vereinfacht daher. "Die Eurokraten, die uns den Begriff Marmelade wegnehmen wollen, jetzt müssen wir Konfitüre sagen." Solche primitiven Sachen hört man öfter. Aber das heißt nicht, daß Neutralität nicht doch eine Rolle spielt.

SB: An welchen Auslandseinsätzen ist österreichische Armee beteiligt?

WL: Das größte Kontingent ist im Kosovo, und ein bedeutendes Kontingent ist im Tschad. Es gibt viele Einsätze kleinerer Art, die teilweise schon über 30 oder 40 Jahre lang dauern, in Zypern oder am Golan.

SB: Gibt es eigentlich ein spezifisch antideutsches Ressentiment in der breiten österreichischen Bevölkerung, gibt es Vorbehalte, weil die Deutschen die EU stark dominieren und die dort verhandelten Themen sehr stark besetzen? Oder versteht man sich eher als Trittbrettfahrer, um möglichst auf dieser Ebene noch einzusteigen?

WL: Es gibt schon einen gewissen Wunsch nach Selbständigkeit, so gibt es den Begriff "der Piefke", da will man nicht zu sehr vereinnahmt werden. Aber im Rahmen der EU wird Deutschland auch in der breiteren Bevölkerung eher als ein Land betrachtet, das schon sehr nahe und eine Art Bruderland ist, aus vielerlei Gründen. Eine wirkliche, tief ablehnende Haltung gibt es nicht.

SB: In der Fraktion Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im EU-Parlament gibt es keinen österreichischen Parlamentarier. Gab es Bestrebungen linker Kreise hier in Österreich, da etwas auf die Beine zu stellen?

WL: Das geht von der KPÖ [Kommunistische Partei Österreichs] aus. Aber das Bündnis der KPÖ ist praktisch gescheitert. Der ganze Versuch, etwas Derartiges aufzubauen, ist aus vielen Gründen gescheitert. Zum einen der innere Konflikt, den sie mit der Grazer Gruppe haben, zum andern der ungewöhnlich starke Schwenk hin zu einer sozialliberalen Linie, die stark prozionistisch ist. Die meisten kommunistischen Parteien haben diesen Weg eingeschlagen, aber hier hat sich diese Richtung vor allem in den letzten Jahren stark durchgesetzt. In einem gewissen Moment hat das dazu geführt, daß sie beispielsweise den Ausschluß der Antiimperialisten zur Bedingung der Zusammenarbeit erhoben haben. Am Anfang wurde das irgendwie hingenommen, aber das ist doch eine sehr harte Position. Es ist eine Sache, nicht zusammenzuarbeiten, aber das Dritten aufzuzwingen, war, insbesondere im Umfeld des Irakkriegs, nicht mehr durchsetzbar. Da ist der Damm gebrochen und Bündnispartner wie aus dem Sozialforum um Leo Gabriel sind ausgeschert.

SB: Ihr arbeitet mit der "Gaza muss leben"-Initiative zusammen.

WL: "Gaza muss leben" geht schon recht stark auf eine Initiative von uns zurück, aber es ist auch ein Erfolg gegen die Ausgrenzungspolitik. Es hat in einem gewissen Moment eine ziemliche Breite erreicht, als nicht nur Leo Gabriel vom Sozialforum dabei war, sondern auch die "Frauen in Schwarz" und die "Jüdischen Stimmen für den gerechten Frieden" und auch der Rest-Kreiskyanismus mit Fritz Edlinger. Ein großer Teil der Linken ist wieder zurückgekehrt zu einer propalästinensischen Position, auch wenn sie moderat und das Antisemitismusargument für alles, was propalästinensisch ist, gesellschaftlich noch immer sehr bedeutend ist, weil es von den Eliten adoptiert wurde. Aber bei einem gewissen Teil der Linken, die überlebt, können sie mit diesem Argument nicht mehr hausieren gehen.

SB: Speziell auch seit dem Überfall auf Gaza?

WL: Sicher. Aber die Tendenz ist klar. Diese Antisemitismuskeule, die mit derartiger Brutalität eingesetzt wird, daß selbst Leute wie Finkelstein oder bekannte Leute, die wie der Edlinger teilweise zum Establishment gehören, als Antisemiten bezeichnet werden, ist kontraproduktiv auch für ihre Interessen, würde ich einmal sagen. Zudem bin ich der festen Überzeugung, daß dies eine Form von sekundärem Antisemitismus schafft.

SB: Wir befinden uns hier im Österreichisch-Arabischen Kulturzentrum. Ist die arabische Bevölkerung Wiens aus sich heraus politisch aktiv, oder setzt sie sich lediglich, wie beim Beispiel Gaza, für andere Positionen im Nahen und Mittleren Osten ein?

WL: Die arabische Bevölkerung ist hier nicht sehr stark, da gibt es in Deutschland sicher viel mehr und in Frankreich sowieso. Bei uns ist die muslimische Bevölkerung zum größten Teil türkisch oder bosnisch, in geringerer Zahl arabisch. Die türkische Linke ist oft nicht muslimisch, sondern alevitisch, und zudem im totalen freien Fall. Die Bosnier kommen politisch kaum vor, außer über die Moscheen eventuell.

Die Araber sind sicher die politisiertesten Muslime aus Gründen der Zusammensetzung der Migration. So sind palästinensische Intellektuelle stark vertreten. Auf der anderen Seite läuft dies über die Glaubensgemeinschaft, die einen offiziellen Status hat. Das ist eine öffentlich-rechtliche Institution, die seit dem Bosnienkrieg anerkannt ist und den Status einer Kirche hat und auch die Religionslehrer vom Staat bezahlt bekommt. Das ist, glaube ich, eine europäische Ausnahme. Das gibt schon eine ziemliche Macht, da du ja Posten verteilen kannst und Tausende Familien in Brot setzt. Und das ist gerade für solche Leute ein großer Faktor. Die Gemeinde ist sehr stabilisierend und sehr quietistisch in dem Sinn, daß sie die antiimperialistische Position immer aus Angst, daß man aneckt, zu unterdrücken versucht. Aber Konflikte gibt es, und wir haben uns auch in diese Konflikte begeben. Wir kooperieren sowohl mit den Resten des linken Säkularismus, als daß wir versuchen, mit Muslimen, die etwas tun wollen, zu kooperieren.

SB: Gibt es unter den Muslimen auch eine gewisse Neigung zu sozialen Positionen, die nicht direkt dem Islam entstammen, oder würdest du sagen, daß sie sich aus dem Islam ohnehin ergeben?

WL: Nein, ich glaube nicht, daß sich das aus dem Islam direkt ergibt, und linksislamische Tendenzen gibt es hier nicht. Das kann man irgendwo in der arabischen Welt oder vielleicht in anderen europäischen Ländern suchen, aber hier haben wir das nicht, das sind die klassischen Auffassungen.

SB: Ihr werdet ziemlich angefeindet dafür, daß ihr mit sogenannten Jihadisten oder Leuten paktiert, die aus einem islamischen Glaubensbekenntnis heraus ein im Grunde genommen antiimperialistisches Selbstverständnis haben.

WL: Wir kannten diese zwei Leute, die angeklagt wurden [Terrorprozeß gegen Mohamed M. und Mona S.] und die, wie wir merkten, im wesentlichen isoliert sind. Die beiden sind im Gegensatz zu dem, was diese Tendenzen normalerweise machen, nämlich völlig außerhalb der Politik zu stehen, in dem Maße, in dem sie sich eingemischt haben, auch öffentlich aufgetreten. Weil sie so für ihre Position gekämpft haben, ist es uns auch unbedenklich erschienen, denn wer den Mund aufmacht, legt normalerweise keine Bombe. In dem Maße, in dem sie aufgerufen haben, sich zu engagieren, auf Demonstrationen zu gehen usw. habe ich mich auch beteiligt. Aber zu diesen jihadistischen Gruppen halten wir schon auch Distanz. Das Sektierertum ist enorm und teilweise absurd, sowohl hier als auch in der arabischen Welt. Wir glauben nicht, daß sie in der Lage sind, in ihren Gesellschaften genug Konsens zu finden, um eine antiimperialistische Position durchzusetzen. Das, was sie zum Beispiel im Irak produziert haben, ist das Gegenteil dessen.

SB: Du meinst die sogenannten Al Kaida-Fraktionen, die auch gegen die irakische Bevölkerung Anschläge unternommen haben?

WL: Ja. Dieser takfiristische Zugang, laut dem alle, die sich diesem Kampf nicht anschließen, Ungläubige sind, den gibt es schon. Ich glaube nicht, daß das eine CIA-Erfindung ist, sondern das ist eine Reaktion auf diese Lage. Diese Leute sind unfähig, einen Befreiungskampf zu führen.

SB: Es gibt ja die Theorie, daß der politische Islam ein Produkt der Moderne ist und mit dem klassischen orthodoxen Islam nicht viel gemein hat. Könnte man sagen, daß es ein starkes reaktives Element gibt in bezug auf den panarabischen Sozialismus, bei dem es sich ja um eine verbrauchte und abgewirtschaftete Idee handelt? Wurde da ein Platz eingenommen, der keine Verankerung in jenem Islam hat, der im Nahen und Mittleren Osten hegemonial ist?

WL: Ja, dem würde ich zustimmen. Erstens glaube ich, daß es ein absolut modernes Phänomen ist. Man braucht sich nur das Foto dieses Mehsud von den pakistanischen Taliban anzuschauen, dann merkt man sofort, daß das kein traditionelles Phänomen ist. Mit den langen Haaren ist er in gewissen Sinne eine Pop-Ikone, das ist absolut nicht traditionell. Das ist eine moderne Interpretation des Islam, eine radikalisierte Interpretation, die überhaupt nicht konsensfähig ist. Das Phänomen ist vergleichbar mit dem der Linken und den Nationalisten in den 70er Jahren, die wie etwa in Lateinamerika politische Schwierigkeiten mit einem radikalisierten Militarismus übertönen wollten. Wo es Konsensprobleme gibt, radikalisiert man diesen Militarismus, aber letztendlich führt das in die Niederlage. Es kann nur unter ganz spezifischen Bedingungen zu Erfolgen führen. Aber im Irak ist es gescheitert.

SB: Im Artikel "Antiimperialismus und gesellschaftliche Befreiung" eurer Zeitschrift Intifada (Nr. 27 - Winter 2008) wurde die Frage aufgeworfen, wie sehr der Antiimperialismus als gesellschaftlicher Entwurf wirksam werden kann. Ihr stellt damit meinem Verständnis nach zur Debatte, ob der Antiimperialismus als Befreiungskampf überhaupt das emanzipatorische Potential besitzt, das man von einer revolutionären Bewegung erwarten würde? Habe ich das richtig verstanden?

WL: Diese Debatte war ein bißchen kontrovers, aber es ist auch unser Konzept, daß wir Diskussionen, die unter uns auftreten, öffentlich machen, weil sie vielleicht interessant sind und auch in anderen Milieus geführt werden, in denen wir nicht vertreten sind. Der Text wurde vor diesem Kriseneinbruch verfaßt. Mit diesem enormen Kriseneinbruch ist es noch viel interessanter, weil wir, oder zumindest ich, im Westen eine Destabilisierung des politischen Systems erwarten, bei der eine politische Alternative vielleicht nicht in die Nähe ihrer Verwirklichung gerät, aber zumindest in der Diskussion ist.

Meine persönliche Meinung ist schon, daß der Antiimperialismus es ermöglichen wird oder daß er sogar die einzige mögliche Plattform ist, auf der sich ein neuer Kollektivismus, eine neue antikapitalistische Idee etablieren kann mit dem Grundkonzept, die Eliten, die Oligarchie, die kapitalistische Elite, die diese Welt regiert, zu entfernen und ein System aufzubauen, das nicht nur demokratisch ist, sondern auch soziale Gerechtigkeit oder Gleichheit herstellt. Das bedeutet nicht, den alten Kommunismus wieder aufleben zu lassen, aber einen, wenn man so will, Neokommunismus, der den Bruch mit der Vergangenheit vollzieht, der neue Formen findet. Ich glaube schon, daß der Antiimperialismus die Plattform, auf der sich so ein Projekt konsolidieren kann, oder ein notwendiger Durchgang hin zu so einem neukommunistischen Projekt ist. Dabei glaube ich, daß der Begriff "Kommunismus" gar nicht geeignet ist, weil er zu stark auf die Vergangenheit verweist.

SB: Er ist ja in gewisser Weise gebrandmarkt dadurch, daß er synonym gesetzt wird mit dem Scheitern des Ostblocks oder der Sowjetunion, synonym gesetzt mit der Unmöglichkeit der Idee als solcher.

WL: Das Gewicht dieses Scheiterns ist so groß, ist historisch so bedeutend, daß unser Entwurf sich nicht als Neuauflage dessen entwickeln kann, sondern es muß aus einer Rebellion gegen die Eliten kommen. Gegen die Eliten, die alles, wofür sie angeblich stehen, Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Wohlstand, Frieden usw. verraten und darum bekämpft werden müssen. Eine Rebellion, die die verschiedensten Formen annehmen wird. Hauptform ist der Antiimperialismus. Aber auch bei uns gibt es eben die Rebellion, und das muß man irgendwie zusammenbringen, das muß man verbinden. Das ist sicher eine schwierige, sehr langwierige und auch widersprüchliche Aufgabe, aber der Antiimperialismus bleibt auch in dieser Situation der Hauptkonflikt. Er ist das Zentrum des Konflikts in der Welt.

SB: Ich habe den Artikel so verstanden, daß es um eine Erweiterung des Antiimperialismus mittels metaphysischer Inhalte im Sinne eines Universalismus geht. Habt ihr - oder hat der Autor Sebastian Baryli - damit gemeint, daß man mit einer metaphysischen oder auch politischen Philosophie etwas hinzufügt, das dann sehr viel wirkmächtiger wäre?

WL: Ich antworte nicht für den Autor, sondern für mich: Man muß einmal grundsätzlich mit dieser alten kommunistischen Idee brechen, die bei Marx so stark ist, daß der Kapitalismus die Welt homogenisiert, daß der Widerspruch Bourgeoisie/Proletariat sich verallgemeinert. Dieser Weltmarkt, dieses System, diese Globalisierung durchdringt alles, aber das führt zu keiner Homogenisierung, auch keiner kulturellen Homogenisierung, sondern im Gegenteil zu einer Fragmentierung besonderen Ausmaßes. Daher ist der antiimperialistische Widerstand kulturell in vielerlei Hinsicht sehr fragmentiert.

Es ist jetzt notwendig, das zusammenzufassen, aber ich glaube nicht, daß es möglich sein wird, so etwas wie eine kommunistische Internationale neu zu bilden. Diese kulturelle Differenz, die es in dieser Welt gibt, ist zu respektieren und muß in ein egalitäres oder emanzipatorisches Projekt einbezogen werden. Ich hoffe nicht, daß die Weltsprache kommt, ich hoffe nicht, daß alle Atheisten werden, sondern sie werden verschiedene Sprachen sprechen und verschiedene Kulturen haben, nicht die gleichen Vorstellungen über Kommunismus haben, über Familie, über all das, was wir mal als Kommunisten über die Welt stülpen wollten. Das wird es nicht geben. Was aber schon, so glaube ich, geschehen kann, ist, daß diese Eliten entmachtet werden und daß wir als verschiedene Kulturen, Kollektive, Gruppen in der Welt zusammenleben können, ohne daß es diese Elite gibt und daß dieser Kapitalismus eine extreme Monopolisierung der Ressourcen bewirkt. Daran, so glaube ich, muß man arbeiten, und das muß man entwickeln. Das ist die eine Antwort, die ich geben würde.

Die zweite betrifft diesen starken Gegensatz im Marxismus. Er hat auf objektive Wissenschaftlichkeit bestanden und dabei einen richtiggehenden Szientismus entwickelt, und er hat die Religion verurteilt, also "Opium fürs Volk" - das ist zwar nicht Marx, aber das ist dann daraus geworden. Es zeigt sich jedoch, daß eine gesellschaftsverändernde Aktion ein Element nicht nur der Hoffnung, die ja nicht unbedingt religiös ist, sondern der Transzendenz hat. Du möchtest die Gesellschaft verändern, du weißt nicht, was dabei herauskommt, du hast irgendeine Idee, die kann durchaus auch religiös sein, den Himmel auf Erden schaffen usw. Das ist oft wirkmächtiger als die wissenschaftliche Idee. Wenn wir davon ausgehen, daß diese Rebellion gegen die Eliten nicht homogen ist, muß es uns irgendwie gelingen, das, was Sebastian Baryli den Mythos nennt, eine Idee, die Kraft entfaltet und die nicht vollkommen rational ist, zu etablieren. Ich bin nicht religiös, aber ich bin auch kein Atheist in dem alten säkularistischen Sinn. Ich würde sagen, wenn ich und wir daran glauben, daß man diese Welt verändern und das System umstürzen kann, daß die Menschen in der Lage sind, gemeinschaftlich zu leben, dann kann ich das nicht bis zum letzten Rest wissenschaftlich belegen. Ich versuche es, wir versuchen es, klar, aber der Marxismus hat diesen Anspruch der vollen Wissenschaftlichkeit. Das ist nicht bis zur letzten Konsequenz wissenschaftlich belegbar. Die letzte Konsequenz ist: Wir müssen es machen, um es zu beweisen, aber dieser szientistische Anspruch ist falsch.

SB: Es ist ja ohnehin ein Problem, daß Wissenschaften im kapitalistischen System Herrschaftswissenschaften sind, daß also der Wissenschaftsbegriff völlig neu konstituiert werden müßte, wenn man überhaupt auf ihn abhebt. Knüpft ihr an die Auffassung der Frankfurter Schule, daß es zu einer Gegenregulation aus der bürgerlichen Aufklärung heraus kommt, weil der Keim des Konters schon in der Aufklärung verborgen war, an?

WL: Wir stehen der Frankfurter Schule, von Marcuse einmal abgesehen, aus politischen Gründen sehr skeptisch gegenüber, weil es Vorläufer dieses falschen Antifaschismus, totale Vertreter des US-Imperialismus sind. Gegen den deutschen Faschismus, den es damals nicht mehr gegeben hat, hat man den Vietnam-Krieg unterstützt usw. Aber es gibt schon Elemente wie den Positivismusstreit und auch die Skepsis gegenüber der Aufklärung, obwohl wir anders argumentieren würden. Dieser Strang der Aufklärung - und da ist auch der Marxismus gemeint - treibt die positivistische Ideologie in einem gewissen Sinn auf die Spitze. Nachdem die Bourgeoisie das nicht bis zur Konsequenz verfolgt hat, haben das Linke weiterverfolgt. Das ist gescheitert, und da sind Teile der Kritik der Frankfurter Schule auf jeden Fall richtig. Aber es ist jetzt zu fragmentarisch und dann zu sehr Vorläufer einer Postmoderne und zu pessimistisch. Gut, mit der Arbeiterklasse ist es in der Konzeption vorbei, aber es gibt eine Rebellion, es gibt einen Kampf. Die Frankfurter Schule aber ist Vorläuferin der Antideutschen, der Antinationalen, die dann letztendlich auf die Linken setzen. Bei Marcuse halte ich die Idee des eindimensionalen Menschen, auch wenn sie kein politisches Programm enthält, als Kritik der Konsumgesellschaft für sehr wertvoll, aber das ist schon eine Nebenlinie der Frankfurter Schule.

SB: Sebastian Baryli hat sich auf eine Aussage von dir bezogen, bei der du von einer anthropologischen Konstante gesprochen hast, auf deren Basis es kontingente Formen des Widerstands und der Mobilisierung geben könnte.

WL: Ich stehe einer anthropologischen Konstante sehr skeptisch gegenüber, ich glaube nur, daß Marx mit einer operiert, und zwar im Gesamtwerk in verschiedenen Formen von den Frühschriften über das Zentrum um 1848 bis zum Kapital. Er ist fest davon überzeugt, daß der wahre Mensch der kollektive Mensch ist, daß die wahre Gesellschaft erst die kommunistische Gesellschaft ist. Das sei eine im Menschen angelegte Konstante, die früher oder später zum Durchbruch kommen müsse. Vorher geschieht das durch das wahre Wesen und später durch den Widerspruch in den Produktivkräften zu den Produktionsverhältnissen, bei dem letztendlich die Produktivkräfte danach schreien, richtig organisiert zu werden. Ich habe natürlich Sympathie dafür, aber ich glaube nicht, daß es diese Konstante gibt. Ich glaube an die kontingente Möglichkeit und den Versuch, daß die Menschen dieses kollektive System erschaffen, aber ich glaube nicht, daß es entelechisch angelegt ist.

SB: Du würdest dich gegen die ontologische Bestimmung abgrenzen, weil es etwas wäre, das man zu entwickeln, zu erarbeiten hätte?

WL: Ja, genauso sehe ich es. Ich betrachte diese enorme Forderung beim Marxismus, bei Marx, laut der alles objektiv aus der Gesellschaft resultiert, als echte Schwäche. Diese Forderung schafft eine Schwachstelle beim Subjekt, die dann mit einer Art Automatismus gefüllt wird. Wenn man das Ganze ein wenig subjektivistischer anlegt, wenn man sagt, das ist ein Ziel, das man der Geschichte geben will, das ist eine Idee, die sich aus verschiedenen historischen Dingen aufdrängt, aber die dort nicht automatisch herauskommt, und es dem Subjekt überläßt, dann liegt die Leerstelle nicht beim Subjekt, und man operiert trotzdem nicht idealistisch. Dann kommt man in diese objektivistischen Schwierigkeiten nicht hinein. Ich glaube, daß eine Tendenz zum Objektivismus immer diese Leerstelle beim Subjekt schafft, die gefüllt werden muß. Ich gehe davon aus, daß der Mensch eine gewisse Willensfreiheit in der Geschichte im Rahmen der gegebenen Verhältnisse hat, und die darf man nicht streichen.

SB: Die Dominanz reiner Überlebenszwänge und -notlagen ist ja so gewaltig, daß die Menschen sich tendenziell stark an reaktionären Kräften orientieren, weil sie meinen, dort Schutz zu finden. Wie könnte man einen Subjektbegriff schaffen, mit dem der Mensch tatsächlich Neuland betritt? Wenn ich von der Dominanz der Fremdbestimmung ausgehe und demgegenüber die Frage des Subjekts aufwerfe, stoße ich in der Regel darauf, daß die Menschen sich im Endeffekt den Bedingungen beugen. Was könnte Menschen überhaupt dazu motivieren, eine Streitbarkeit an den Tag zu legen, die nicht zu korrumpieren wäre?

WL: Grundsätzlich glaube ich schon, daß die Herrschaft der Eliten global nicht akzeptiert wird und daß dieses Sich-Beugen nicht die Regel ist. Aber der Westen, Europa, ist in den letzten 100 Jahren praktisch in die Kultur der Unterwerfung hineingezwungen worden. Das gilt selbst für Leute, die materiell privilegiert waren. Ich glaube, daß unser Programm - damit meine ich nicht nur die AIK - der Rebellion, des Aufstands gegen die Eliten, des Kollektivismus sicherlich bis auf weiteres ein Minderheitenprogramm bleibt. Ich gehe davon aus, daß ein Erfolg nur möglich ist, wenn man diesen Block mit der Rebellion in der Dritten Welt schafft. Daß wir aus eigener Kraft genug Hegemonie erlangen, um diese Eliten zu stürzen, ist, glaube ich, nur in Sondersituationen möglich, in denen sie sich völlig diskreditieren. Die Tendenz auch dieser Wahl jetzt zeigt ja trotz aller Ungleichzeitigkeiten: Der Hauptstrang der Opposition geht zum Chauvinismus der Unterklassen, der Verlierer und so weiter. Das ist unbestreitbar. Wir wollen das nicht leugnen, das ist einfach Realität. Ich glaube schon, daß unsere Möglichkeiten größer werden, aber dieses Programm des Chauvinismus wohnt Europa und dem imperialistischen Westen einfach organisch inne. Seitdem der Kolonialismus und der Kapitalismus in dieser Form existiert, ist dieses Programm der Überlegenheit, der kolonialen Expansion, die auch neue Formen der kulturellen Überlegenheit aufweist, auch für die Unterklassen eine Konstante, die auch jetzt wirksam wird. Nicht umsonst, so glaube ich, hat die Islamophobie Strukturähnlichkeit mit dem historischen Antisemitismus der 20er und 30er Jahre. Ich glaube, das kann man wissenschaftlich nachweisen.

SB: Du hattest vorhin gemeint, daß eine neue sozialistische Internationale wahrscheinlich nicht mehr möglich wäre. Könntest du dir einen neuen Internationalismus vorstellen auf der Basis der Respektierung des Anderen in seiner Lebensform, in seinem Sein, der aber dennoch ein größeres Ganzes schafft?

WL: Ja, unbedingt, das halte ich für das Ziel. Wir dürfen auch nicht die Augen verschließen vor den inhaltlichen Problemen, die zum Beispiel im politischen Islam enthalten sind. Ihr politisches, ihr soziales Programm, ihre Vorstellung von einer Gesellschaft ist nicht unsere Kultur, aber es ist halt ihre Kultur. Aber sie haben keine Antwort auf die Tatsache, daß dieses System davon geprägt ist, daß eine winzige Elite alle materiellen Mittel und dadurch auch Kultur usw. in Beschlag nimmt. Wenn man das Eigentum von diesen Leuten nicht angreifen will, dann kann man 100 Mal Islam machen, aber du kriegst das System nicht weg. Das ist, glaube ich, eine echte Schwäche. Das sehen sie nicht so schnell, weil sie die einzigen sind, die Widerstand in größerem Ausmaß leisten, und da haben sie volle Legitimität. Das braucht etwas Universalistisches, und die soziale Gerechtigkeit, eine Ressourcenverteilung und eine Kontrolle über den produktiven Apparat, die gerechter ist, die mehr einbindet, das ist meines Erachtens nach etwas Universelles. Wenn man das schaffen will, dann muß man die Strömungen im politischen Islam und in welcher Kultur, in welchem Hintergrund auch immer sich das entwickelt, fördern und zusammenbringen.

SB: Kannst du dir nicht vorstellen, daß islamische Gesellschaften allein aus der Position der Unterlegenheit heraus widerständig sind? Hätten sie nicht, gesetzt den Fall, sie wären in der Position gewesen, nicht von außen kolonisiert worden zu sein, ohnehin eine analoge Entwicklung zu christlich geprägten Gesellschaften im Sinne einer Klassengesellschaft mit starken Widersprüchen vollzogen?

WL: Das würde ich nicht ausschließen, aber ich glaube nicht, daß man sich darauf einlassen kann. Marx hat irgendwo das Wort geprägt "Der Lahme zeigt dem Unterentwickelten seine Zukunft". Das glaube ich überhaupt nicht. Das ist falsch. Die nachfolgenden, die späteren Kapitalismen haben in ihrer politischen Entwicklung immer eine vollkommen andere Struktur. Diese Form des politischen Islam ist relativ jung. Selbst wenn man länger zurückgeht, so war der Islam als Reaktion auf den Kolonialismus im 19. Jahrhundert davor völlig anders. All diese Dinge wie das Alkoholverbot sind eher neue, eher moderne Entwicklungen. Das sind in gewissem Sinn Reaktionen auf den Kolonialismus. Man kann nicht sagen, was passiert wäre, da glaube ich, daß viel möglich gewesen wäre. Es ist einfach so, daß diese Reaktion das Bestehen auf die eigene Kultur, das Absetzen der eigenen Kultur gegen den Westen erfordert. Da werden dann diese kulturellen Rigiditäten entwickelt, die, glaube ich, nicht durchsetzbar sind. Wir sind eine Weltgesellschaft, die machen Jihad, trinken Coca-Cola und schauen sich die amerikanischen Filme an. Im letzten Dorf in Afghanistan sehen sie die schwachsinnigen amerikanischen Serien, und der Film spielt dahinten trotzdem mit. Das ist eben keine traditionelle Gesellschaft, sondern eine besondere Form der Moderne, die in Afghanistan bis ins letzte Dorf vorgedrungen ist.

SB: Ihr habt eure Zeitschrift Bruchlinien in Intifada umbenannt. Ist das mit einer inhaltlichen Qualifikation verbunden gewesen?

WL: Das ist eher eine traurige Geschichte, weil wir glauben, daß die Bruchlinien durchaus ihre Berechtigung hatten und das Projekt der Zeitung durchaus da war und auch weiterhin da ist. Die Zeitschrift Intifada hat es auch vorher schon gegeben, das haben fast die gleichen Leute parallel gemacht. Ich war weniger in den Bruchlinien, ich war mehr bei der Intifada. Wir haben uns dann einfach aus den Schwierigkeiten, die in dieser Gesellschaft für den linken Aktivismus bestehen und unter denen wir auch leiden, entschlossen, daß wir nur eine Zeitung herausgeben, und dadurch überschneidet sich die Thematik jetzt stärker. Aber wir leiden, und ich glaube nicht, daß wir die einzigen sind, darunter, daß wir zwar mit der Aktivität Gehör finden, auch Sympathisanten, aber daß es verdammt schwierig ist, neue Aktivisten zu finden. Und wir sind halt auf diesen Kreis beschränkt, da kommt niemand dazu.

SB: Meinst du, daß das damit zu tun hat, daß die heutige Jugend weniger aufmüpfig und stärker konsumorientiert ist?

WL: Ich glaube schon, daß das ein Erklärungsansatz ist. Ich bin immer geneigt, mich gegen die Tendenz "Früher war alles besser" zu stellen, das ist oft nicht korrekt. Auf jeden Fall erleben die Eliten einen Konsensverlust. Das ist eindeutig. Viele Leute sind der Ansicht, daß das, was die sagen, sicher Blödsinn ist. Das ist a priori nicht schlecht, sondern eher positiv, aber die Bereitschaft zum Engagement für ein Gegenprojekt ist überhaupt nicht vorhanden. Sicher gibt es einen sehr starken Konsumismus, eine massive Individualisierung. Selbst wenn wir unser Projekt vorantreiben, ist es gesellschaftlich nicht wirksam. Und zwar nicht nur bei uns. Das gilt für das eine Land mehr, für das andere weniger, aber es ist ein europäisches Phänomen.

SB: Willi Langthaler, vielen Dank für das ausführliche Gespräch.

30. Juni 2009