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ZEITZEUGEN LINKS/003: Quergedacht und schwergemacht - Trauer, Hoffnung und das Tun ...    Ingrid Zwerenz im Gespräch (SB)


Logo 'Zeitzeugen links': Rote Fahne, Aufmarsch gegen die Uhr - Grafik: © 2016 by Schattenblick

Wie die Hefe im Teig

Gespräch mit Ingrid Zwerenz am 13. und 14. August 2016 in Oberreifenberg im Taunus - Teil 2


Unterteilen wir Sklavensprache grob in die zwei Formen des ängstlich verdeckten, also gehorsamen Ausdrucks und andererseits der subversiv vorbereitenden Revolte, so haben wir im submodernen Globalspeech ein Spitzenprodukt intellektueller Zuhälterdialektik vor uns: Vom Börsenkauderwelsch über das Werbegequassel bis zum machtfetten Leitartikel, die Intentionslüge herrscht als Hydra mit Millionen von Sprachkunstköpfen, die abzuschlagen so viel nützt wie der Löffel beim Ausschöpfen der Ozeane.
(Ingrid und Gerhard Zwerenz: Sklavensprache und Revolte)

Wer Ingrid Zwerenz erstmals in ihrem Haus in Oberreifenberg besucht, das für sie und ihren Mann nach einigen Irr- und Umwegen langjährige Zuflucht und Arbeitsstätte wurde, ist überrascht von dem Labyrinth, das sich hinter der zunächst eher unscheinbaren Fassade verbirgt, der Fülle von Erinnerungen und Zeitzeugnissen an Wänden und Treppenaufgängen auch aus wilden Jahren und Räumlichkeiten, über drei Stockwerke an den Hang gebaut, die gleichermaßen von großzügiger Gastfreundschaft wie von kreativer Zurückgezogenheit zeugen, vor allem aber von einer großen Liebe zu Büchern.

Nicht aufzugeben und an den Träumen der Jugend festzuhalten, mit dem Mut zu unbescheidener Erkenntnis und kritischer Einmischung - das Wirken des Schriftstellerpaares Ingrid und Gerhard Zwerenz kann als ein Beispiel dafür gelten, wie der mit wachsender Vehemenz erhobenen Forderung, sich anzupassen und zu unterwerfen, entgegengetreten werden kann. Gerhard Zwerenz war nicht nur Chronist und genauer Beobachter des - durchaus zu Heiterkeit Anlaß gebenden - Kuriositätenkabinetts zwischenmenschlicher Verwerfungen, er kommentierte auch mit spitzer Feder respektive zornigem Tastendruck, was nach dem Ende des NS-Staates alles nicht eingelöst, abgegolten und überwunden wurde. Ingrid Zwerenz scheint die alltägliche Praxis kritischer Reflexion Aufgabe und Lebenselixier zugleich zu sein. Beiden gemeinsam ist das Faible für eine Kulturkritik, die nicht darauf verzichtet, des Kaisers neue Kleider beim Namen zu nennen.

Über zwei Tage hatte der Schattenblick die Gelegenheit zu einem Gespräch mit der Witwe des kurz nach seinem 90. Geburtstag verstorbenen Schriftstellers und nimmermüden scharfzüngigen Kritikers gesellschaftlicher Un-Verhältnisse. Am 8. September, wenige Wochen nach dem Zusammentreffen, wurde in seinem Geburtsort Gablenz ihm zu Ehren und zur Erinnerung eine Straße in "Gerhard-Zwerenz-Weg" umbenannt.

Im 2. Teil geht es um den aufrechten Gang in niederdrückenden Zeiten, die Flucht aus der DDR, die Art und Weise der Zusammenarbeit und die Schwierigkeit, in diesen Tagen Pazifist zu bleiben sowie um die Linke in der Dauerkrise.


Rücken an Rücken im Seitenprofil - Foto: © Ursula Hunter mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Ingrid und Gerhard Zwerenz
Foto: © Ursula Hunter mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Schattenblick (SB): Es gibt ein Foto auf der Webseite vom Poetenladen, das Sie und Ihren Mann im Seitenprofil Rücken an Rücken zeigt. Selbst wenn es vom Fotografen so arrangiert worden wäre ...

Ingrid Zwerenz (IZ): Nein, das hat Gerhard sich so gewünscht. Das Bild hat Ursula Hunter gemacht. Gerhard ließ sich gerne so etwas einfallen. Als Ursel hier war, haben wir einen Hocker dort in die Mitte vor den Schrank gestellt, und plötzlich sagte Gerhard zu mir: Wir setzen uns jetzt Rücken an Rücken. Und das Motiv hat Ursel Hunter dann aufgenommen.

SB: Zu diesem Bild könnte einem viel einfallen: Da stärken sich zwei den Rücken oder zwischen die beiden paßt kein Blatt, oder sie stehen zusammen in der Freiheit, jeder in seine eigene Richtung zu schauen, und die kann auch voneinander abweichen ...

IZ: Mitunter, ja. Das ist hochinteressant, was Sie da alles hineininterpretieren.

SB: Deshalb, wenn ich dieses Bild betrachte, würde ich gerne fragen: Was hat Sie beide so lange Jahre zusammengehalten?

IZ: Wir haben 1957 geheiratet. Das war in einer politisch brisanten Hochzeit, als schon all die Turbulenzen anfingen. Was junge Ehepaare mitunter in den ersten Jahren, wenn die frühe Leidenschaft etwas abgekühlt ist, für Hürden überwinden müssen, es miteinander auszuhalten, ist uns durch die Entwicklung abgenommen worden. Wir hatten solche Mühe, aufrecht zu bleiben und uns gegenseitig den Rücken zu stärken gegenüber Herausforderungen, die sich häuften. Ursprünglich planten wir, fertig zu studieren. Gerhard hätte weiter immer wieder mal politische Artikel in der damaligen Weltbühne und im Sonntag geschrieben und ab und zu einen heiteren Roman, aber das haben sie uns blitzschnell abgewöhnt.

Dazu noch eine interessante Anmerkung: Als Bloch schon vom Institut ausgeschlossen war und den früheren Arbeitsplatz nicht mehr betreten durfte, wurde an seine Studenten die Forderung herangetragen, uns von ihm, seiner Philosophie und allem, was wir bisher beim plötzlich Verfemten gehört und gelernt hatten, zu distanzieren. Ich habe mich geweigert und ließ mich exmatrikulieren. Da hatte ich mir aber vorher schon eine Stellung bei der Leipziger Kommissions- und Großbuchhandlung besorgt. Dort hätte ich in der Werbeabteilung arbeiten können. Da war ein sehr netter Mann, der wissen wollte, warum ich mit dem Studium aufgehört hatte, und weil ich es ihm nicht so schwer machen wollte, habe ich gesagt, ich hätte stellenweise eine andere Meinung zu Hegel gehabt. Das hat der Leiter freundlicherweise akzeptiert, ich hätte jederzeit dort anfangen können. Aber inzwischen eskalierte der Streit in Leipzig mit Gerhards beiden Hauptfeinden Paul Fröhlich und Siegfried Wagner. Das war ein richtig glühender Haß, wo dann - bezogen auf Gerhard - alle paar Wochen in der Zeitung die Meldung erschien, solche Leute müßten eingesperrt werden. Das wäre für jemanden, der vier Jahre Gefangenschaft in der Sowjetunion überlebt hatte und mit einer schweren Tuberkulose und nur einem funktionsfähigen Lungenflügel heimgekehrt war, nicht sehr zuträglich gewesen. Und so haben wir uns zurückgezogen in die Mark Brandenburg zu meinen Eltern in Dahme, wo ich Abitur gemacht hatte. Immerhin war das eine schöne alte Villa mit relativ großen Räumen, und meine Eltern traten uns das Wohnzimmer ab, was ich sehr solidarisch fand. Als gelernte Umsiedler waren wir ja geübt in so etwas, da war es nur gut, daß wir nicht zu Fuß von Leipzig nach Dahme gehen mußten.


Bücherregal mit Zwerenz-Büchern - Foto: © 2016 by Schattenblick

Von Katzen und Menschen
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Sie selbst haben für Pardon, für Twen, für Ossietzky geschrieben, das Buch Sklavensprache und Revolte gemeinsam mit Ihrem Mann verfaßt, und auch eigene Bücher, zum Beispiel über die Geschichte des Paragraphen 218 ...

IZ:. Noch früher, 1974, ist im Fischer Verlag ein recht bekanntes Buch von mir erschienen, Von Katzen und Menschen, eine Art kleine Autobiographie. Gerhard hat mich immer mal veräppelt. Er sagte, wenn man die viele Leserpost für Dich betrachtet, könnte man denken, das Buch hat eine 100.000er Auflage, es gab so um die 10 - 12.000. Aber es wird immer wieder mal in Einzelteilen abgedruckt.

SB: In einem Gespräch im Poetenladen zum 90. Geburtstag Ihres Mannes heißt es, Sie seien über Jahrzehnte seine Lektorin, Korrektorin und Beraterin gewesen. Wieviel Ingrid Zwerenz steckt in den Werken von Gerhard Zwerenz?

IZ: Der Bunker ist eines der wenigen Bücher, das ich zwar abtippte, zu dem ich aber vom Thema her nichts direkt beigetragen habe. Dagegen ist bei Die Westdeutschen ungefähr ein Zehntel des Textes direkt von mir, beim Portrait über Tucholsky ungefähr die Hälfte. Deswegen wollte Gerhard, daß beide Namen auf dem Titel genannt werden, doch die Druckmaschinen bei Bertelsmann liefen schon. Kopf und Bauch habe ich ungefähr fünfmal abgeschrieben, in immer neuen Varianten, und vom Casanova mit 1000 Seiten gab es auch eine zweite und dritte Fassung. Da sind auch einzelne Kapitel und Details von mir, aber in Kopf und Bauch eigentlich wenig.

SB: Wie war Ihre Zusammenarbeit, gab es auch Korrekturen, Diskussionen, Veränderungen, die auf Ihre Initiative zurückgingen?

IZ: Aber ja. Peter Härtling war um diese Zeit noch Lektor bei Fischer und hat mit Gerhard Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond überarbeitet. Ich habe dann manchmal auf Zetteln notiert, "entgegen meinem ausdrücklichen Einspruch" oder so ähnlich - jedenfalls habe ich energisch protestiert, daß ein Kapitel an den Anfang von der Erde rückte. Da hat Peter Härtling zustimmend gelacht, und beide Herren waren einverstanden, weil auch Härtling meiner Meinung war, daß das Kapitel nicht dorthin gehörte. Diese Art der Zusammenarbeit gab es selbstverständlich auch im Poetenladen, zumal Gerhard die Sächsische Autobiographie faktisch mit der Hand geschrieben hat, da er wegen einer Polyarthritis in allen zehn Fingern die Maschine oder den PC nicht mehr zu nutzen vermochte. Er hatte sich zuletzt so ans Handschriftliche gewöhnt, daß er eine Art Druckbuchstaben entwickelte und nicht alles in Sütterlin schrieb. Daraus ergaben sich natürlich auch Veränderungen, weil man auf dem PC gewisse Verdoppelungen oder unnötige Zusätze viel deutlicher sieht. Bei solchen Kürzungen vertraute er mir absolut. In den letzten Monaten kam er manchmal ganz stolz an und sagte: Jetzt mußt du mal gucken, ich habe eine ganze Seite auf dem PC geschrieben, und ich glaube, sogar fehlerfrei. Früher war er einer der besten und schnellsten Maschinenschreiber, die man sich vorstellen kann, er hat ja die ganzen Jahre pro Tag zwölf bis zwanzig Seiten geschafft. Einer seiner Biographen, Dr. Hannes Schwenger, der sich über Jahrzehnte richtig in seine Bücher reingekniet und auch die Kapitel über Gerhard im Literaturlexikon der Gegenwartsliteratur verfaßt hat, hat das vor kurzem herrlich auf den Punkt gebracht. Der Journalist Andreas Mytze, der in London die Zeitschrift europäische ideen in deutsch herausbringt, macht ab und zu Sondernummern zu einzelnen Autoren, sowohl zu lebenden als auch jetzt eine über Gerhard, die gerade mit 32 Seiten erschienen ist. Darin hat Hannes Schwenger unser Arbeitsverhältnis sehr genau beschrieben.


Plakat zeigt Ingrid und Gerhard Zwerenz hinter einem Schild 'Benutzung auf eigene Gefahr' - Foto: © 2016 by Schattenblick

Lesungsplakat "Sklavensprache und Revolte" aus dem Jahr 2004
Foto: © 2016 by Schattenblick

Ich habe ja lange über 10 Bänden Tucholsky gearbeitet und seine Korrespondenz-Bände, die ungemein lesenswert sind. Einmal sagte ich zu Gerhard, eigentlich ist es ein Jammer, daß ich so wenig Post von dir habe, und da erwiderte er, wir hocken seit 60 oder damals waren es 40 Jahre Tag und Nacht beieinander, soll ich dir da auch noch Briefe schreiben?

Es gibt allerdings Sachen, bei denen kann ich noch heute ausrasten. Es muß wohl eine sächsische Eigenheit sein, denn Gerhard hat das Wort Hagestolz immer so verwendet, als wäre es eine Steigerung von stolz. Ich habe ihm x-mal auf einen Zettel geschrieben, Hagestolz heißt Junggeselle, weiter nichts. Ein Hagestolz ist ein Unverheirateter. Aber es hat nichts genützt, auf jeder hundertsten Seite kam der Hagestolz wieder; manchmal hatten wir sogar einen verheirateten Hagestolz, wenn er schrieb: ein hagestolzer Ehemann. Hab ich dann einfach getilgt.

SB: Das Bundesarchiv bemüht sich ja um den Nachlaß von Gerhard Zwerenz. Mehrere Mitarbeiter haben hier in Oberreifenberg, wie Sie uns erzählten, tagelang die Bestände gesichtet und verpackt. Was bedeutet das für die weitere Nutzung des riesigen Werkes?

IZ: Die Abmachung ist, daß nur mit meiner bzw. Catharinas Zustimmung etwas aus dem Bundesarchiv veröffentlicht werden darf. Wobei ich einen ganzen Stoß Privatbriefe, die zum Teil auch beruflich bedingt waren, vorläufig behalten habe, weil ich sie erst durchsehen möchte. Auch von der Akademie der Künste war eine sehr sympathische Dame hier, die sich alle Briefe angesehen und verschiedene, die sie gerne haben wollte, vorgemerkt hat. Die Bitte mußte ich leider ablehnen. Sie hätten nur einen Teil des Nachlasses genommen, weil es auch eine Platzfrage ist, und Lagerraum in Berlin ist ungeheuer teuer.

SB: Sie würden es am liebsten sehen, wenn der gesamte Nachlaß an einem Ort wäre?

IZ: Richtig, und das soll dann alles ins Bundesarchiv nach Lichterfelde. Ich ziele natürlich auf Berlin, Richtung Tochter und Schwiegersohn, auch wenn ich dann das dritte, vierte, ach, fünfte Mal nach Berlin umsiedle.


Ingrid Zwerenz vor einem Bücherregal der hauseigenen Bibliothek - lks.: Foto: © 2016 by Schattenblick, re.: Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz Ingrid Zwerenz vor einem Bücherregal der hauseigenen Bibliothek - lks.: Foto: © 2016 by Schattenblick, re.: Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

"Um es zusammenzufassen: Vieles von dem, was mich bewegt, wie ich mich verhalten und was ich getan habe, führt auf diese frühe Lektüre zurück. Ich ließ mich nie von anfänglichem Nichtverstehen abschrecken. Ich muss wirklich den Hut ziehen vor der Bibliothek meiner Jugend, und so singe ich das Lied des Buches als einer widerständigen Lebensform." (aus: Sächsische Autobiographie, Teil 1, Folge 89)
Gerhard Zwerenz' Jugendbibliothek - vom Großvater im Wald vergraben und so vor den Nazis gerettet
lks.: Foto: © 2016 by Schattenblick, re: Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Ich will Ihnen noch eine relativ abenteuerliche Geschichte rekapitulieren. In Gablenz, dem Geburtsort von Gerhard, das ist in der Nähe von Crimmitschau, hatte ein Freundeskreis schon über Jahrzehnte angeregt, weil er doch wirklich einer der bekanntesten Personen von dort aus der Gegenwart wäre, daß ein Weg nach ihm benannt wird.[1] Kurioserweise ist Gerhard neben einer ganz putzigen Kirche geboren. Sein Geburtshaus steht noch, und davor sind diese berühmten drei Teiche, über die er in seinem Buch Das Großelternkind so gern erzählte.

Kurz nach seinem Tod hat mir der übrigens parteilose Oberbürgermeister einen sehr freundlichen Kondolenzbrief geschrieben. Natürlich habe ich rasch geantwortet. Der OB nennt als eines seiner Hobbys Lesen. So ein Stadtoberhaupt kann sich jeder Autor nur wünschen. Längere Zeit habe ich dann nichts mehr von ihm gehört, aber jetzt ist die Feier auf den 8. September festgelegt und dann wird in Gablenz der Gerhard-Zwerenz-Weg eingeweiht und am Geburtshaus eine Tafel angebracht. In Crimmitschau gibt es erstaunlicherweise noch eine Buchhandlung, die sich offenbar trägt. Die hat sich auch sehr für die Sache engagiert.


Auf dem Sofa sitzend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Ingrid Zwerenz beim Gespräch mit dem Schattenblick
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: In der Sächsischen Autobiographie schreibt Gerhard Zwerenz: "Geschichte ist erzählte Verleugnung. Kriegsgeschichte die Zubereitung zum Zwecke der Wiederholung, das beginnt stets mit Realitätsverkennung." Wie schafft man es, Erfahrungen und Erlebnisse aus zwölf Jahren Hitler-Faschismus, sechs Jahren Krieg, aus Unterdrückung und Flucht nicht zu verdrängen, nicht zu vergessen und auch nicht in Erträglichkeiten umzuinterpretieren?

IZ: Das ist ein hochinteressanter Punkt, den Sie da ansprechen. Als Gerhard zuletzt im Krankenhaus war, hatte er wahnsinnige Träume, die ihn schwer belasteten. Entweder war er wieder in Gefangenschaft oder im Krieg. Daß er so unruhig schlief, hat natürlich nicht gerade zu seiner Genesung beigetragen. Es gab einen guten Neurologen dort, der lange Gespräche mit ihm geführt hat. Und gerade voriges Jahr war eine Tagung in München, wo die Ärzte drauf gekommen sind, daß bei der Generation der 85- bis 90jährigen und darüber die Kriegserfahrungen selbst nach leichten Operationen und Narkosen so virulent sind und so plastisch vor den Leuten auferstehen, besonders in der Nacht und in den Träumen, daß sie völlig verwirrt sind. In einem Leitartikel der FAZ, den ich damals ausgeschnitten hatte, hieß es, daß man daraus nun endlich die Folgerung ziehen müßte, älteren Patienten nicht mehr so starke Narkosen zu geben, weil das offenbar im Gehirn falsche Synapsen zusammenschließt.

Nun habe ich immer gesagt, bei Gerhard verstehe ich es am allerwenigsten, er war doch im Unterschied zu seinen Altersgenossen in der glücklichen Lage, sich alles von der Seele schreiben zu können. Er hat ja unzählige Texte verfaßt zu den Punkten, die Sie gerade aufgezählt haben. Deswegen hatten wir den Eindruck, er habe das verarbeitet, auch wenn er immer wieder darauf zurückkam.

Schon bei der Einlieferung ins Krankenhaus lief alles falsch. Weil Gerhard sowohl von der gebrochenen Schulter als auch vom gebrochenen Arm starke Schmerzen hatte, wurde er an einen Tropf mit Schmerzmitteln gehängt. Und dann haben sie ihn in einem Nebenraum offenbar vergessen. So blieb der Tropf stundenlang dran. Das war wie eine Dauernarkose. Sie meinten das sicherlich gut, aber natürlich darf man so ein Mittel nicht so lange geben, sagten mir hinterher befreundete Mediziner. Bereits bei den ersten Besuchen fiel mir auf, wie deprimiert Gerhard war wegen der belastenden Erinnerungen in der Nacht und weil er das Gefühl hatte, daß es mit ihm nicht wieder aufwärts geht. In den letzten Jahrzehnten hatte man ihm in der Hochtaunusklinik zwei Mal das Leben gerettet, 2015 ging dort alles schief.

Überdies war das mit Erich Loest passiert, der ja über Jahrzehnte ein sehr guter Freund von uns war, von Leipzig her schon, auch wenn er sich in den letzten Jahren in eine politische Richtung entwickelt hatte, die wir beide unerträglich fanden. Trotzdem war es ein furchtbarer Schock für uns, als Erich, der mit verschiedenen Krankheiten in der Leipziger Universitätsklinik lag, eines frühen Abends aus dem Fenster im zweiten Stock gesprungen ist. Loest hat dann ungefähr zweieinhalb Stunden schwerverletzt im Schlamm gelegen, bis ihn jemand gefunden hat. So ein schreckliches Ende, das hat Gerhard, bei allen Zerwürfnissen, natürlich stark beschäftigt. In seiner frühen Zeit als Kriminalkommissar in Crimmitschau hatte Gerhard rabiate Erfahrungen gemacht, sowohl mit Selbstmördern, die sich erhängt hatten und die er dann vom Seil abschneiden mußte, als auch mit Leuten, die aus dem Fenster sprangen, aber es war nie einer tot nach einem Sprung aus dem zweiten Stock. Im Krankenhaus fing das an, daß er manchmal gesagt hat: Ich will hier nicht mehr bleiben, da stürze ich mich lieber aus dem Fenster. Der Arzt meinte, das paßt gar nicht zu Ihrem Mann, aber ich kann diese schweren Depressionen nicht länger auffangen oder ihn immer wieder davon abbringen. Ich glaube, es täte ihm besser, wieder bei sich zu Hause zu sein. Die Krönung war, daß Gerhard - natürlich vor dem Hintergrund seiner verschiedensten Erfahrungen - sagte: Wenn man schon irgendwo aus dem Fenster springt, dann mit dem Kopf voran. Da ist mir schon bei dem Gedanken schlecht geworden.

Neulich habe ich, sogar noch als Schreibmaschinenmanuskript, einen Artikel von Gerhard gefunden, da steht drüber Mein Nachruf.[2] Der muß von 1983 sein, der Begriff ist ihm immer nachgegangen. Sehr viel früher hat ja Tucholsky schon Texte geschrieben, als ob sie nach seinem Tod spielten. Da haben sich die Kenner gewundert, wie früh Tucho damit dran war. Bei ihm hießen sie Nachhergespräche, das hatte auch etwas Gemütliches, wie sie da sitzen auf ihrer Wolke und sich unterhalten ...


Bilderwand im Wohnzimmer - Foto: © 2016 by Schattenblick

Zeitzeugen
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Ihr Mann ist während des Warschauer Aufstands 1944 desertiert und kam in sowjetische Kriegsgefangenschaft. In der Sächsischen Autobiographie berichtet er auch über einen zunächst mißlungenen Versuch, sich zu ergeben.

IZ: Ja, wo er dann einen Kanadier aus der US-Army erschießt, den er vorher dabei beobachtet hatte, wie er einen Deutschen, der sich ergeben wollte, abknallt. Ein Kamerad von Gerhard, Eberhard, und er hatten bereits zwei-, dreimal versucht, in Richtung Rote Armee überzulaufen. Die Chance schien günstig, zumal Eberhard etwas Polnisch sprach, aber der Versuch mißglückte. Später hat es Gerhard dann alleine geschafft. Wenn man daran denkt, wie sich dieses 19jährige Kerlchen da gegen die Wehrmacht des Dritten Reiches durch die Linien geschlängelt hat. Und dann hat ihn ein Russe gefangengenommen in einer Hütte, dort hatte Gerhard dessen gebratenes Hühnchen verschlungen. Zwei oder drei Tage vorher war ein Stalin-Erlaß erschienen, demzufolge man deutsche Gefangene nicht mehr einfach liquidieren sollte. Diesen Befehl hatte der Soldat, der ihn ins Lager geführt hat, verinnerlicht. Unterwegs sind sie einer Reihe sowohl polnischer als auch russischer Soldaten begegnet, die Gerhard verprügelt haben. Wenigstens hat der Posten mit seinem Gewehr versucht, ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren, daß er wenigstens nicht totgeschlagen wurde. Ich meine, man versteht den Haß von denen, die ihm da entgegengekommen sind. Er hätte vielleicht nur sagen müssen: Ich bin desertiert. Aber nicht einmal im Gefangenenlager hat er das publik gemacht. Mit viel Glück hat er überlebt. Und hat dann diesen Kapitän getroffen, der Sachsen und Crimmitschau kannte und in dem großen Warenhaus dort gelernt hatte, bei einem ganz berühmten jüdischen Besitzer, der später in New York seine Geschäfte weiter betrieb. Es hatten noch viele Emigranten sächsische Wurzeln.

SB: Es gab ja auch Soldaten der Wehrmacht, die ins Nationalkomitee Freies Deutschland gewechselt sind, ohne inhaftiert zu werden. Wie kam es zu seiner Entscheidung, sich lediglich gefangennehmen zu lassen?

IZ: Gerhard hat nie von der Tatsache Gebrauch gemacht, daß er zur Roten Armee desertiert ist. Ich habe oft zu ihm gesagt: "Menschenskind, Gerhard, du hättest dir das doch als Verdienst anrechnen lassen können." Tatsächlich haben sie ihn wie einen üblichen woina pleni - Kriegsgefangenen - behandelt. Er hat genauso arbeiten müssen wie die anderen. Eines hat er dort aber gelernt, nämlich Holzfällen. Bei uns später hier im Garten war das durchaus nützlich, wir hatten viel zu viele Bäume angepflanzt.


Gerhard Zwerenz mit Kappe und Zigarette - Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Un-einverstanden
Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Eine Geschichte war sowohl zum Lachen wie zum Heulen. Gerhard ist, als die Verhältnisse sich ein bißchen besserten, sogar an Lesestoff herangekommen. Es gab dort eine Bibliothek, natürlich auch mit Büchern über Marxismus, die er sich nach und nach auslieh. Da hat Gerhard was ganz Irrwitziges gemacht, ist zu dem Bibliothekar gegangen und hat gesagt, er hätte gerne ein Buch von Leo Trotzki. Da wurde der arme Mann leichenblaß, und Gerhard ist nicht mehr auf diesen Wunsch zurückgekommen.

Aber als die Offiziere durch das Gefangenenlager gingen und aussuchten, wer für den Rücktransport nach Deutschland in Frage kommt, hatten sie es schriftlich, daß Gerhard zu ihnen desertiert war. Das hat ihm eine Menge Pluspunkte verschafft. Außerdem war er Proletarierkind und selber Arbeiter gewesen. Deshalb kam er, abgesehen von der Tuberkulose, die jedoch erst nach seiner Rückkehr ausbrach, relativ heil in Deutschland an. Bloß ist er, was ihn zur Verzweiflung gebracht hat, in Zwickau sofort wieder kaserniert worden.

SB: Als er zur Volkspolizei kam?

IZ: Ja, da mußte er wieder eine Waffe in die Hand nehmen. Aber es gelang ihm, über die Kripo aus dem Militär herauszukommen, und dann brach die Tuberkulose bei ihm aus. Inzwischen hatte ihm die SED eine Dozentenstelle in Zwickau an der Ingenieursschule verschafft, so daß er immerhin wieder mit Lektüre zu tun hatte. Man muß sich das einmal vorstellen, in der Nacht hat er gelesen, worüber er am nächsten Morgen Vorlesungen hielt. Natürlich hat er dabei viel gelernt.

SB: Gerhard Zwerenz hat in der Sächsischen Autobiographie festgestellt, daß aus der DDR, wenn sie nur halb so viel Unterstützung gehabt hätte wie die BRD und nicht zwischen der Sowjetunion auf der einen Seite und der NATO auf der anderen Seite eingeklemmt gewesen wäre, etwas hätte werden können. War Ihnen damals bewußt, daß im Kalten Krieg auch ein militärischer Aufmarsch gegen die DDR und den Kommunismus stattfand?

IZ: Aber sicher, ja. Immer wieder vergessen werden die Wiedergutmachungsleistungen der DDR an die Sowjetunion, die ohne ihre DDR-Zulieferer viel eher untergegangen wäre.

SB: Sie waren auch mit Wolfgang Harich befreundet, der schon 1973 mit Kommunismus ohne Wachstum eine Schrift vorgelegt hat, die heute kaum von größerer Aktualität sein könnte. Wissen Sie, wie es kam, daß er Interesse an einer sozialistischen Wachstumskritik entwickelt hat?

IZ: Das muß ein Ausweg für ihn gewesen sein, denn sonst hatten sie ihm ja alle Möglichkeiten abgeschnitten. Er hat im Zuchthaus wenigstens Bücher nutzen dürfen. Während der Haft hat er den ganzen Jean Paul gelesen und bearbeitet. Dann hat Harich viel über Nietzsche gearbeitet, den er jedoch gehaßt hat, was man zum Teil verstehen kann. Auf die Ökologie ist er wegen des Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit gekommen, darauf hat er sich bezogen.

Wir haben uns telefonisch immer prima verständigen können, weil ich jahrelang selbst regelrecht Jean-Paul-süchtig war, was ihn besonders freute. Schon sein Vater hatte zu Jean Paul eine enge Beziehung. Ich habe hier einen Riesenbrief Gerhard Zwerenz an Wolfgang Harich, den Andreas Mytze jetzt in seiner Zeitschrift europäische ideen zu Gerhards Tod veröffentlicht hat, ein weit ausgreifender Brief, da haben Sie die ganze Philosophie sowohl von Gerhard wie auch von Harich.

Manchmal haben die DDR-Funktionäre im Umgang mit Künstlern Fehler gemacht, die einem heute noch die Schuhe ausziehen. Wegen dieser Methoden hat Ernst Busch mitunter so furchtbare Wutanfälle gekriegt, daß ihn seine Familie nach Buch zu Professor Baumann und meiner Freundin Hannelore gebracht hat. Sie war lange mit Professor Baumann verheiratet, der eine große Klinik in Berlin-Buch leitete, wo sich viele Prominente behandeln ließen. Wie zum Beispiel Stefan Heym, der dort den 17. Juni-Roman Collin geschrieben hat. Er hatte sich ins Krankenhaus einweisen lassen, um den Schauplatz des Romans, der in einem Krankenzimmer spielt, präsent zu haben. Da hat er dann mit viel Ruhe an dem Buch arbeiten können.

Auch Ernst Busch ist dort Patient gewesen, der x-mal mit der SED-Leitung zusammengerasselt ist. Dann hieß es immer, Ernst Busch hat Herzbeschwerden und muß sich ein bißchen runterdimmen. Danach konnte er es wieder eine Weile mit den Funktionären aushalten. Aber der Roman Collin ist des Wiederlesens wert. Überhaupt war die DDR-Führung bei Stefan Heym sehr vorsichtig. Mit ihm sind sie nicht so unmenschlich verfahren wie zum Beispiel mit dem armen Walter Janka.

Als er endlich in den Westen reisen durfte, hatten wir vom Schriftstellerverband aus in der Paulskirche eine große Veranstaltung organisiert. Gerhard und Janka kannten sich von der DDR her. Ich sehe noch, wie Janka, der ein attraktiver, großgewachsener Mann war, auf Gerhard zuging, ihn in den Arm nahm und zu ihm sagte: "War ich froh damals, daß du nicht mehr in der DDR lebtest. Du hättest die Haft nicht überlebt." Sie haben Janka - da packt mich heute noch der Zorn - tatsächlich in einem eiskalten Winter mit einer dünnen Decke auf einen Strohsack in eine ungeheizte Zelle gelegt. Ein anderer hätte das nicht überlebt, geschweige denn Gerhard mit nur einer halben Lunge. Aber Janka hatte in Spanien den Bürgerkrieg hinter sich gebracht und war in Mexiko im Exil gewesen. Das hat ihn hart gemacht.


Ingrid und Gerhard Zwerenz beim Signieren ihres Buches - Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Bei einer Lesung von "Sklavensprache und Revolte"
Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

SB: Sie und Ihr Mann sind ihr Leben lang für den Pazifismus eingetreten, nicht zuletzt aus eigener leidvoller Erfahrung. Würden Sie das heute noch für eine vertretbare Position halten?

IZ: In dem Zusammenhang fällt mir ein wichtiger Satz von Bloch ein: Es gibt auch eine "Gewalt des Guten." Man muß sich gegen das Böse verteidigen können, und das geht mitunter nicht mit friedlichen Mitteln. Ich hebe gar nicht einmal auf die idiotischen Prüfungen von früher bei der Kriegsdienstverweigerung ab, wo man gefragt wurde: Wenn Sie mit Ihrer Freundin bei einem Waldspaziergang von einem Russen mit Kalaschnikow bedroht werden und der zuerst Ihre Freundin vergewaltigen und danach erschießen will, was würden Sie dann tun?

Das ist mal wieder ein typisches Exempel - der Russe als Sexualverbrecher und Mörder - dabei haben auch die westlichen Alliierten vergewaltigt. Vor wenigen Jahren brachte eine deutsche Autorin eine Dokumentation über diese Fälle heraus, Titel und Namen habe ich nicht parat, kann sie aber finden.

Gegen eine aggressive Organisation wie den Islamischen Staat wäre es wahrscheinlich unverantwortlich, an einer pazifistischen Position festzuhalten. Ich war sehr enttäuscht darüber, wie sich die Jugenderziehung in der DDR von unserem Standpunkt des absoluten Pazifismus mehr und mehr entfernt hat, aber angesichts der immer weiter aufrüstenden NATO war diese Entwicklung zum Teil wohl unvermeidlich. Daß Putin es jetzt übertreibt, ist eine andere Geschichte, die Sache mit der Krim kann ich noch am ehesten nachvollziehen, weil die Ukrainer sich wirklich wie die Axt im Walde benehmen. Dieser Hetzer und Schokoladenfabrikant Poroschenko hätte bei seiner Süßwaren-Produktion bleiben sollen.

Ich kann zu Ihrer Frage weder ja noch nein sagen, ich bin sehr im Zweifel. All das ist ja erst in den letzten Lebenswochen vom Gerhard so eskaliert. Wir haben zwar immer wieder darüber gesprochen, aber er konnte sich da schon nicht mehr längere Zeit auf ein Thema fokussieren, und dann merkte ich auch, wie es ihn ermüdete, immer wieder zu rekapitulieren, worüber er schon so oft geschrieben hatte.

Der Anschlag in Paris gegen die Satiriker von Charlie Hebdo und überhaupt der Überfall auf das Konzert im Bataclan haben mich sehr mitgenommen. Ich kam an diesem 13. November 2015 sehr getröstet von der Gedenkfeier für Gerhard im Bundestag zurück und war spät abends noch bei meiner Freundin Hanna, als es im Fernsehen die ersten Bilder vom Attentat auf die Musikveranstaltung gab. Das war für mich ein tiefer Sturz, auch all der guten Vorsätze und Prinzipien. Wie froh wäre man gewesen, wenn die Täter vor dem Einlaß entwaffnet worden wären.

SB: Sie beide galten und gelten ja immer noch als scharfe Kritiker in jede Richtung, auch in die linke. Würden Sie sagen, daß die Linke heute in einer besonderen Krise steckt, oder ist die Krise ein Dauerbegleiter der Linken?

IZ: Leider ein Dauerbegleiter. Wie oft ist Gerhard gerade im Poetenladen auf das Bild zurückgekommen, daß es unter Linken lauter Generäle, aber keine Soldaten gibt. Das hat uns auch bei den großen Versammlungen häufig wahnsinnig gemacht, die nahezu unerträglichen Quatschköpfe, die ihre Litanei heruntergeredet haben, aber auf Einwände nicht reagierten. Es gab mehr Anlaß zur Kritik als zur reinen Freude. Gregor Gysi einmal ausgenommen, obwohl Gerhard mit ihm mitunter auch die eine oder andere kleine Auseinandersetzung gehabt hat. Selbst nach dem Gedonner in der obersten Leitung der Linken ist Gysi unersetzlich geblieben. Daß er, der wirklich jeden Tag bis zur letzten Minute gefordert war in den nun fast schon 26 Jahren seit der sogenannten Wiedervereinigung, es nicht ein einziges Mal vergessen hat, Gerhard zum Geburtstag zu gratulieren, finde ich bei einem ständig derart überforderten Mann schon erstaunlich. An Gerhards Todestag war Gysi mit seinen Kindern in Norwegen, doch als er davon hörte, hat er sofort hier angerufen. Er hat mir auch einen Teil der Freundschaft für Gerhard zukommen lassen. Wir sind uns schon in Bonn ein paar Mal begegnet und standen auf fröhlichem Neckfuß. Wenn ich heute Rat brauche, kann ich mich jederzeit an Gregor wenden.


Ingrid Zwerenz mit Katze auf dem Arm - Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Auch Sahra Wagenknecht hat eine bemerkenswerte Entwicklung genommen. Ihre Rede neulich im Bundestag war rasant, allerdings nicht ihre Kritik an Merkel. Ich habe eine Menge gegen die Bundeskanzlerin einzuwenden, aber daß Sahra nun noch an ihrem einzigen vernünftigen Satz - "Wir schaffen das" - geschraubt hat, war zumindest ungeschickt formuliert, was gar nicht zu ihr paßt. Nachdem man ihr auf dem Parteitag eine Schokoladentorte ins Gesicht geworfen hat, hat sie danach eine glänzende Rede gehalten, zum großen Teil frei, und das nach dem Schock, und da war sofort ein solidarischer Ring um sie; aber das möchte man ja auch verlangen.

Kurz nach der Wende hat Gerhard in Zerbst zusammen mit Frau Wagenknecht einen Vortrag gehalten. Dabei fiel Gerhard auf, daß in der ersten Reihe zwei ältere Herren saßen, die an seinen Lippen hingen. Danach sind sie zu ihm gekommen und haben gesagt: Wir waren damals bei Ihnen in der Ingenieursschule, und Sie haben uns eine ganz richtige Form des Marxismus gelehrt. Darüber hat sich Gerhard wahnsinnig gefreut. Einer war Direktor eines Volkseigenen Betriebes geworden, und der andere auch etwas Nützliches - jedenfalls zwei Glückliche. Sahra sind bei dem Treffen der drei Herren fast die Augen aus dem Kopf gefallen.

Inzwischen hat sie sich sehr zu ihrem Vorteil verändert. Ich habe bei einer Kundgebung, auf der sie sprechen mußte, einmal ungefähr zwei Stunden neben ihr gestanden, eine ungemein sensible, aufmerksame und zugängliche Person. Sie und Gerhard haben diese Lesereise gemacht, und auf der Fahrt hat Gerhard nach und nach die ärgsten Thesen bei ihr geglättet. Zuerst war sie beinah eine Stalin-Anhängerin und ohne die geringste Kritik gegenüber der DDR. Aber das hat sich dann gebessert. Gerhard hat ihr auf der Lesereise damals geraten, Ökonomie zu studieren, das wurde von ihr beherzigt. Inzwischen ist es bewundernswert, was diese Frau an Fakten und Zahlen parat hat. Selbst ihre ärgsten Feinde können ihr keine Fehler in ihren Berechnungen ankreiden.

SB: Ich habe sie im diesjährigen ZDF-Sommerinterview im Vergleich zu ihren sonstigen Reden als recht unsicher erlebt. Der Journalist Thomas Walde insistierte darin auf impertinente und dümmliche Weise darauf, daß sie doch eine Zahl nennen möge, wieviele Flüchtlinge akzeptabel seien. Da hat sie sich, auch wenn die Frage unbeantwortet blieb, nicht angemessen zur Wehr gesetzt.


Gerhard Zwerenz mit seinem Chow-Chow - Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Zu Hause mit Lord Billy
Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

IZ: Daran erinnere ich mich jetzt nicht. Das ZDF war ja früher eher schwarz wie die Nacht. Gerhard hatte 1988 zusammen mit den Produzenten Klaus Werner und Uschi Madeisky fürs Zweite Deutsche Fernsehen einen Film gedreht, der zuerst Von der Freßgaß zum Feldberg hieß. Darin hat er seinem Chow-Chow Lord Billy Frankfurt erklärt. Damals gab es eine fantastische Taxi-Chauffeurin, die Tigerlili genannt wurde, eine hochblondierte, gut gewachsene, damals schon etwas ältere Frau, großartige Mainmetropolen-Kennerin, die ihr Taxi innen mit Tiger- und Leopard-Stoffen dekoriert hatte. Sie hat Gerhard und Billy durch die Stadt gefahren und Gerhard mußte also dem Chow-Chow, der mit gespitzten Ohren lauschte, alles erklären - die Rasse hat ja so kleine, süße, zierliche Öhrchen - und er hat seinem Gerhard jedes Wort von den Lippen abgelesen. Natürlich versäumte es Gerhard nicht, bei der Stadttour an Fritz Bauer und verschiedene andere wichtige Männer und Frauen zu erinnern.

Als der Film gesendet wurde, war der inzwischen pensionierte Klaus Bresser noch Intendant beim ZDF. Wir kannten ihn aus seiner Frühzeit in Köln, da hatte er seine ersten Fernsehsendungen geliefert. Gerhard und ich besaßen da noch gar kein TV-Gerät, und interessierten uns nicht sehr dafür, doch Hans Hermann Köper, der die Texte in Twen betreute, war ein Medienprofi und litt wie ein Tier, wenn Klaus Bresser seine ersten Übungen auf der Mattscheibe absolvierte. Nun soll man nicht ungerecht sein, wenn einer eben erst die Feuertaufe erlebt hat vor Kamera und Mikrofon. Immerhin hat sich Bresser dann berappelt und brachte es später zum ZDF-Intendanten. Der Herr echauffierte sich 1988 ganz fürchterlich über den Frankfurt-Film, schimpfte wie eine ganze Rohrspatzenschar wegen der politischen und historischen Anmerkungen in Gerhards Filmkommentar.

Teil 3 des Gespräches mit Ingrid Zwerenz über Diskurse und Begegnungen folgt.


Anmerkungen:

[1] Mehr zur Namensweihe und den vorangegangenen Turbulenzen siehe unter
http://www.freiepresse.de/LOKALES/ZWICKAU/WERDAU/Ehrung-fuer-einen-Querdenker-artikel9627983.php

[2] Als Erstveröffentlichug im Schattenblick mit freundlicher Genehmigung von Ingrid Zwerenz zu lesen unter:
http://www.schattenblick.de/infopool/redaktio/rrzl0004.html
ZEITZEUGEN LINKS/004: Quergedacht und schwergemacht - Mein Nachruf, Gerhard Zwerenz (Gerhard Zwerenz)


6. Oktober 2016


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