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ZEITZEUGEN LINKS/011: Treu geblieben - Schicksalsbegegnung ...    Rolf Becker im Gespräch (SB)


Grafik: copy; 2016 by Schattenblick


Heinrich Böll und die Konfrontation mit der Springer-Presse

Gespräch mit Rolf Becker am 18. Oktober 2016 in Hamburg-St. Georg - Teil 5

Wir erfahren im fünften Teil des Gesprächs zunächst, wie Rolf Becker begann, die Arbeitskämpfe bei den Bremer Klöckner-Stahlwerken zu unterstützen, dabei an politischen Auseinandersetzungen teilzunehmen und sich im gewerkschaftlichen Bereich einzubringen. Dann schildert er seine Begegnung mit Heinrich Böll, ihre gemeinsamen Diskussionen und insbesondere die Erfahrungen mit der damaligen Einschränkung der Pressefreiheit, die der Schriftsteller später in der Erzählung "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" verarbeitete. Auch wie es schließlich zur Entfremdung von Böll kam, bleibt nicht unerwähnt.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Rolf Becker
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick: Auf den Aufbruch Ende der 60er Jahre folgte wenig später die Restauration repressiver Verhältnisse. In "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" von 1975 klingt bereits der deutsche Herbst an. Wie hast du diese Zeit erlebt, in der die Hoffnung auf eine Veränderung zusehends ins Gegenteil verkehrt wurde?

Rolf Becker: Um auf diese Frage eingehen zu können, muss ich noch einmal auf die Zeit der Schülerunruhen in Bremen zurückkommen. Aus den Diskussionen mit Unterstützern der Proteste hatten sich Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen anderer Gewerkschaften ergeben, in der IG Metall zu betrieblichen Vertretern - Vertrauensleuten und Betriebsräten - der damals etwa 6000 Beschäftigten der Klöckner-Stahlwerke. Im Betrieb entwickelte sich eine breite Opposition, die 1969 zum Träger der Septemberstreiks wurde, ausgelöst durch Rationalisierungsmaßnahmen mit der Folge von Lohnminderungen und Kürzung innerbetrieblicher Lohnzulagen.

Besonderen Einfluss innerhalb der IG Metall bei Klöckner hatte neben SPD und DKP die Gruppe Arbeiterpolitik mit dem "Mitmischer" als Betriebszeitung. Mit diesen Kolleginnen und Kollegen kam ich damals in Kontakt. Die Älteren unter ihnen kamen aus der Arbeiterbewegung der Weimarer Zeit und aus dem Widerstand gegen den Faschismus des 3. Reiches, einige hatten noch dem Spartakus-Bund angehört. Die Erfahrungen, die sie weitergaben, waren für mich eine wesentliche Voraussetzung, Geschichte und Gegenwart besser zu verstehen. Ich begann Marx, Engels und andere Autoren der Arbeiterbewegung systematisch, zugleich kritisch zu lesen, mir ein theoretisches Fundament zu erarbeiten. Und lernte zugleich, wie notwendig es ist, wenn irgend möglich "vor Ort" zu gehen, mich unterstützend zu beteiligen an Arbeitskämpfen, teilzunehmen an politischen Auseinandersetzungen, mich einzubringen im gewerkschaftlichen Bereich. Vor-Ort-sein führt nicht nur zur engeren Verbindung mit den an Protest und Widerstand Beteiligten, sondern auch zum kritischen Wahrnehmen der Berichterstattung in den Medien. Dazu später mehr.

Heinrich Böll lernte ich 1969 in Berlin kennen, als wir sein "Nicht nur zur Weihnachtszeit" fürs Fernsehen drehten. Die Drehzeit war während der Wochen, in denen die Studentenunruhen polizeilich niedergeknüppelt wurden. Erst drehen, dann demonstrieren, vor allem am Wochenende, gelegentliche Prügel gingen glücklicherweise ohne Gesichtsverletzungen ab.

Abends haben Gerd Baltus und ich uns gelegentlich mit Böll getroffen, um über das, was sich auf den Straßen Westberlins abspielte, zu diskutieren. Leider lehnte er ab, als wir ihn aufforderten, mit uns auf die nächste Demo zu gehen, ebenso unseren Vorschlag, ihm einen Balkon am Kudamm zu vermitteln, damit er von dort aus sehen könne, was - anders als von den Medien berichtet - wirklich läuft: "Um Gottes willen, nein", winkte er ab, er müsse das nicht sehen, ihm reiche, was wir ihm berichteten. Aber die Rolle der Presse wurde für Böll zum Thema, einerseits wegen der einseitigen Berichterstattung, zum anderen, weil es zu den Auseinandersetzungen bei Springer kam. Das Springer-Hochhaus, direkt an der Mauer zwischen Ost und West, wertete er als üble Provokation gegen die DDR. Die Blockaden der Springer-Presse wurden mit Tränengas und Schlagstöcken aufgelöst, damit die Bild-Zeitung wieder ausgeliefert werden konnte.

Böll wurde Zeuge einer Auseinandersetzung, die Baltus und ich mit der SPD-nahen Zeitung "Telegraf" führen mussten. Zusammen mit ihm hatten wir an einer Diskussion im Berliner ZDF-Studio teilgenommen, in der es eigentlich um die Fernsehfassung seiner Novelle "Nicht nur zur Weihnachtszeit" gehen sollte. Es kam anders: Böll erklärte, statt über solch belanglose Dinge zu reden sollte das ZDF - wörtlich - "die kriminelle Berichterstattung" West-Berliner Zeitungen über die Straßenschlachten der Polizei gegen die demonstrierenden Schüler und Studenten zum Thema machen. Baltus und ich ergänzten, es sei - wieder wörtlich zitiert - "unmöglich, in der sogenannten freien Presse einen Bericht über Zustandekommen und Verlauf der Demonstration vom 1.8 (1969) unterzubringen, in dem sich die Meinung des Schreibenden unverfälscht und unter Berücksichtigung der ihm bekannten Tatsachen formuliert." Angebot der Telegraf-Redaktion daraufhin, uns stünden für die nächste Ausgabe 75 Zeilen zur Verfügung, um unsere Meinung unzensiert und unverfälscht zu äußern. Wir lieferten den Artikel. Ergebnis: es wurde zensiert und verfälscht, bis es uns schließlich nach vergeblichen Gesprächen gelang, den von der Redaktion verstümmelten Artikel nach Androhung einer Einstweiligen Verfügung zurückzuziehen. Telegraf-Chefredakteur Scholz damals dazu: "Ist das wirklich etwas Besonderes? In vielen Zeitungen und Zeitschriften ist dies seit langen Jahren ein ungeschriebenes Gesetz."

Dass Heinrich Böll seine Wahrnehmungen in Form einer Erzählung aufarbeiten würde, hat er damals nicht erwähnt. Das kam für mich einige Jahre später überraschend mit der Anfrage von Volker Schlöndorff [1], ob ich den Staatsanwalt in seiner Verfilmung der "Katharina Blum" spielen wolle - gedreht 1974.

Ein wesentlicher Diskussionspunkt war damals der Schah-Besuch. Beim ersten Schah-Besuch in Berlin war ja Benno Ohnesorg erschossen worden, und nun stand der Gegenbesuch von Gustav Heinemann [2] in Teheran an. Wir wussten, dass Böll mit Heinemann befreundet war, und haben ihn gefragt: Wie kann Heinemann da hinfahren, nach dem, was sich hier in Berlin ereignet hat! Ergebnis: Heinemann sagte, nachdem Böll mit ihm gesprochen hatte, den Staatsbesuch wegen einer Augenoperation ab. Ob die zu dem Zeitpunkt schon erforderlich war oder auch später möglich gewesen wäre - egal, auf jeden Fall hat Heinemann den Schah nie besucht. Böll hatte zwar angedeutet, dass er mit Heinemann darüber sprechen würde, uns aber danach nichts darüber erzählt.

Später kam es zu einer Entwicklung, die zur Entfremdung mit Böll führte. Böll hatte Solschenizyn [3] bei sich aufgenommen. Seine Erklärung dafür konnte ich noch nachvollziehen: "Bei mir ist jeder Flüchtling willkommen, egal ob er aus einem kommunistischen Land kommt oder als Kommunist aus einem nichtkommunistischen Land. Wenn Alexander Solschenizyn kommt, dann erhält er bei uns Tee, Brot und Bett." Zu Differenzen kam es, als er mit dem Hinweis auf den Archipel Gulag und die Leiden der Bevölkerung in der Sowjetunion Positionen der Medien übernahm, von denen er sich bis dahin distanziert hatte. Meinen Einwand, ich könne zwar verstehen, dass er einem Menschen helfe, aber er müsse sich deswegen doch nicht politisch in seinem Sinne positionieren, blockte er ab: "Ich habe mich so entschieden!" Danach kam es zu keinem Gespräch mehr.

Bölls Erzählung finde ich letzten Endes besser als den Film, weil die Katharina Blum darin nicht heroisiert wird. So grandios Angela Winkler [4] war, mir liegt Bölls Vorlage näher, weil er darin konsequent aufzeigt, was die Springer-Presse damals angerichtet hat, und Fragen aufwirft, denen wir uns heute weit mehr stellen müssen. Die Redaktionen, ob Süddeutsche Zeitung, FAZ oder Springer-Presse, auch die TV-Sender wirken wie austauschbar. Diese nicht verordnete Gleichschaltung hätten wir angesichts der damaligen Presselandschaft, die sich durch vielfache Widersprüche zwischen den Redaktionen und innerhalb der Redaktionen auszeichnete, nicht für möglich gehalten.

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] Volker Schlöndorff (geb. 1939) ist ein deutscher Filmregisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent, der vor allem für seine Literaturverfilmungen bekannt ist.

[2] Gustav Heinemann (1899-1976) war ein deutscher Politiker und von 1969 bis 1974 der dritte Bundespräsident der Bundesrepublik.

[3] Alexander Solschenizyn (1918-2008) war ein russischer Schriftsteller und Dramatiker. Er erhielt 1970 den Nobelpreis für Literatur. Sein Hauptwerk "Der Archipel Gulag" beschreibt die Verbannung und Ermordung von Millionen Menschen im Gulag unter Stalin.

[4] Angela Winkler (geb. 1944) ist eine deutsche Schauspielerin. "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" von Volker Schlöndorff nach der gleichnamigen Erzählung von Heinrich Böll machte sie 1975 bei Kritik und Publikum zum Star.

8. März 2017


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