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ZEITZEUGEN LINKS/025: Treu geblieben - genozide Verbrechen mit eigenen Augen gesehen ...    Rolf Becker im Gespräch (SB)


Grafik: copy; 2016 by Schattenblick


Gespräch mit Rolf Becker am 18. Oktober 2016 in Hamburg-St. Georg - Teil 16

Rolf Becker berichtet im 16. Teil des Gesprächs, den er als Nachtrag eingefügt hat, von seiner Reise ins umkämpfte Diyarbakir im Januar 2016. Er kontrastiert die Greuel, deren Zeuge er dort geworden ist, mit der Propaganda des Erdogan-Regimes, aber auch der Bundesregierung.


Am Rednerpult - Foto: © 2017 by Schattenblick

Rolf Becker begrüßt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kongresses "Die kapitalistische Moderne herausfordern III" (14.-16. April 2017) im Audimax der Universität Hamburg
Foto: © 2017 by Schattenblick


Ob Interviews, Biografien oder gesammelte Werke, unvollständig und unzulänglich gemessen am Erlebten - wir äußern uns und schreiben trotzdem. Vor wenigen Tagen habe ich die Nachschrift des Tonbandprotokolls von Nicolas Born vorgelesen, sein "letztes Stück Literatur", aufgenommen von ihm, als er sich, vom Tod schon gezeichnet, zum Schreiben nicht mehr in der Lage sah. "Nur leben", sagt er da, "das Leben ist es, nicht das Essen, das Trinken, die Erfolge, die sexuellen Vergnügungen, die Freundschaften, die gesellschaftlichen Ereignisse, der Sinngenuss an der Kunst, und an der Natur (...) Eigenartig: ich stelle es mir dennoch strahlend vor, dieses Weiterleben-dürfen, -können und gar nicht arm ohne diese Ausübung der Leidenschaften. Ein Leichtes sogar, ein leichtes, richtiges, gutes Arbeitsleben." Hier folgt bei Born eine entscheidende Einschränkung: "Ohne Arbeit allerdings, ohne weiter schreiben zu können, könnte ich es mir nicht vorstellen."

Um das Letztzitierte geht es auch mir: weniger als Born allerdings ums Schreiben, mehr ums Arbeiten, Arbeit über die für alle geltende ökonomische Notwendigkeit hinaus, zusätzliche, auf die Gesellschaft bezogene Arbeit, die wir uns aufgrund von Erlebtem, Wahrgenommenem abverlangen oder uns durch andere abverlangt wird: konkreter Ausdruck menschlichen Miteinanders auf unterschiedlichsten Gebieten. Für mich, wie bereits in den bisherigen Folgen unserer Gespräche dargelegt, schwerpunktmäßig im sozialen, gesellschaftspolitischen Bereich. Beispiel: eine Reise nach Diyarbakir im Januar 2016, im Interview bislang unerwähnt.

1987 hatte ich im Hamburger Hafenkrankenhaus einen Kurden kennengelernt, Hatip. Wir waren aus unterschiedlichen Gründen für mehrere Wochen Patienten der Quarantänestation. Er war mir aufgefallen, weil er stundenlang auf einem Brettspiel gegen sich selbst spielte, Hatip weiß gegen Hatip schwarz. Bald spielten wir gegeneinander, zunächst, ohne uns sprachlich verständigen zu können. Bald schon änderte sich das, vor allem unter dem Druck seines Anerkennungsverfahrens als politisch Verfolgter aufgrund seiner Kontakte zur PKK. Vierjährigen Prozessen und dem letztinstanzlichen Verfahren im März 1991 vorm Bayrischen Verwaltungsgericht in Ansbach folgte ein Jahr illegalen Aufenthaltes in der BRD, 1992 schließlich die Flucht nach Holland, wo er bereits ein Jahr später das von den deutschen Behörden verweigerte Aufenthaltsrecht erhielt. Die freundschaftliche Verbindung zu unserer Familie und Hamburger Freunden blieb bis zu seinem Tod 2007.

Das gemeinsame Brettspiel im Krankenhaus hatte Folgen: Auseinandersetzung an der Seite des Schutzsuchenden mit Behörden, Teilnahme an Prozessen, Kontakte zu deutsch-kurdischen Organisationen, Teilnahme an Veranstaltungen zur Kurdenfrage und schließlich, wie sich anlässlich geplanter Dreharbeiten herausstellte, mehrjähriges Einreiseverbot für mich in die Türkei (nicht nur die Hüter der deutschen Verfassung sind aufmerksam) - lauter Anlässe, mich noch weiter in das Problemfeld einzuarbeiten.

Im Januar 2016 dann, als nach Abbruch aller Verhandlungen, vielfach auch als Friedengespräche bezeichnet, der Krieg gegen die PKK und die sie Unterstützenden von der türkischen Erdogan-Regierung wieder aufgenommen worden war, erreichte mich die Anfrage, ob ich bereit sei, mit Jan van Aken, begleitet vom Dokumentar-Filmer Michael Enger, Kameramann Uwe Ahlborn und Dolmetscher Ereb Elik für einige Tage nach Diyarbakir zu fahren.

Die Wahrnehmungen in Sûr, der von der türkischen Armee belagerten Altstadt von Diyarbakir, kurdisch Amed, bestätigen die uns vorliegenden - einer breiteren Öffentlichkeit, auch im gewerkschaftlichen und betrieblichen Bereich allerdings nur unzureichend bekannten - Informationen. Wir waren innerhalb der antiken Mauern am Rande der belagerten Stadtteile untergebracht. Seit über einem Monat herrschte in den belagerten Vierteln wie vielerorts Ausgangssperre.

Aus meinen Anmerkungen nach der Reise (veröffentlicht in der "Arbeiterpolitik" vom 1. Mai 2016): Nachts gelegentlich einzelne Schüsse, beantwortet von Schnellfeuerwaffen und Granatwerfern. Bereits ein erster Rundgang vermittelte die völlige Abriegelung der gesamten Altstadt durch hochgerüstetes Militär (Panzer, gepanzerte Fahrzeuge, Wasserwerfer), Polizei und bewaffnete Nichtuniformierte, teilweise vermummt - wie Bewohner erklären, Angehörige der staatlichen Sondereinheiten "Esedullah Timleri, über denen ein Schatten des Geheimnisvollen liegt. Sie dringen in die Häuser ein, zerstören, töten", unter den Tätern auch "Personen, die mit dem "Islamischen Staat" in Verbindung gebracht würden" (FAZ, 18.12.2015). Kampfhubschrauber vervollständigten den Aufmarsch.

Die umkämpften Viertel waren während der dreimonatigen Kämpfe von jeglicher Versorgung abgeschnitten, ohne Wasser (und damit ohne Abwasserentsorgung), ohne Strom und ohne Kontaktmöglichkeiten nach außen. Medizinische Hilfe für die Eingeschlossenen wurde unter Schusswaffeneinsatz verhindert. Auf einer Mahnwache, im Freien außerhalb der Stadtmauer, berieten Ärzte und Sanitäter auf welchen Wegen trotzdem Hilfe möglich sei und wie Leichname, die seit Tagen, angefressen von Hunden, in der Nähe der Moschee lägen, geborgen werden könnten. Hungerstreikende Mütter harrten schon seit Wochen in einem Saal aus, an dessen Wänden sie Bilder von Kindern und Jugendlichen angebracht hatten - einige hielten die Abbildungen auch in ihren Händen: unsere Annahme, es gehe um die Freilassung dieser Kinder und Jugendlichen, erwies sich als falsch, es ging um die Herausgabe ihrer Leichname. Hintergrund: Opfer der Militäraktionen werden von offiziellen Stellen oder regierungshörigen Medien in der Türkei fast ausnahmslos als Terroristen oder getötete PKK-Kämpfer bezeichnet - entsprechend lässt man sie verschwinden. "Diese Mütter werden ihre toten Kinder nicht wiedersehen", wurde uns erklärt. Familien, die in den angegriffenen Zonen verblieben waren, durften den einzigen Zugang an einem Kontrollpunkt nur mit so viel Lebensmitteln passieren, wie von den Belagerern abschätzbar für den nächsten Tag benötigt wurden - das Aushungern der Sûr Verteidigenden war offenbar Teil des taktischen Vorgehens der türkischen Militärführung. Viele Bewohner der Altstadt waren auf der Flucht, wenige hundert Meter von der Kampfzone entfernt wurden - auffallend unbehelligt vom Militär - LKWs mit dem Hab und Gut Flüchtender beladen.

Das Begehen von Teilen der Altstadt wäre uns ohne Begleitung eines HDP-Abgeordneten und einiger Bewohner nicht möglich gewesen - dank ihrer Unterstützung gelangten wir nach vorangegangener Leibesvisitation durch Militärs bis in die Gazi Caddesi, die Hauptstraße von Sûr, und damit in die Nähe der Kampfzone, ständig begleitet von Bewaffneten der Sondereinheiten. Waren die zuvor begangenen Straßen zwar durch Einschläge von Maschinengewehrsalven und Granatwerfern gezeichnet, standen wir jetzt vor Ruinen als Folge des Beschusses mit Panzern, Mörsern und Kampfhubschraubern auf Häuser, in denen die Armee kurdische Militante vermutete, die schmalen Gassen durch Sprengungen teilweise zu Schneisen zum Durchfahren mit gepanzerten Fahrzeugen erweitert, Sandsackbarrikaden, Absperrungen, etliche Baudenkmäler der zum Weltkulturerbe gehörenden Altstadt beschädigt oder in Trümmern.

In Sûr mit seinen 50-60.000 Einwohnern in der anderthalb Millionenstadt Diyarbakir "hausen die Ärmsten - überwiegend die Familien, die in die Städte gespült worden sind, als ihre Dörfer in früheren Jahrzehnten niedergebrannt wurden" (FAZ, 18.12.2015) - gemeint: in den 1990er Jahren, als die türkische Armee die PKK auszuschalten versuchte; die verwüsteten Dörfer ihrer früheren Heimat sind seitdem entleert. Etwa die Hälfte dieser Familien waren jetzt wieder auf der Flucht.

Den Kampf aufgenommen hatten überwiegend Jugendliche, deren Väter und Angehörige bei damaligen Kämpfen in großer Zahl ums Leben kamen, Jugendliche, vielfach ohne Aussicht auf Arbeit, ohne Perspektive für ihr künftiges Leben, organisiert in der Untergrundbewegung der "Patriotischen revolutionären Jugend" (YDG-H) und deren Frauenguerilla-Abteilung YPS-Jin. Ihre Organisation, bereits vor Jahren in Diyarbakir legal gegründet, hatte sich im Juli 2015 gespalten, als der türkische Staat erneut gegen die PKK vorzugehen begann. Ein Teil arbeitete seitdem als "Demokratische Jugend" (Dem Genc) vorerst legal weiter, die YDG-H dagegen war in den Untergrund abgetaucht, hatte, unterstützt von den "Zivilen Verteidigungseinheiten" (YPS), den bewaffneten Kampf gegen die staatlichen Sicherheitskräfte aufgenommen. Die PKK war, wie uns auch von Journalisten zweier Sendeanstalten, HDP-Abgeordneten und von Menschen in Sûr versichert wurde, nicht an den Kämpfen in Sûr und anderen Städten in Bakûr, dem Südosten der Türkei, beteiligt, ihre Einheiten seien, wie auch bürgerliche Medien hierzulande bestätigten, größtenteils noch in den von der türkischen Luftwaffe bombardierten Kandil-Bergen des Irak geblieben.

Den nur wenige Dutzend Kämpfenden auf kurdischer Seite, meist Jugendlichen - die uns genannten Zahlen bewegten sich zwischen 50 und 200 - gelang es, die eingeschlossenen Stadtteile monatelang gegen die zahlenmäßig und technisch weit überlegenen türkischen Streitkräfte, die unerwartet hohe Verluste erlitten, zu verteidigen. Sie konnten dabei die verschachtelte Architektur der Altstadt mit ihren schmalen, verwinkelten Gassen ausnutzen, sich zudem durch das Aufbrechen der Wände von Haus zu Haus nicht einsehbare Durchgänge verschaffen. Entscheidend für die Dauer ihres Widerstands war aber der Rückhalt seitens der Mehrheit der kurdischen Bevölkerung, der es, begünstigt durch Ortskenntnisse, offenbar gelang, die Eingeschlossenen trotz der Einkesselung durch die türkischen Truppen notdürftig mit Nahrung und Trinkwasser, möglicherweise sogar mit Waffen und Munition zu versorgen.

Kaum einer der Kämpfenden wird in Sûr überlebt haben. Flucht aus dem Belagerungsring war so gut wie ausgeschlossen. Aufgabe angesichts drohender Folter und Exekution kaum denkbar. Und was in Sûr geschah, ereignete sich in vergleichbarer Weise in Cizre, Silopi, Sirnak, Nusaybin und weiteren Orten.

Der Zerstörung des Herzens der kurdischen Metropole Diyarbakir und anderer Städte der kurdischen Teile des Landes folgt ein Konzept des Wiederaufbaus, das auf Vertreibung der bisherigen Bewohner angelegt ist: etwa 80 Prozent von Sûr (über 6000 Grundstücke, eine Fläche von über 180 Hektar) wurden beschlagnahmt, werden mit verbreiterten Straßen zur Durchfahrt von Militärfahrzeugen und damit Erleichterung der Kontrolle versehen, anstelle der kurdischen Bevölkerung sollen Basaris (Geschäftsleute, die, ob Türken oder Kurden, wegen ihrer ökonomischen Interessen meist auf Seiten der Regierung stehen), Türken oder aus Syrien geflüchtete Sunniten unter Aufsicht der staatlichen Wohnungsbaubehörde TOKI in den Neubauten angesiedelt werden. "Neue Lebensräume müssen geschaffen werden", so die an die Medien gerichtete Umschreibung der AKP-Ministerin für Umwelt und Stadtplanung, Fatma Güldemet Sari. Die Regierung Erdogans geht davon aus, dass der kurdische Widerstand allein militärisch nicht gebrochen werden kann, sondern nur, wenn auch die traditionellen sozialen und kulturellen Zusammenhänge staatlicher Aufsicht unterworfen werden. Ercan Ayboga, Mitglied der Stadtverwaltung in Diyarbakir: "Der türkische Staat will nicht nur den Aufstand niederschlagen, sondern ihm die Basis nehmen, die demografische Struktur in Städten ändern." (ND, 17.04.2016) Einer Erklärung des türkischen Gesundheitsministeriums nach waren bis Ende Februar 2016 bereits über 350.000 Menschen gezwungen, ihre Wohnorte zu verlassen. Ihre Zahl dürfte sich seitdem erheblich erhöht haben.

"Was bis 1996 als Aufstand der kurdischen Bevölkerung gegen die türkische Staatsmacht, als Kampf um einen eigenen Staat gesehen werden musste, hat sich nun in einen Verteidigungs- und Überlebenskampf gewandelt. Weder die PKK noch die kurdische Bevölkerung führen Krieg, sondern der türkische Staat, und zwar in Form eines offenen Terrorfeldzuges. Staatschef Erdogan und Ministerpräsident Davutoglu sprechen offen von 'säubern' und 'auslöschen'." Norman Paech, 19.01.2016)

Anlass für Erdogan und seine AKP-Regierung, den Dialog mit den Kurden abzubrechen und ihre militärische Bekämpfung wiederaufzunehmen, war zum einen seine Weigerung, das Wahlergebnis vom 7. Juni 2015 zu akzeptieren. Die AKP hatte ihre absolute Mehrheit verloren - sein politisches Ziel, als Regierungsform der Türkei eine Präsidialdemokratie durchzusetzen, war gescheitert. Mit dem unerwarteten Wahlerfolg von mehr als 10 Prozent der überwiegend von kurdischen Wählern getragenen HDP (Halklarin Demokratik Partisi - Demokratische Partei der Völker), die damit die Sperrklausel übersprungen hatte, war die für eine Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit dahin. Erst mit der von 2019 auf den 1. November 2015 vorgezogenen Wahl, vor der es zu schweren Ausschreitungen gegen Abgeordnete und Zerstörungen von Parteibüros der HDP gekommen war, deren Mitgliedern Erdogan Unterstützung der PKK-Terroristen vorwarf, gelang es, das Wahlergebnis im Sinne des Staatschefs zu korrigieren.

Außer der Korrektur des Wahlergebnisses ergab sich ein weiterer Anlass für die Wiederaufnahme des Kampfes gegen die kurdischen Autonomie-Bestrebungen aus den Ereignissen in Kobanê und Rojawa. Der YPG, den Volksverteidigungseinheiten von Kurden in Nordsyrien, bewaffneter Arm der PYD (Partei der Demokratischen Union), vernetzt mit der PKK, war es nicht nur gelungen, sich gegen die Angriffe des von der türkischen Regierung unterstützten IS zu verteidigen, sondern eine selbstverwaltete Zone entlang der türkischen Grenze zu behaupten. Ihr Kampf um Selbstbestimmung und Autonomie, die Schaffung räterepublikanischer politischer Strukturen fanden vielerorts Niederschlag im kurdischen Südosten der Türkei, zudem Sympathisanten und Unterstützende auch in Universitäten und Gewerkschaften überwiegend türkischer Gebiete und mehreren Linksgruppierungen in der Türkei. Unter dem Vorwand "Säuberung des Staates von Terroristen" wurden Menschen in der Türkei, die Forderungen nach Selbstverwaltung und Autonomie unterstützen, verhaftet und vor Gericht gestellt, Journalisten und Redakteure ihrer beruflichen Stellungen enthoben, gewählte Vertreter der HDP, darunter auch Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, bedroht und verfolgt. Seit die Verhandlungen über eine Integration der kurdischen Bevölkerung abgebrochen wurden, droht aus Sicht der türkischen Regierung die Entwicklung in Rojava als Klassenauseinandersetzung auf die Türkei überzugreifen.

Bei allen Gesprächen, die wir damals führten, immer wieder die kopfschüttelnd in resigniertem Ton geäußerte Frage, warum nimmt Europa das hin - gemeint vor allem die Regierungen in Berlin und Brüssel, nur von wenigen auf die Gewerkschaften bezogen. Hier die Antwort des für die Türkei zuständigen Referenten vom damaligen Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, Dr. Thomas Kurz:

"Berlin, 27. Januar 2016: Die Bundesregierung verfolgt die Entwicklung im Südosten der Türkei mit großer Sorge. Die PKK verfolgt seit einiger Zeit die Strategie, ihren Kampf in die Städte zu bringen. Dafür missbraucht sie zahlreiche junge Menschen und zieht die Bevölkerung in Mitleidenschaft. Die PKK wird von der Europäischen Union als terroristische Organisation gelistet und ist gemäß Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes auch in Deutschland als ausländische terroristische Vereinigung eingestuft. Die Türkei hat das Recht und die Pflicht, ihre Bürger vor terroristischen Anschlägen zu schützen." Eine Antwort aus Ankara hätte kaum anders gelautet.

Der deutschen Bundesregierung geht es bei Verhandlungen mit der Erdogan-Regierung und der fortgesetzten Einstufung der PKK als terroristische Vereinigung vorrangig um die Begrenzung der Flüchtlingsströme. Längerfristig dürfte ausschlaggebend sein, dass der Kampf um Autonomie, Selbstbestimmung und politische Strukturen einer Räterepublik, der in Rojava begonnen wurde, zum Flächenbrand werden könnte, der Grundwerte auch Europas gefährdet und gemeinsamer Abwehr bedarf. Der Terror gegen die kurdische Bevölkerung ist nicht nur als Willkürmaßnahme eines Staatschefs erklärbar, dem es um die Durchsetzung eines von ihm angestrebten Präsidialsystems geht, sondern vor allem als Versuch, einer die gesamte Türkei ergreifenden Klassenauseinandersetzung zuvorzukommen. Nur so werden auch die Reaktionen der deutschen Außenpolitik erklärbar.

Auf der Mahnwache für die Eingeschlossenen in Sûr zitierte ein junger Sanitäter Zeilen von Nazim Hikmet. In deutscher Übersetzung:

"Die Luft ist schwer wie Blei
Wenn ich nicht brenne, wenn du nicht brennst,
wenn wir nicht brennen,
wie kann
die Finsternis erleuchtet werden."


30. Mai 2018


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