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PRESSE/592: Tang Yin - ein Maler und Chan-Poet (Buddhistische Monatsblätter)


Buddhistische Montsblätter Nr. 2/2007, April - Juni
Buddhistische Gesellschaft Hamburg e.V.

Zweifle am Abend über das Tun des vergangenen Tages
Tang Yin - ein Maler und Chan-Poet im China der Ming-Zeit

Von Hans-Günter Wagner


Schon seit einigen Jahren befasse ich mich mit der Lyrik des chinesischen Chan-Buddhismus und übersetze solche Verse ins Deutsche. Leider ist im Westen bisher nur sehr wenig über diese Dichtung bekannt, die anstelle einer ausgefeilten Lehrdogmatik buddhistische Einsichten und Erfahrungen in der Sprache der Poesie vermittelt. Im Laufe vieler Jahrhunderte hat diese Lyrik prägenden Einfluss auf die chinesische Dichtkunst genommen und ihre Spuren auch in der Malerei und Kalligraphie hinterlassen.

Die Poesie des Chan steht in der Tradition der wortlosen Übertragung der Lehre. Als Buddha Shakyamuni vor einer großen Schar von Anhängern einst gebeten wurde, den Weg zur Erleuchtung darzulegen, verharrte er im Schweigen und wies nur wortlos auf eine Blume. Die Anwesenden verstanden nicht und sahen einander fragend an. Nur einer von ihnen, Kashyapa, ein enger Schüler des Buddha, verstand plötzlich alles und erwachte in eben diesem Augenblick. Dieses Ereignis steht am Anfang der Überlieferungslinie des plötzlichen Erwachens, einer Erfahrung, die in den Chan-Versen ein stets wiederkehrendes Thema ist.

Ein von mir sehr geschätzer, jedoch kaum bekannter Chan-Dichter ist Tang Yin, der auch unter dem Namen Tang Bohu bekannt ist. Er wurde 1470 geboren und verstarb 1523 (nach anderen Quellen im Jahre 1524). Tang Yin war einer der bekanntesten Maler der Ming-Dynastie, dessen Bilder heute in den großen Museen der Welt zu finden sind. Dass er zugleich ein inspirierter Chan-Dichter war, ist auch in China nur Wenigen bekannt. Tang Yin stammte aus Wuxian, der heutigen Stadt Suzhou in der Provinz Jiangsu, wo er als Sohn eines Händlers geboren wurde. Er war verheiratet und betrachtete sich die meiste Zeit seines Lebens als buddhistischer Laie. Bisweilen nannte er sich auch Laie Liu Ru. In seinen späten Jahren soll er sich jedoch vom Buddhismus gelöst und auch harsche Kritik geübt haben, heißt es in einem Text über ihn. Neben Qiu Ming und anderen wird Tang Yin der Gruppe der "vier Meistermaler aus Suzhou" zugerechnet. Die Kunst der Pinselführung hat er hauptsächlich bei Zhou Chen erlernt, einem seinerzeit bekannten Maler im Stil der südlichen Song-Dynastie. Tang Yin wuchs jedoch bald über seinen Lehrmeister hinaus und erweiterte vor allem den traditionellen Themenkreis der Malerei: Die vorherrschende Landschaftsmalerei seiner Zeit erweiterte er um Blumen und Vögel, menschliche Figuren und insbesondere Frauen. Vor allem aufgrund seiner Vorliebe für das letztere Motiv sind über ihn bis heute viele Liebesgeschichten überliefert, von denen die meisten jedoch als erfunden gelten, zum Beispiel die Anekdote einer "Werbung um das Dienstmädchen Qiu Xiang".

In den Annalen ist verzeichnet, dass er klug und intelligent war und in seiner Jugend großes Interesse am Erlangen amtlicher Würden zeigte. Im Zuge der kaiserlichen Staatsprüfungen in Nanjing wurde er allerdings in eine betrügerische Manipulation einer seiner Freunde bei einem Examen verwickelt, was auch ihn in Mitleidenschaft zog und seiner Ehre beraubte. Die Beamtenlaufbahn war ihm fortan verwehrt; er reiste durch die Lande und verdingte sich als Maler, Essayist und Verfasser kalligraphischer Werke. Später brachte er es mit seiner Malerei zu gewissem Ruhm und Einkommen.

Die Ming-Dynastie, in der er lebte, gilt bis heute oft als eine Periode der Stagnation, des Niedergangs und Verfalls nach dem Untergang der blühenden Tang- und Song-Kulturen und der auf sie folgenden Mongolenherrschaft über das chinesische Reich. Tatsächlich war die Ming-Zeit jedoch reich an neuen kulturellen Entwicklungen. Das Theater und die Erzählkunst nahmen einen Aufschwung. Bedeutende Werke wie das buddhistisch inspirierte Romanwerk "Die Reise nach Wesen" (Xiyouji) entstanden in dieser Epoche. Zugleich wurden die Grundlagen der wissenschaftlichen Lebensform der Moderne gelegt. Ein erstes Wörterbuch mit der Klassifizierung der chinesischen Schriftzeichen anhand ihrer Grundelemente (Radikale) standardisierte und vereinfachte den Zeichengebrauch. Auf natur- und ingenieurwissenschaftlichen Gebieten erschienen umfassende Werke über die gesamten Techniken der Landwirtschaft, der Weberei und Keramikherstellung, sowie der Eisen- und Stahlerzeugung und des Transportwesens, darüberhinaus auch wissenschaftliche Abhandlungen zur Botanik und Arzneimittelkunde. Im gleichen Zeitraum entwickelte sich jedoch auch eine geistige Strömung - vor allem unter den gebildeten Schichten, der auch Tang Yin angehörte - die nach einer von weltlichen Zwecken gelösten Weisheit trachtete. Ihr Bestreben war es, absolute Spontaneität und Übereinstimmung mit der wahren Natur des Geistes zu erlangen. Viele Vertreter dieser Richtung verzichteten auf eine Beamtenlaufbahn und suchten in ihrem eigenen Inneren nach dem Guten, der Buddha-Natur oder der Weisheit des Tao.

Tang Yins Verse legen von dieser Suche in der Tradition der buddhistischen Chan-Lehre Zeugnis ab. Schlichtheit und innerer Friede vermittelt er darin als Richtschnur seines Lebens, auch dann, wenn die Bedingungen widrig sind und das Leben hart ist, so in den folgenden drei Versen, von denen der zweite auch die Karma-Lehre illustriert:

Vers

Fern liegt das Dorf im Regen
ein Hahn kräht in den Wind
Am Morgen kein Holz zum Feuer machen
ich schäme mich vor meiner Frau
Statt Verse zu schreiben
sollte ich lieber Bambusblätter verkaufen
Doch auf dem Markt ist der junge Bambus
so billig heut' wie schlichte Erde


Ein Seufzer über die Welt

Strebe nicht nach den Dingen
die Ordnung des Himmels regelt sie alle
Wozu sich mühen und plagen
für Nutzloses?
Drei Mahlzeiten am Tag
und wir können zufrieden sein
Eine Dschunke kommt voran
wenn sie mit dem Wind segelt
Greifst du nach den Dingen
so erzeugen sie sich ohne Ende
Schadest du anderen
dein eigener Schaden eine Frage der Zeit
Unrecht, das dir heute widerfährt
begleicht nur, was du einst tatest
So gehe ein jeder in sich und erkenne
was er tat und was geschah


Traurigkeit und Melancholie sind stets wiederkehrende Motive seiner Lyrik. Doch die meisten seiner Gedichte sind nicht nur "Seufzer über die Welt"; es geht ihm um einen nüchternen, sachlichen Blick auf die Dinge des Lebens. Sein Realismus ist analytisch und fragt nach den Entstehungsbedingungen von Kummer und Leid. In den beiden folgenden Versen beschreibt Tang Yin Gier und Grenzenlosigkeit als die Ursachen der menschlichen Misere. Im Vers "Achtsam Leben" preist er die Arznei des buddhistischen Pfades.


Ein Lied über die Welt

Seit jeher ist es selten
dass Menschen die Siebzig erreichen
Zwischen der Jugend und dem Alter
da bleibt oft nicht allzu viel
So kurz die Zeit der mittleren Jahre
durchzogen von Licht und Schatten
Überall Fadheit - alles ist überzogen
vom Rauhreif des Kummers
In der Blütezeit des Lebens
ein paar Lieder gesungen im Licht des Mondes
Hastig gefüllt der goldene Trinkbecher
schon kippt er um
Egal wie viel die Weltmenschen besitzen
stets ist grenzenlos ihr Streben
So viele Beamte am Hof
doch sie ordnen die Dinge nicht
Hohe Mandarine mit reichem Salär
aufgewühlt sind ihre Herzen
Kommen sie nach Hause
so zählen sie ihre grauen Haare
Im Frühjahr kreisen die Gedanken des Beamten
um Herbst und Winter
Wenn die Glocke den Abend verkündet
krähen schon die Hähne
Sieh einmal genau hin
auf die Menschen um dich herum
Wie viele fanden in diesem Jahr
ihre Ruhestätte unter wilden Gräsern?
Wie viele kleine und große Grabplätze gibt es noch
dort in den Weiten des Graslandes?
Jahr um Jahr kommen weniger zu den alten Gräbern
um der Toten zu gedenken


Achtsam leben

Strebe nicht nach einem bleibenden Namen
über die Zeit deines Körpers hinaus
Richte deinen Blick in die eigene Tiefe
und siehe von dort aus die Welt
Die Arithmetik des Menschen
ist nicht die Arithmetik des Himmels
Das begehrende Feuer des Leibes
liegt im Wettstreit mit dem inneren Frieden in dir
Zweifle am Abend
über das Tun des vergangenen Tages
So führt dich die Nacht
zur Wiedergeburt an einem neuen Morgen
Sprichst du mit einem Wissenden
so lerne von seiner Erfahrung
Sprichst du mit einem Unwissenden
so teile deine Klarheit mit ihm
Die Welt ist voll vom Streben
nach Vorteil und Ruhm
Doch besser ist es
als Pfadgänger im Mönchsgewand zu leben
Das Huhn im Käfig hat reichlich zu fressen
aber bald schon landet es im Topf
Der Himmel und die Erde sind weit
doch der Reiher hungert über dem Meer
Über hundert Jahre alt
wird auch ein Reicher nur selten
Unaufhörlich dreht sich
das Rad von Tod und Wiedergeburt
So rate ich dir
erstrebe das Erwachen noch in diesem Leben
Ein verlorenes Leben
gewinnst du durch Raub nicht zurück
Der Wohltätige ist beständig
so meistert er Schwierigkeiten
Wer friedlich und achtsam lebt
der meidet den Schmerz
Führt den Kampf zur Überwindung des Bösen
so kommt ihr voran auf dem Pfad
Der erhabene Geschmack der Pfadverwirklichung
ist jenseits aller Worte
Wer bloß Gaumenfreuden erstrebt
nur krank wird er davon am Ende
Wer stets schnell und hastig lebt
nichts wird er je richtig tun
Wenn Krankheit dich zeichnet
so nimm Arznei
Doch besser ist es
zu vermeiden Krankheit und Kummer


In den folgenden Versen gibt Tang Yin einige Hinweise hinsichtlich seines eigenen Weges zum Chan. Die Anspielung auf "roten Zinnober" lässt ahnen, dass er sich einst mit taoistischen Wunderarzneien zur Erlangung ewigen Lebens befasste, bevor er die Vergänglichkeit aller Dinge im Sinne der buddhistischen Lehre zu akzeptieren lernte, wozu das Studium des Diamantsutra (letzter Vers) sicherlich mit beigetragen hat.


Vers

Ich saß gegenüber den gelben Blumen
und leerte meinen Becher
In der Zeit der Klarheit erinnerte ich
die Verrücktheit des Rausches
Roter Zinnober ist
eine Jahrtausende alte Medizin
Weiß wie Reif wurden meine Zöpfe
der helle Tag verbirgt es nicht
Möge auf meinem Grabstein einst stehen:
Ein Lernender
Vor den Augen der Zuschauer in den Gassen
die Marionette stets in Bewegung
Die Welt ist ein Traum
wir jagen den flüchtigen Dingen nach
Kein bleibender Ort und am Ende
verliert sich unsere Spur


Worte über Trübsal

In den Jahren meiner Jugend war ich voller Trübsal
das ist nicht ungewöhnlich
Strähnen von Traurigkeit umfingen mich
und ich konnte mich nicht lösen
Wo ist der Frühling des Lebens
den die Melancholie verschont?
Treffe ich heute auf dieses Gefühl
so spüre ich kein Mitleid mit mir
Wo sich die Azaleenbüsche winden
liegen Birnenblüten weiß wie Schnee
Zwischen den Grabhügeln von Ba
träumen die Duftgräser im Nebel
Auf dem Weg wischen meine Ärmel
goldene Tränen von den Augen
Drei Leben verbrachte ich mit Koans
dann fuhr mir der Chan in die Knochen
Nachdem mich das Alte nicht mehr schreckte
war mein Denken frei von Reue
Gekleidet in eine Robe
trage ich ein Licht vor dem Tor des Tempels umher


Erwachen beim Lesen des Diamantsutras

Das Leben ist
gleich einem Traum
gleich einem Trugbild
gleich einer Luftblase auf dem Wasser
gleich einem flüchtigen Schatten
gleich einem zerspringenden Ton
gleich einem leuchtenden Blitz am Himmel
Wer dies wahrhaft erkennt
der ist erwacht
Vollständig gelöst
vom Leid der Welt


*


Literaturhinweise

Die Verse Tang Yins wurden aus den folgenden chinesischen Sammlungen ins Deutsche übertragen:

o "Chanshi Sanbai Shou" (300 Chan-Gedichte), redigiert und kommentiert von Zhu Zhengqiu, Lijiang Chubanshe. Guilin 1999.

o "Chanshi Baishou" (100 Chan-Verse), redigiert und kommentiert von Hong Pimo, Zhongguo Youyi Chuban Gongsi, Beijing 1993.

Informationen zu seinem Leben finden sich u.a. in den o.g. Kommentaren zu seinen Gedichten sowie im Internet unter:
http://de.chinabroadcast.cn/chinaabc/chapter20 (deutsch) und unter:
http://www.lingshidao.com/gushi/hanshan.htm (chinesisch).

Zur geistigen Entwicklung der Ming-Dynastie siehe u. a.:
Jacques Gernet: "Die chinesische Welt", Suhrkamp Frankfurt/Main 1997, S.371ff.


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Zum Autor Hans-Günter Wagner:

Hans-Günter Wagner ist Mitglied der BGH und lebt mit seiner Frau seit 1992 in China. Anfänglich hat er dort als Deutschlehrer gearbeitet, war dann mehrere Jahre für Berufsbildungsprojekte der GTZ verantwortlich und ist nun seit mehr als 2 ½ Jahren für das Management eines von der EU finanzierten akademischen Austauschprogrammes zuständig. Seine Frau arbeitet als Deutschlehrerin an einer chinesischen Universität.


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Quelle:
Buddhistische Montsblätter Nr. 2/2007, April - Juni, Seite 10-14
Herausgeberin: Buddhistische Gesellschaft Hamburg e.V.,
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Tel.: 040 / 6313696, Fax: 040 / 6313690
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. April