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PRESSE/596: "Hätte ich doch endlich einmal Zeit!" (Buddhismus aktuell)


Buddhismus aktuell, Ausgabe 2/2007
Zeitschrift der Deutschen Buddhistischen Union

"Hätte ich doch endlich einmal Zeit!"

Ayya Sucinta über Dukkha


Wir vergessen leicht, dass die Zeit uns nichts nimmt, sie schenkt uns ungezählte Möglichkeiten zum Lernen und zu spirituellem Wachstum. Sie ist kostbar, und dennoch stellt sie uns am Ende unseres Lebens keine Rechnung. Es liegt ganz an uns, ob wir sagen können, dass wir sie genutzt haben und nicht mehr um eine Fristverlängerung oder eine Wiedergeburt mit neuer "deadline" bitten müssen.


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Stress ist eine weit verbreitete Form von Unbehagen und Leiden in unserer Zeit. Dieses Wort drückt die für heutige Menschen so typische Art zu leiden aus, und so finden wir in Übersetzungen aus dem Pali-Kanon in die englische Sprache (Ajahn Thanissaro) anstelle des zentralen Pali-Wortes "Dukkha" durchgängig den Begriff "Stress": Die Vier Edlen Wahrheiten betreffen Stress, die Ursache von Stress, das Ende vom Stress und den Weg zur Aufhebung von Stress.

In Deutschland ist "Stress" ebenfalls längst kein Fremdwort mehr. Vermutlich ursprünglich vom englischen "distress" abgeleitet, bedeutet es Leiden durch Schmerz, Trauer, Sorge oder Erschöpfung und bezeichnet einen Zustand der Schwierigkeit und Hilflosigkeit (nach Oxford Reference Dictionary). Weiterhin hat "Stress" die Bedeutung von Druck und Spannung, aber auch die von Betonung. Für unser Erleben von Stress ist besonders die Erfahrung von Druck relevant, und oft fühlen wir uns merkwürdigerweise von nichts und niemanden so sehr bedrängt wie von der Zeit.


Stress-Erleben

"Mir fehlt nichts, mir fehlt nur die Zeit" ist eine häufige Klage, oder der Wunsch wird geäußert: "Hätte ich doch endlich einmal Zeit ...!" Da wir davon ausgehen, keine Zeit zu haben, fühlen wir uns ständig unter Druck. Eigentlich sollten wir bereits fertig sein. Doch das Werk ist noch nicht einmal begonnen! Wir kämpfen gegen die Zeit an, versuchen ihr hier und da ein paar Minuten abzutrotzen, "Zeit zu gewinnen". Doch letztlich zerrinnt sie uns unter den Händen, und lässt uns als Verlierer zurück.

Wie erleichternd ist es, wenn jemand zu uns sagt, "Lass dir Zeit" oder dem Satz "Zeit ist Geld" die Alternative "Zeit spielt keine Rolle" gegenüberstellt! Was für ein Reichtum verbirgt sich hinter der Feststellung "Ich habe Zeit"? Und was für eine Haltung drückt sich in dem Satz "Alles braucht seine Zeit" oder "Zeit heilt Wunden" aus?

Geduld ist nicht gerade die starke Seite des modernen Menschen. Wir versuchen immer schneller und effizienter zu werden. Das gilt selbst für den Weg zum Aufhören von allem Stress, zu Nibbana. Wir suchen so verzweifelt nach einer Abkürzung, um eher zum Ziel zu kommen, und verlieren dabei leicht das Vertrauen, dass es überhaupt ein Ende gibt. Selbst bei der Meditation haben wir ein ähnlich problematisches Verhältnis zur Zeit. Es fällt uns schwer, uns mit dem gegenwärtigen Augenblick zufrieden zu geben. Stattdessen verlieren wir uns in endlosen Zeitschleifen, schlagen uns mit Wesen aus der Vergangenheit herum oder erfinden Zukunftswelten und -szenarios. Selten fragen wir uns: "Was habe ich eigentlich gegen diesen Augenblick?", und noch seltener kommen wir auf die Idee, ihn einfach so zu akzeptieren wie er ist. So stehen wir im Allgemeinen mit der Zeit auf Kriegsfuß.

Es fängt bereits früh an: US-amerikanische Kinderärzte beklagen, dass selbst Kindern keine Zeit mehr für das gute alte Spiel, für unstrukturierte Zeit bleibt. Mütter und Väter eilen mit ihren Sprösslingen vom Reiten zum Ballett und vom Ballett zum Klavierunterricht. Die Sorge treibt sie, in der Frühförderung ihrer Kinder etwas zu versäumen, so dass diese später nicht mithalten können. Da bleibt keine Zeit, den Wolken nachzuschauen, Blütenblätter-Orakel zu befragen oder Ameisen zu beobachten. Auf diese Weise würden Kinder die Zeit als überaus großzügig und kreativ erleben, als großen Zauberer, als Freund.

Das Erleben von Stress ist relativ leicht zu beschreiben. Wir alle kennen das Gefühl von Stress, Rastlosigkeit und Zeitdruck. Einen Ausweg zu finden ist schwieriger. Und so drehen wir uns weiter wie ein Hamster im Laufrad.


Das Märchen von den "Sachzwängen"

Der Buddha stellte bereits vor 2500 Jahren die Diagnose, dass Unwissenheit und Verlangen das Laufrad in Gang halten und uns nicht zur Ruhe kommen lassen. Aber wir schenken dem Märchen von den "Sachzwängen" gerne Glauben, obwohl wir im Grunde wissen, dass es nie zum Happy End führen kann. Auf diese Weise bleiben wir blind dafür, wie sehr und auf welch subtile Weise wir die Sklaven unserer Begierden, Wünsche und Vorlieben sind, dass wir oft von Geltungsbedürfnis und Ehrgeiz motiviert oder von Ängsten getrieben werden und dass viele unserer Sorgen überflüssig sind.

Die Leiterin eines buddhistischen Zentrums in Holland, die in einer Bauernfamilie mit einer fast zweistelligen Kinderzahl aufgewachsen war, berichtete über ihre Mutter: "Sie war nie in Eile, nie gestresst". Vermutlich hätte diese Bauersfrau für all ihre Aufgaben 20 Arme gebrauchen können oder einen Tag mit 30 Stunden, doch sie war mit zwei Händen und der üblichen Dauer des Tages zufrieden und vollbrachte, was ihr in aller Ruhe möglich war. Und die Kinder lernten diese innere Gelassenheit zu schätzen.

Manche Menschen klagen darüber, dass sie soviel Gutes tun wollen und können, dass sie aber leider nie ausreichend Zeit dafür hätten. Sicherlich, das Elend in der Welt reißt nie ab, selbst wenn wir auf unseren Schlaf verzichten und an Zeit für uns überhaupt nicht denken. Oft werden die eigenen Grenzen als ein Versagen oder als persönlicher Mangel erlebt. Hinter dieser vermeintlich selbstlosen Haltung verbirgt sich leicht ein gewisses Maß an Selbstüberschätzung oder gar Selbstverachtung, und dies ist das Gegenteil von Metta, der Freundlichkeit und Wertschätzung auch sich selbst und anderen gegenüber.

Betrachten wir andere Menschen, die Zeit oder das Leben selbst als verantwortlich für den empfundenen Druck, bleibt uns nur Hilflosigkeit oder ein verzweifelter Gang auf die Barrikaden. Wir delegieren unsere Verantwortung an unbekannte Mächte. Bringen wir dagegen Licht in den Dschungel unserer Antriebe, offenbaren sich Wahlmöglichkeiten. Das ehrliche Durchforsten unserer Absichten hilft uns, Prioritäten zu setzen, statt uns gleichzeitig in mehrere Richtungen ziehen zu lassen, was uns erschöpft und auf Dauer zerreißt.

Der Tibetische spirituelle Lehrer Tarthang Tulku schreibt in seiner Vision über "Raum, Zeit und Wissen" (Kapitel 6): "Es gibt tatsächlich keine äußere Macht, die uns auf eine solche Art kontrolliert, dass wir hilflos sind. Aber die Unzufriedenheit und Hilflosigkeit, die wir fühlen, sind bestimmte Zeichen, dass einige Prinzipien, die für unser Sein in der Welt lebenswichtig sind, noch nicht in Betracht gezogen worden sind. Wir werden nur bis zu dem Grad kontrolliert, wie wir es selbst zulassen, in dem wir es verpassen, uns allen relevanten Faktoren in unserem Leben zu stellen."


Leben im Bewusstsein der "deadline"

Welches aber sind die großen Unbekannten, die wichtigen Faktoren, die wir außer Acht lassen? Und wie lernen wir, uns nicht unter Druck zu setzen?

Merkwürdigerweise ist es gerade der Blick auf unsere Frist und ihr Ende, der uns lehrt, was wesentlich ist und was nicht. Im Englischen wird von der "deadline" gesprochen, wenn z.B. der Abgabetermin für eine Arbeit gemeint ist.

Das klingt bedrohlich, so als ob da Köpfe rollten, wenn die "deadline" überschritten wird. Allerdings haben wir alle eine solche "deadline", nur wissen wir nicht, wann sie ist. Sie ist nicht in unserem Terminkalender eingetragen.


Zufriedenheit und Bescheidenheit

Wir sollten nicht darauf spekulieren, eines Tages auf dem Friedhof zur Ruhe zu kommen, sondern jetzt den inneren Frieden kultivieren, der in dem deutschen Wort "Zufriedenheit" angesprochen ist. Wenn wir diese Zufriedenheit von bestimmten Bedingungen abhängig machen und versuchen, sie in der Zukunft zu erreichen, sie dann einzufangen und festzubinden, ernten wir nur Spannung und Druck. Die Gegenwart ist dann notwendigerweise immer ungenügend. Wieso also nicht die Zeit würdigen, die uns jetzt gegeben ist? Wir können gerade diesen Augenblick befragen, ob er etwa nicht gut genug ist. So sammeln wir eine Serie zufriedener Momente an, und von dieser echten Zufriedenheit können wir nie zu viel bekommen; es ist ein heilsamer Zustand, wirklich frei von allen unliebsamen Nebenwirkungen.

Zufriedenheit macht uns auf eine Weise reich, die uns niemand streitig machen kann. Im Gegenteil, sie bereichert auch andere. Menschen, die eine einschneidende Krankheit, eine schwere Behinderung oder andere schwierige Lebensumstände zu akzeptieren gelernt haben, machen anderen Mut. Sie zeigen, dass es eben letztlich nicht auf die äußeren Bedingungen ankommt, sondern auf die innere Haltung und Gesinnung. Dabei beinhaltet Zufriedenheit auch, uns selbst so zu anzunehmen wie wir sind und uns Unvollkommenheiten, Fehler und Misserfolge zu verzeihen. Wir müssen nicht immer ganz oben auf der Leiter stehen und hervorragen. Dies mindert den Stress beträchtlich.

Der Buddha hat oft klargestellt (z.B. seiner Pflegemutter Gotami oder seinem Vetter Anuruddha gegenüber), dass diejenigen, die zufrieden sind, nach seiner Lehre, dem Dhamma, leben, nicht jedoch die Unzufriedenen, die immer das berühmte "Haar in der Suppe" finden. Ebenfalls sind diejenigen seine Nachfolger, die wenige Wünsche haben, nicht jedoch die Unersättlichen. Diese beiden Aspekte gehören zusammen und folgen aus der Diagnose des Buddha, dass die Wurzel unseres Stresses in der Gier zu finden ist.

In Mahadukkhakkhandha Sutta (MN 13) zeigt der Buddha auf, dass uns die Sinne ein gewisses Maß an Vergnügen bieten, dann aber folgt eine lange Liste ihrer Nachteile oder Gefahren, die an Werbung für verschiedene Medikamente mit erheblichen Nebenwirkungen erinnert: Im Falle sinnlichen Vergnügens reichen sie von der Mühe der Erwerbsarbeit bis hin zum möglichen Verlust des Erworbenen, außerdem kann es Streitigkeiten oder gar Krieg über erworbene Güter geben. Hierbei werden vielfach ethische Prinzipien verletzt und - nach dem Gesetz von Karma - eine unglückliche Zukunft geschaffen. Der Ausweg aus diesem Stress liegt im Aufgeben des Verlangens nach sinnlichen Genüssen.

Allerdings kann wohl niemand von uns so einfach aufhören und sich sofort von allem Vergnügen durch die Sinne und vom eigenen Willen lossagen. Daher beginnen wir damit, solchen Absichten zu folgen, die nicht zu mehr Stress führen, sondern zu wirklichem und längerfristigem Glück. Der Wunsch, das Verlangen insgesamt zu reduzieren, führt uns in die richtige Richtung, weg von törichter Vergeudung - sollte sich die märchenhafte Situation ergeben, dass wir die berühmten drei Wünsche frei hätten, die garantiert in Erfüllung gehen. Der Wunsch, Bescheidenheit zu entwickeln ist zwar nicht populär, aber nichtsdestoweniger weise, und wir selbst können ihn uns in der realen Welt garantiert erfüllen.


Vereinfachen

Genügsamkeit macht das Leben einfacher. Statt mehr und mehr Dinge zu akkumulieren, beginnen wir mit dem Aussortieren, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Während in der Meditation eine geistige Entrümpelung von unheilsamem Denken und Wollen stattfindet, stellt sich für viele Meditierende im Laufe der Praxis ebenfalls die Frage, wie sie so manches an Hausrat loswerden können, da er lästig, eher zu Unrat geworden ist. Viel Besitz ist, wie der Buddha z. B. in der oben genannten Lehrrede aufgezeigt hat, mit Sorge und Verantwortung verbunden, obgleich Wohlstand - richtig genutzt - auch eine Quelle von Freude sein kann.

Leben wir im Bewusstsein der "deadline", fällt es uns leichter, Prioritäten zu setzen. Überdies sind wir uns bewusst, dass wir eines Tages ohnehin alles bis zum letzten Löffel abgeben müssen. Wir sind weniger geneigt, unsere kostbare Lebenszeit mit nutzlosen Dingen zu verschwenden. Uns wird klarer, dass es darauf ankommt, uns von der Unwissenheit zu befreien, die all unserem Stress zugrunde liegt. Wir finden die im Leben relevanten Faktoren, das, was wirklich zählt.

Für mich bedeutet es eine ungeheure Erleichterung, davon auszugehen, dass der Körper, die Gefühle, Geisteszustände und geistige Objekte - kurz die vier Grundlagen der Achtsamkeit - dazu da sind, uns die Lektionen zu lehren, die wir brauchen, um zum Wissen zu gelangen. Anstatt mich von ihnen tyrannisieren zu lassen, versuche ich ihre Lehre anzunehmen und zu verstehen. Dies ist der Weg des Buddha, der zu wirklicher Meisterschaft führt.


Loslassen statt kontrollieren

Eskimos, heißt es, haben viele Worte für Schnee und Eis, da diese in ihrem Leben eine große Rolle spielen. In der Pali-Sprache, in der die Lehre des Buddha überliefert ist, gibt es mehrere Begriffe für Loslassen. Und alle stehen im Zusammenhang mit Befreiung, mit der Dritten Edlen Wahrheit, dem Ende von Stress: caga, mutti, analayo, patinissagga. Auf diese Weise können feine Unterscheidungen getroffen werden. Im Deutschen kenne ich außer loslassen nur aufgeben oder verzichten, und die beiden letzten hören sich sehr nach zusammengepressten Zähnen an. Caga hingegen hat die Bedeutung von weggeben, verschenken, steht mit Großzügigkeit in Verbindung; mutti ist Befreiung, auch das Aufgeben der Kontrolle; analayo bezeichnet das Gegenteil von Klebrigkeit, eine Art von Abgleiten, wie wir das z. B. von beschichteten Pfannen kennen; patinissagga heißt etwas enden lassen. Weiterhin passt in diese Reihe auch pahana: wegschmeißen, aus dem Fenster werfen (was ebenfalls recht befreiend sein kann).

Am schwersten fällt uns vielfach das Aufgeben von Kontrolle, obgleich gerade unsere Versuche, die Oberhand zu gewinnen, uns enormen Stress bereitet. Wenn wir nicht darauf bestehen, dass alles nach unserem Willen läuft, bleibt mehr Raum für Unvorhergesehenes. Wir lassen die Zeit für uns arbeiten. Sie bringt ungeahnte Möglichkeiten zum Vorschein, die wir begrüßen können anstatt zu versuchen, sie (die Zeit) in unser enges egozentrisches Schema zu pressen.


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Die Ehrw. Ayya Sucinta gab 1991 ihren Wohnsitz in Hamburg auf, um buddhistische Nonne in der Theravada-Tradition zu werden. In Bodhgaya erhielt sie 1998 die Bhikkhuni-Ordination. Anfang 2007 folgte sie einer Einladung der Buddhist Society of Victoria nach Australien, an der Gründung von "Sanghamittarama" mitzuwirken, einem Frauen-Kloster in der Nähe von Melbourne.

Weitere Infos unter: www.bsv.net.au
E-Mail: AyyaSucinta@gmx.net


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Quelle:
Buddhismus aktuell, Ausgabe 2/2007
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. April 2007