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PRESSE/604: Wo ist das Ich, wo steckt die Seele? (Der Mittlere Weg)


Der Mittlere Weg - Nr. 2, Mai - August 2007
Nachrichten des Buddhistischen Bundes Hannover e.V.

Wo ist das Ich, wo steckt die Seele?

Von Axel Rodeck


Die Seele in der westlichen Kultur

Der Glaube an ein spirituelles Element im Menschen, welches wir heute als "Seele" bezeichnen, ist bereits bei den steinzeitlichen Jägern nachweisbar. Diese hatten durch Träume und ekstatische Zustände die Existenz eines vom Leib unabhängigen Elements erfahren, dessen Lokalisierung jedoch nicht gelang. Einerseits galt der Kopf (nämlich das Gehirn) als Sitz dieser Seele (und wurde daher gern in magisch-religiöser Handlung verspeist), andererseits erstreckte sich das Element über den ganzen Körper, bildete also gewissermaßen sein "Double".

Machen wir einen Sprung zu Zarathustra (Geb. 630 v. Chr.) und der iranischen Religion, die mit Erlösermythos, Auferstehungslehre und Eschatologie ("Lehre von den letzten Dingen") gewichtige Beiträge zur religiösen Gestaltung des Westens geleistet hat. Wir finden hier eine handfest materielle Seele, die nach dem Tode eine - Erde und Himmel verbindende - Brücke überquert, die sich beim Gerechten mit jedem Schritt erweitert, beim Gottlosen jedoch rasierklingenscharf schmälert. Der Gute gelangt zu den "anfangslosen Lichtern", also ins Paradies, während der Böse in die Zone der "anfangslosen. Finsternis" gerät.

In Griechenland hatte im 6. Jhd. v. Chr. Pherekydes von Syros als erster die - möglicherweise aus Indien übernommene - These vertreten, die Seele sei unsterblich und kehre immer wieder auf die Erde zurück, um sich zu inkarnieren. Pythagoras und die Orphiker popularisierten und systematisierten dann die Theorien von der Seelenwanderung (Metempsychose = Eingang auch in Tierleiber). Die kosmologischen Spekulationen Leukipps und Demokrits und neue astronomische Entdeckungen schufen neue Konzeptionen des Weiterlebens der Seele und das Jenseits wurde in den Regionen der Sterne angesiedelt. Erwähnt werden soll noch Phaidros, der das Schicksal der Seele mit den Himmelsbewegungen verbunden sah und - ähnlich wie in den indischen Upanishaden! - das oberste Prinzip des Kosmos für identisch mit dem obersten Prinzip der Seele hielt. In der griechischen wie auch später der römischen Welt pflegte man schon früh den Geist der Materie entgegen zu setzen, was sich bei den religiösen Vorstellungen in der Gegenüberstellung einer einzigen spirituellen Seele und eines materiellen Leibes ausdrückte.

Es war Aristoteles, dessen Bild vom Kosmos die christliche Schultradition des Mittelalters übernahm. Er entwarf ein nach Schichten gegliedertes System, bei dem unten die Materie, oben der Geist und dazwischen die Seele ist. Damit lehnte er sich an die uralte Tradition der Raumsymbolik an, wonach "oben" (bzw. hoch) mit "gut" und "unten" (bzw. tief) mit "schlecht" übersetzt wird. Die Dreizahl der Bereiche "Leib, Seele, Geist" begründet sich psychologisch aus dem Erlebnis des ethischen Konflikts zwischen dem wertblinden Lustverlangen einerseits und dem Wissen um das anstrebenswerte Gute andererseits, wobei die in der Mittelposition befindliche Seele von beiden Seiten bedrängt wird. Während aber für Aristoteles die Einheit von Körper und Seele normal war, hielt Platon den Körper nur für ein leidiges Gefängnis, aus dem die Seele befreit ("erlöst") werden müsse. Das wahre Leben der Seele spielt sich nach Platon unabhängig vom Körper ab und dieser wird damit zum Repräsentanten des Niedrigen und Schlechten.

Die christliche Tradition enthält sowohl aristotelische als auch platonische Denkansätze. Hinsichtlich der Seele fehlt es aber an einer klaren und allgemeinverbindlichen Definition, sie wird als nicht ebenso materiell wie der Körper, aber auch nicht als unstofflich wie der Geist angesehen. Da wichtigstes Dogma für die Christen die Lehre von der Auferstehung ist, bedarf es einer Erklärung, ob die Auferstehung als leiblich zu verstehen ist und wo bis zu diesem fernen Zeitpunkt der Zwischenaufenthalt der Toten ist. Geht man davon aus, daß eine menschliche Persönlichkeit ohne die Basis eines physischen Organismus gar nicht möglich ist, hört mit dem Tod die menschliche Existenz auf und muß - ohne Zwischenzustand - am Jüngsten Tag erst wiedererschaffen werden. Alternativ müßte unterstellt werden, daß wir in einem besonderen "Auferstehungsleib" nach dem Tode weiterleben. In beiden Fällen stellt sich das Problem, ob die auferstandene Person überhaupt noch mit der verstorbenen identisch ist oder nur ein Replikat. Einen sinnvollen Ausweg aus dieser Schwierigkeit bietet die Annahme, daß es eine Seele als identitätswahrendes Etwas zwischen Tod und Auferstehung gibt.


Der Atman der Upanishaden

Wie im Westen hatte sich, ausgehend von derselben indo-arischen Tradition, auch in Indien ein Seelenglaube entwickelt. Denn im 9. Jh. v. Chr. gaben die Upanishaden ("Geheimlehren") den Gedanken auf, den Träger des Lebens im stofflichen Bereich (Feuer, Wasser) zu suchen, sie ersetzten diese Vorstellung vielmehr durch eine metaphysische Konzeption. Das Ergebnis ist die Annahme eines "Atman". Das Wort "Atman" ist etymologisch mit unserem Wort "Atem" verwandt und hatte ursprünglich auch diese Bedeutung. Es wuchs dann jedoch über die physiologische Sphäre hinaus und wurde ein philosophischer Begriff, seine ursprüngliche Bedeutung wurde von dem Wort "Prana" (Hauch) übernommen.

Der Atman ist der Kern einer Persönlichkeit, also das, was von ihr übrig bleibt, wenn man alles Akzidentielle von ihr abzieht. Es handelt sich dabei um eine feinstoffliche Substanz, eine "Monade" (griech. = "Einheit"), also nicht nur um etwas rein Geistiges. Diese Substanz enthält die Fähigkeit zur Speicherung von Wahrnehmungen und Empfindungen, sie speichert auch die Sinneseindrücke, die aus eigenen Handlungen resultieren, also das "Karma". Der Atman ist das dem menschlichen Körper innewohnende ewige Selbst, das den Tod überdauert und sich immer wieder in neuen Körpern inkarniert. Er ist das letzte, dessen man sich als Individuum bewußt sein kann, das Ich-Bewußtsein, die Individualseele.

Entsprechend der älteren stofflichen Feuerlehre mit ihrer Gleichsetzung von Körperwärme und Feuerhimmel wurde nun die Identität des Atman (Individualseele) mit der "Brahman" genannten Universalseele gelehrt. Das Wort "Brahman" bezeichnete ursprünglich das heilige Veda-Wort, dann die sich aus ihm ergebenden Kräfte und schließlich die Ursubstanz allen Seins. Aus dieser sind alle Lebewesen hervorgegangen und werden von ihr durchdrungen und gelenkt. Das alte magische Mikrokosmos-Makrokosmos-Schema der Naturphilosophie wird jetzt also metaphysisch überhöht: Der Individualseele (atman) auf der Ebene des Mikrokosmos entspricht die Universalseele (brahman) auf der Ebene des Makrokosmos. Die auf dem Wege der Meditation zu erlangende weise Einsicht in die Identität von Atman und Brahman fährt dann zur Erlösung, nämlich zur Befreiung vom Zwang der Wiedergeburten und damit zur Unsterblichkeit. Man muß dazu den Blick so nach innen richten, daß er durch keinerlei Wahrnehmungen mehr getrübt ist - dann erkennt der Atman als das erkennende Subjekt sich selber als das erkannte Objekt, die Spaltung in Subjekt und Objekt löst sich auf.

Erst das Verständnis des wahren Selbst (also der Seele) beendet somit den Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt. Wenn das Individuum seine Unwissenheit überwunden und gelernt hat, die Identität des Selbst (atman) mit der letzten Wirklichkeit aller Dinge, dem Absoluten (brahman) zu begreifen, löst sich im Zeitpunkt des Todes der physische Körper in seine Grundbestandteile auf und der feine Körper verbindet sich mit den feinen Elementen. Der Mensch ist jetzt erlöst. Der Zustand, den er erlangt, wird von den verschiedenen philosophischen Schulen unterschiedlich beschrieben: Die einen nehmen ein verklärtes individuelles Fortleben in eines Gottes überirdischer Heilswelt an. Andere sehen z.B. das Heil in einem Fortbestehen der individuellen Existenz, allerdings ohne Verbindung der Seele mit den Organen und somit ohne Bewußtsein von der Welt.

Bis zu diesem Zeitpunkt der Erlösung (moksha) ist die Seele - als würde ein Schwert in mehreren ineinander gesteckten Scheiden stecken - in zwei oder drei Körper gekleidet:

1. den physischen Körper, der aus den die Materie bildenden Elementen besteht und nach dem Tode zerfällt,

2. den unsichtbaren feinmateriellen Körper, der die Gegenstücke zu den Sinnesorganen des physischen Körpers enthält, also "feinstoffliche" Ohren, Augen usw.

3. den nach teilweise vertretener Ansicht vorhandenen "ursächlichen Körper", der sich im Tiefschlaf manifestiert.

Der Tod ist also die Trennung des feinen Körpers vom physischen Körper - und solange das Individuum noch nicht erlöst ist, muß sich der freigewordene feine Körper einen neuen adäquaten physischen Körper suchen. Es wird die Ansicht vertreten, daß die Seele des Verstorbenen bei der Wanderung vom toten zum neuen Leib von einem unsichtbaren feinmateriellen Körper umgeben ist, welcher Träger der feinen Wahrnehmungsorgane und des psychischen Lebens ist. Modern ausgedrückt: Der Geistleib wandert als "elektronisch-photonisches Kraftfeld" zum nächsten Dasein und nimmt dabei sein Karma mit. Der feine Körper ist somit das Verbindungsstück zwischen altem und neuem Körper und man nimmt an, daß er nach seiner Loslösung vom physischen Körper noch Bewußtsein besitzt. Er kann, wenn auch für Wesen mit physischem Körper nicht faßbar, mit seinen feinen Sinnesorganen sehen, hören und denken.

Freilich werden auch andere Ansichten vertreten, etwa daß die Seele direkt mit dem groben Leib verbunden ist.

Spätere indische Schulen führten, auch unter buddhistischem Einfluß, zu Modifizierungen, die aber alle von der Existenz einer "Seele" ausgehen. Der praktische Heilsweg des "Yoga" beruht beispielsweise auf der Philosophie des Sankhya. Diese ist dualistisch, da sie die grundsätzliche Verschiedenheit von Seele und Materie zum Axiom erhebt. Der Vedanta als anderes großes System des Hinduismus ist dagegen monistisch mit seiner mystischen Identifikation von Individualseele (atman) und Universalseele (brahman) und Zurückführung der Welt auf ein einziges Prinzip. Während im Sankhya die Erlösung durch die Erkenntnis der radikalen Verschiedenheit von Seele und Materie erreicht wird, muß der Anhänger des Vedanta in der Meditation die Identität von Atman und Brahman realisieren. Ist er zu dieser Erkenntnis durchgedrungen und ganz von ihr erfüllt, gilt er als "lebenderlöst" (jivan-mukta) und kann, da er kein neues Karma produziert, nicht mehr wiedergeboren werden.


Die Anatta-Lehre des Buddha Gautama

Wider den Seelenglauben

Im 6. Jh.v.Chr. ergeben sich in Indien - wie auch in anderen Teilen der Welt - einschneidende kulturelle, religiöse und soziale Veränderungen. Es entwickeln sich Reformbewegungen, getragen von der Opposition gegen festgefügte politische und religiöse Strukturen der altindischen Gesellschaft. Neue Gesellschaftsschichten entstehen und wenden sich gegen die von den Brahmanen beanspruchte politische und religiöse Vorherrschaft. Es vollzieht sich ein spiritueller Aufbruch, der die alte vedische Opfertheologie bekämpft und die Wahrheit auf neuen Wegen sucht. Tausende von Menschen verlassen ihr bisheriges Leben, schließen sich Asketenbewegungen an und suchen das Heil außerhalb des orthodoxen Rahmens. Ihre Kritik richtet sich gegen den etablierten, überritualisierten und sinnentleerten vedisch-brahmanischen Opferkult.

Unter diesen Bedingungen ist kein Platz mehr für die hergebrachten esoterischen Atman-Lehren der Brahmanen. Die Wanderasketen gehen mit ihren Lehren in die Exoterik und predigen den Massen, und zwar in der Volkssprache statt im Sanskrit als nur den Gebildeten verständlicher Gelehrtensprache. Sie setzen der Metaphysik der Atman-Lehre eine nationalistische Ethik entgegen, eine Lehre, in der Lebenswandel mehr zählt als Geburt und Bildung. An die Stelle der vedischen Vorstellungen von Atman und Brahman treten die verschiedensten Theorien hinsichtlich einer "Seele" des Menschen.

In die Zahl der Wanderasketen reiht sich ein junger Mann aus gutem Hause ein, Siddhartha Gautama, der spätere Buddha. Von seinem Lehrer Uddaka Ramaputta wird er in den Lehren der Upanishaden unterrichtet. Aber nachdem Gautama die Erleuchtung gefunden hat, zum Buddha geworden ist, wird die Atman-Theorie von ihm heftig abgelehnt. Dabei geht der Buddha offensichtlich von Gedankengängen der Uccedavadins, einer den Materialisten zuzurechnenden Gruppe, aus; denn die Existenz eines Atman (Pali: atta) zu leugnen, war in Indien nicht neu und wurde insbesondere von den Materialisten betrieben. Konsequenter als alle anderen nichtmaterialistischen Denker Indiens lehrt der Buddha: Nirgendwo ist Ewigkeit, auch nicht in einer "Seele".


Eine kühne Reduktion

Angelpunkt wissenschaftlicher Betrachtungsweise ist der Reduktionismus, die Aufspaltung der Natur in ihre natürlichen Bestandteile. Es ist großartig, wie der Buddha dieses Mittel anwandte und durch "unerbittliche Analyse" (M. Eliade) die Existenz einer ewigen, sich durch die Wiedergeburten wie eine Perlenkette ziehenden Seele (atman) widerlegte und demonstrativ den "An-Atman" (Pali: anatta) verkündete, die Seelenlosigkeit (auch: Ichlosigkeit) der empirischen Person. Die fünf Konstituenten der empirischen Person ("khandhas") - Körper, Empfindungen, Wahrnehmungen, Geistesregungen und Bewußtsein - sind nämlich sämtlich vergänglich und erfüllen daher nicht die an eine Seele zu stellende Anforderung, den Tod zu überdauern:

a) Da ist zunächst der Körper (rupa), dessen Vergänglichkeit für jeden Betrachter klar auf der Hand liegt. Er ist unbeständig und leidhaft, in ihm kann nicht die ewige Seele, das Selbst (Skt: atman, Pali: atta) gesehen werden. Der Körper ist der Träger der restlichen vier (nichtphysischen) Khandhas (nama). Auch in diesen sucht man vergeblich nach der (ewigen) Seele:

b) Die Empfindungen, also unsere sinnlichen Eindrücke, wechseln ständig, auch sehr extrem, und sind von verschiedensten Einflüssen abhängig. Was so schwankend und abhängig ist, kann nicht unser ewiges Ich sein.

c) Die Wahrnehmungen entstehen im Kopf aus den Empfindungen, sie sind wechselnd positiv, negativ oder neutral. Sie sind nicht das Ich selber, sondern verstärken das Greifenwollen nach einem Ich.

d) Die Geistesregungen, nämlich Begierden und Absichten, sind abhängig von den Wahrnehmungen und drängen darauf, Vorstellung in Wirklichkeit zu verwandeln. Ohne selber dauerhaft zu sein, prägen sie unsere Gewohnheiten, sind Anstifter zu karmischem Tun.

e) Das Bewußtsein schließlich ergibt sich aus der Summe der anderen drei Nama-Elemente und kann somit erst recht nicht den "Atta" enthalten.

Diese analytische Zerlegung der Persönlichkeit in physische und mentale Bestandteile ist vom Buddha erschöpfend gemeint und kann auch aus heutiger Sicht so verstanden werden. Die Aussage Buddhas deckt sich mit heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis, daß das "Ich" nur ein Bündel verschiedener Perzeptionen ist, die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und ständig in Fluß und Bewegung sind. (s.u.) Die Welt i s t nicht, sondern sie geschieht, die scheinbare Beständigkeit des Ich besteht nur in der Kontinuität. Und dieses Kontinuum von Daseinsfaktoren findet nach buddhistischer Überzeugung gemäß der Wiedergeburtslehre kein definitives Ende durch den Tod. Denn an den letzten Moment des Sterbenden schließt sich unmittelbar (nach mahayanischer Ansicht auch später) der erste Moment eines neu entstehenden Wesens an. Da alles in der Welt, insbesondere die empirische Person, vergänglich ist, muß auch die brahmanische Annahme eines Atman falsch sein, denn dieser wird ja als ewige, sich durch die Wiedergeburten ziehende Entität angesehen.

Es sei darauf hingewiesen, daß der Buddha nicht nur durch rational- nüchterne Analyse der Khandhas, sondern auch im Wege der Erleuchtung die Unpersönlichkeit des Daseins erfuhr: Analyse und mystische Schau gehen also ineinander über.


Beweisfälligkeit des Seelenglaubens

Der Buddha hat die Atman-Lehre verworfen und damit die letzte Hoffnung zerstört, den Träger des Lebens doch noch irgendwie im Körper zu finden. Stattdessen hat er in einer intellektuell äußerst anspruchsvollen Theorie die Erlösung auf den Weg der Ethik verwiesen, was "das letzte ist, an das sich Rationalisten und Skeptiker noch zu klammern vermögen" (U. Schneider). Seine Lehre hatte die Grenze dessen erreicht, was eine bis zum äußersten getriebene Skepsis noch zu tragen vermag, in dieser Problemstellung war und ist eine Weiterentwicklung über die Lehre des Buddha Gautama hinaus nicht möglich. Er besaß den Mut, den Massen nicht die als "Ananda" bezeichnete metaphysische Wonne zu versprechen, sondern beschränkte sich auf die Mitteilung eines der Leidensüberwindung dienenden Verfahrens. Das alte Mikrokosmos- Makrokosmos Schema wurde nun endgültig aufgegeben, die Magie fiel weg und aus Religion wurde Philosophie.

Die Existenz eines Ich im Sinn von emotionalen Regungen - verbunden mit dem daraus folgenden, jedem Menschen vertrauten Ich-Gefühl - zweifelte Buddha jedoch in keiner Weise an. Was er bestreitet, ist die Existenz einer ewigen Seelen-Entität, die den Tod überdauert und der Seelenwanderung unterliegt. Dabei ist dies Bestreiten mehr als eine als Skepsis zu bezeichnende intellektuelle Position zu verstehen, denn der Buddha fordert die Vertreter des Seelenglaubens auf, doch einen Beweis für die Existenz eines unvergänglichen Selbst zu führen. Seine Kontra-Stellung gegen die Atman-Theorie gilt nicht primär der Leugnung eines Etwas hinter den Dingen, sondern der brahmanischen Behauptung, ein durch Abstraktion gebildeter Begriff wie der Atman sei die einzige Realität. Die Ablehnung des Atman hat keinen dogmatischen Charakter. Die Frage nach dem Atman blieb letztlich unbeantwortet: Auf die vom Wanderasketen Vacchagotta an ihn gerichtete direkte Frage, ob es nun einen Atman gibt oder nicht, hat der Buddha geschwiegen und damit angedeutet, daß die Wahrheit zwischen dem Vernichtungsglauben der Materialisten einerseits und dem Glauben an eine ewige Seele andererseits liegt. Buddhas Anatta-Lehre ist ein mittlerer Weg zwischen den beiden Extremen der an eine ewige Seele Glaubenden einerseits und der von völliger Vernichtung durch den Tod Überzeugten andererseits.

Der Buddha handelte und lehrte ausschließlich als Erlösungspragmatiker, die Erklärung der Welt war nicht seine Aufgabe. Letztlich war für ihn die Frage nach einer Seele nur sekundär. Mit seiner Anatta-Lehre hat Buddha Gautama anscheinend nicht leugnen wollen, daß es etwas hinter oder außerhalb der empirischen Welt geben könnte. Dieses Etwas war aber nicht zu erkennen und brauchte aus der Sicht der Erlösungssuche auch gar nicht erkannt zu werden. Damit liegt das Schwergewicht der Lehre Buddhas nicht mehr wie das der Atman-Theorie auf der Transzendenz, sondern auf der empirischen Welt. Als nüchterner Pragmatiker geht der Buddha allen Spekulationen wie über den Träger des Lebens einfach aus dem Wege, benutzt seine Anatta-Lehre eher als "heilspädagogisches" Mittel denn als philosophische Doktrin und greift genau da an, wo die Wurzel des Übels ist, nämlich beim Geburtenkreislauf. Die Existenz eines Absoluten kann für ihn dahingestellt bleiben. Erst in späteren Texten, etwa im Milandapana, wird die Existenz eines wie auch immer gearteten Selbst kategorisch verneint.

Unter den Buddhisten ist man sich nicht einig, was die Existenz der Seele betrifft. Der Buddha würde heute wohl lächelnd darauf hinweisen, dass inzwischen 2500 Jahre vergangen sind und der Nachweis des Atman immer noch nicht gelungen ist - seine Skepsis sich also bestätigt habe. Denn auf den Nachweis warten die Seelengläubigen der indischen Religionen genau so vergeblich wie die gläubigen Christen seit 2000 Jahren auf die Auferstehung und das Gottesreich auf Erden. Bis jetzt jedenfalls: Von einer Seele findet sich keine Spur, auch nicht mit den Mitteln der modernen Naturwissenschaft.


Wissenschaftliche Betrachtung

Kann uns denn in einer modernen, aufgeklärten Welt nicht von der Wissenschaft erschöpfende Auskunft über das Vorhandensein einer Seele gegeben werden? Es gibt sogar eine Fachrichtung, die sich nach diesem Betrachtungsobjekt benennt und als "Psychologie" ("Lehre von der Seele") bezeichnet wird. Doch ihre Vertreter winken ab: Aussagen über das Wesen der Seele und ihre Eigenschaften könnten von der Psychologie nicht gemacht werden, da sie außerhalb der Reichweite ihrer empirischen Methoden lägen. Zuständig seien diesbezüglich ausschließlich Philosophie und Theologie. In der Tat füllen deren Werke ganze Bibliotheken, von Descartes, der die Wechselwirkung zwischen Körper und Seele in die Zirbeldrüse verlegte, über Spinoza, dem zufolge Körper und Seele nur zwei Seiten derselben Wirklichkeit sind, bis Leibniz und seiner Monadenlehre. Schließlich greift das Begriffsmodell der "Komplementarität" gar auf die moderne Physik zurück: Wie ein Lichtquant als Korpuskel oder als Welle in Erscheinung treten kann, so das Lebendige als Leib oder Seele.

Zunehmend schwinden die Berührungsängste bei den Naturwissenschaftlern, insbesondere den Biologen. Auf die Frage, ob sich Biologen aufs Leben beschränken und die Seele der Religion überlassen sollten, antwortete der amerikanische Philosoph Daniel Dennet kürzlich: "Genau das hat ja Papst Johannes Paul II. gefordert, als er 1996 verkündete, die Evolution sei wohl eine Tatsache - und dann schnell hinzufügte: Aber mit Ausnahme der Seele. Das mag die Menschen zufrieden stellen es ist allerdings schlicht falsch."

Die Naturwissenschaften scheinen, wie auch der Buddha Gautama, der Annahme einer selbständigen (und ewigen) Seele mindestens mit größter Skepsis, wenn nicht mit Ablehnung gegenüber zu stehen. Der Hirnforscher und Nobelpreisträger John Eccles räumt zwar ein, dass sich einige hirnphysiologische Befunde mit der Annahme einer unabhängigen geistigen Substanz vertragen. Wenn sich aber immer mehr psychische Funktionen eindeutig materiell in gewissen Teilen des Gehirns verankern ließen, müsse ihre Zuordnung zur Seele im Sinn einer vom materiellen Gehirn unabhängigen Substanz aufgegeben werden. Genau dies ist der Fall. Die Fähigkeit zu bewusster Wahrnehmung erklärt sich offensichtlich aus den physikalisch-neuronalen Abläufen in den Sinnesorganen und den entsprechenden Zentren des Gehirns. Dann müssten die Vertreter des Seelenglaubens aber schon plausibel machen, wie und warum eine vom Körper unabhängige Seele noch eine zusätzliche Wahrnehmungsfähigkeit besitzen sollte.

Die dualistische Auffassung von Körper und Geist als unterschiedlichen Qualitäten wird also abgelöst von der monistischen Auffassung, beide seien Ausformungen derselben Ursache, das Bewußtsein sei nichts anderes als ein Produkt des Gehirns. Was als "Geist" umschrieben wird, ist physikalisch-biologisch zu erklären, und das Bewußtsein entsteht durch das Zusammenspiel zahlreicher Systeme. Wenn das Bewußtsein aber ein Produkt der Materie ist - auf welch noch unerklärlichem Weg auch immer dies geschehen mag - dann stirbt mit dem Körper auch die Seele.

Bleiben wir bei naturwissenschaftlicher Betrachtung und folgen dem amerikanischen Biologen Edward Wilson, der nach eigenem Selbstverständnis "der Suche nach objektiver Wahrheit den Vorzug vor der Offenbarung gibt" und dies "als Möglichkeit ansieht, den Hunger nach Religion zu stillen". Ihm zufolge sind frühe neurobiologische Modelle wie Descartes' Dualismus von Geist und Gehirn längst überholt und eine reduktionistische Analyse, wie sie auch der Buddha vorgenommen hatte (s.o.), bestätigt: Unser Verstand ist ein Strom aus bewußten und unbewußten Erfahrungen, eine verschlüsselte Darstellung von Sinneseindrücken, und unser Bewusstsein besteht aus der parallelen Verarbeitung einer riesigen Anzahl von Verschlüsselungsnetzwerken. Es gibt keine spezifische Stelle im Körper, an welcher der Sitz eines körperlosen Geistes vernünftigerweise zu vermuten wäre.

Das Ich, dieser "Schauspieler in einem Drama mit ständig neuen Wendungen" (Wilson), existiert nicht unabhängig, sondern Ich und Körper sind untrennbar miteinander verschmolzen. Auch wenn wir die Illusion eines unabhängigen Ichs haben, kann dieses nicht unabhängig vom Körper existieren, so wie dieser nicht lange ohne das Ich überleben kann. Die Idee, es könne in Himmel oder Hölle separate Seelen geben, ist angesichts dieser empirisch zu belegenden ungeheuer starken Einheit sehr abwegig. Sollte es aber trotzdem so etwas wie eine Seele geben, so hat, wie Wilson etwas ironisch konstatiert, "die Theologie in der Tat ein neues Mysterium zu klären: Die Seele ist körperlos und existiert unabhängig vom Geist, aber sie kann nicht vom Körper getrennt werden."

Theravada-Buddhisten können diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen sofort zustimmen, denn die fünf "Khandhas", die die empirische Person ausmachen, stellen nach ihrer Überzeugung im Todesmoment die Funktion ein und dem Verstorbenen bleiben weder Sinnesfähigkeiten noch Bewusstsein erhalten. Spätere buddhistische Richtungen gehen jedoch wieder auf altindische Nachtodkonzeptionen zurück, wonach dem Verstorbenen eine Restvitalität zugebilligt wird, ein durch Zwischenreiche wandernder feinstofflicher Körper angenommen wird oder sonstige dem Toten- und Ahnenritual nützliche Vorstellungen gepflegt werden. So nimmt der tibetische Buddhismus das Fortdauern eines Teils des Bewusstseins über den Tod der Person hinaus an mit der Folge, dass dem Verstorbenen von einem Lama noch bis zu 49 Tage Belehrungen zwecks Erreichung einer besseren Wiedergeburt erteilt werden können. Doch die Möglichkeit körperlosen Daseins wäre ein eigenes Thema und soll hier nicht weiter erörtert werden.


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Quelle:
Der Mittlere Weg - majjhima-patipada
39. Jahrgang, Mai - August 2007/2551, Nr. 2, Seite 13-19
Herausgeber: Buddhistischer Bund Hannover e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2007