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PRESSE/691: Karma und Zufall (DMW)


Der Mittlere Weg - Nr. 2, Mai - August 2008
Zeitschrift des Buddhistischen Bundes Hannover e.V.

Karma und Zufall

Von Axel Rodeck


1. Ein immer wieder aktuelles Problem

Vor einigen Jahren gingen weltweit Stürme der Entrüstung durch die Medien. Sie bezogen sich auf Aussagen, die - womöglich in gutem Glauben - gemacht worden waren, jedoch inhaltlich fehlgingen oder zumindest missverstanden werden konnten. Was war da geschehen?

Der erste Fall ereignete sich in England und betraf eine Äußerung des Trainers der englischen Fußballnationalmannschaft, ganz gewiß ein ehrenwerter Mann. Er hatte gesagt, er sei mit zwei Beinen und zwei Händen sowie einem funktionierenden Gehirn geboren worden - anders als einige andere Menschen, deren Schicksal aus einem früheren Leben stamme. Denn diese Behinderten müssten für ihre Sünden aus einem früheren Dasein büßen. Der englische Sportminister konstatierte daraufhin, wer sich abschätzig über Behinderte äußere, beleidige sie, der Trainer müsse deshalb entlassen werden.

Der andere Fall wurde aus Israel gemeldet. Dort hatte ein Rabbiner die sechs Millionen Opfer des Holocaust als "wiedergeborene Sünder" bezeichnet, die nur für ihre Sünden bestraft worden seien. Auch seien, so der damals 80-Jährige, die Araber ein verfluchtes Volk und Gott bedauere jeden Tag, die Ismaeliten (= Moslems) geschaffen zu haben.

Wie gefährlich derartige törichte Aussagen selbst für Unbeteiligte sein können, wissen wir nicht erst seit den Gewalttaten nach den "Mohammed-Karikaturen". Die Thematik schwappte natürlich auch auf die Buddhisten über, diese wurden gelegentlich etwas scheel angesehen: "Das ist doch auch eure Lehre!? Seht ihr das nicht ebenfalls so?!" Nicht jedem fiel dann gleich eine korrekte buddhistische Antwort ein, obwohl in (zumindest unseren) buddhistischen Gesprächskreisen schon so manches Mal über Ursache und Wirkung und die Frage diskutiert worden war, wieso Kinder behindert geboren werden, warum gerade uns der Dachziegel auf den Kopf fiel und ob Massenschicksale karmisch bedingt sein können. Dabei hätte doch schon der Hinweis darauf, dass Trainer und Rabbi von "Buße" für "Sünden" sprachen, die christlich-jüdische Verballhornung eines buddhistischen Grundgedankens deutlich gemacht. Womöglich wurde stattdessen nur ein wenig hilflos etwas von "Karma" gemurmelt.

Anlaß also, sich einmal ganz sachlich mit der Materie und dem erwähnten "Karma" zu befassen. Was ist das aus dem indischen Kulturkreis stammende "Karma" und wo ist seine Abgrenzung zum "Zufall"?


2. Das Karma

a) Die Entwicklung der Karma-Lehre

Der Begriff "Karma" (Sanskrit; Pali: kamma) bedeutet "Tat, Handeln" und geht auf die Zeit der älteren Upanishaden (9. Jhd. v. Chr.) zurück. Danach ist die rituelle Handlung des Feueropfers die wichtigste überhaupt denkbare Handlung, ja, sie ist geradezu der Prototyp einer jeglichen bedeutsamen Handlung. Das ursprüngliche Opfer war nach brahmanischer Auffassung das Opfer des Schöpfergottes, der sich selbst opferte und damit den Kosmos in Gang hielt. Alle folgenden Opfer haben dieselbe Funktion, nämlich den Kosmos zu erhalten, und sie versuchen, das ursprüngliche Opfer zu wiederholen, wobei der Mensch bei der Opferzeremonie seine eigene Person durch andere Gegenstände als Opfergaben ersetzt. Jedenfalls gehört es zum System des Universums, dass Handlungen ihre Folgen haben, also durch eine Kausalität bewirkte Ergebnisse.

Der ausgeprägten ethischen Gesinnung der Inder entsprach es, dass die meisten von ihnen nicht in einem blind waltenden Fatum, sondern in einer sittlichen Weltordnung ("Rita") die höchste Macht sahen, die alles Werden in Welt und Leben bedingt. Die Vorstellung vom "Rita" als einer die Welt beherrschenden kosmischen Harmonie, die nicht ohne Folgen gestört werden durfte, erfuhr dann später eine tiefgreifende Um- und Weiterbildung in den Upanishaden der spätvedischen Zeit, wo jetzt statt von Rita vom "Dharma" (= "Träger") gesprochen wird. Die Inder gingen nämlich einen großen Schritt weiter: Sie definierten das "Schicksal" als das Zur-Reife-Kommen der Vergeltungskausalität der sittlich bedeutsamen Handlungen einer abgelaufenen Existenz. Zwar beinhaltet etwa auch das chinesische "Tao" ein sich in Natur und Sitte offenbarendes Weltgesetz, der indische Dharma schließt jedoch zudem noch die Vorstellung karmischer Folgewirkungen ein.

Die Lehre vom "Karma" wird nun zum Zentraldogma für alle indischen Religionen. Indem sie eine sittliche Weltordnung unterstellt, stellt sie drei Erfordernisse auf: Der Mensch muß einen freien Willen haben, da er sich sonst nicht sittlich verhalten kann; zwischen guten und bösen Taten muß gerecht unterschieden werden; es muß die Möglichkeit zur Weiterentwicklung auch nach Beendigung der gegenwärtigen Existenz bestehen (Wiedergeburt). Der geradezu naturgesetzlich erfolgende Ausgleich zwischen Handeln und Schicksal läßt die indischen Religionen moderner erscheinen als andere, die auf Furcht gegründet sind und auf von einer höchsten Autorität verhängte Strafen.

Die religiös-philosophische Frage nach einer sinnvollen, moralischen Weltordnung ist verbunden mit der Reinkarnationslehre. Es ist die Frage nach der Gerechtigkeit in einer Welt, in der die menschlichen Lebensschicksale so ungleich und ungerecht verteilt sind. Die indischen Denker haben es nicht einfach fraglos hingenommen, dass die Unterschiede zwischen den Menschen und ihre Ungleichheit gottgewollt sein sollen.

Da also ein Verschulden irgendwelcher Mächte ausscheidet, können die qualitativen Unterschiede nur von den Lebewesen selbst erworben worden sein, nämlich in früheren Existenzen. Was die Einzelseele in einem früheren Leben erlebt und erlitten hat, was sie getan und anderen angetan hat, wirkt sich im neuen Leben aus. Und was sie jetzt tut oder unterläßt, wird wiederum die Qualität des nächsten Daseins bestimmen. Das ist das Gesetz von Ursache und Wirkung, das Karma-Gesetz.


b) Buddhas Psychologisierung des Karmabegriffs

Der Buddha erkannte die vorgefundene Lehre vom Karma, ebenso wie die von den Wiedergeburten, als prinzipiell richtig an. In der Nacht seiner Erleuchtung war ihm gewiß geworden:

"Die Wesen, die von Körper, Rede und Denken schlechten Gebrauch machen, die erlangen nach dem Zerfall ihres Körpers, nach dem Tode, schlechte Wiedergeburt, sinken ab, verderben, geraten in die Hölle. Jene Wesen hingegen, die von Körper, Rede und Denken guten Gebrauch machen, die erlangen nach dem Zerfall ihres Körpers, nach dem Tode, gute Wiedergeburt und gelangen in den Himmel."

Wir sehen, dass der Buddha nicht mehr allein auf die Handlung als solche abstellt, womit er die tradierte Karma-Lehre vertieft: Nicht die Tat ist es, die die Zukunft bestimmt, sondern das Wollen, die "Tatabsicht". Durch Abstellen auf den Willen wird der Karmabegriff psychologisiert. Es war zweifellos ein entscheidender Schritt des Buddha, eine Neuinterpretation des Begriffs "Karma" vorzunehmen und ihn über den rituellen und tatsächlichen Bereich hinaus auf den der Ethik auszuweiten. Er verkündete, dass Karma eine rein ethische Gegebenheit des Denkens, der Rede und der Tat sei. Die Bewertung des Karma als gut oder schlecht ergibt sich allein aus der Absicht, die dahinter steht. Der Wert einer Tat hängt also von dem zu Grunde liegenden Motiv ab.

Die Frage, wie denn aus der Qualität von Handlungen und Tatabsichten Konsequenzen für die Zukunft, gar über den Tod hinaus, entstehen können, ist eigentlich recht einfach und überzeugend aus dem Gesichtspunkt der Verfestigung von Gewohnheiten zu beantworten. Was wir tun und denken prägt unsere Psyche, hat Auswirkungen auf unser Bewusstsein und damit unsere Position in der Welt - eine Erfahrung, die wir mit etwas Aufmerksamkeit jederzeit in unserem Leben machen können. Entscheidend ist jedoch die Bewusstseinslage im Augenblick unseres Todes. Denn nach dem "Gesetz der Anziehung" (bzw. der "Wahlverwandtschaft"), wonach sich Gleiches stets zu Gleichem gesellt, sucht sich das sterbende Wesen ein dem eigenen Bewusstsein entsprechendes Lebewesen (eine Mutter) für seine Wiedergeburt. Es sendet sozusagen auf einer nur für bestimmte (ihm ähnelnde) Empfänger zugänglichen Frequenz.

Die Qualität der nächsten Wiedergeburt hängt somit davon ab, welches Karma im Todesmoment ins Bewusstsein tritt, und die Lehre spricht von vier Kategorien: Da ist zunächst das "Schwerwiegende Karma" (etwa wegen eines begangenen Schwerverbrechens), zweitens das "Habituelle Karma" (geprägt durch die Art und Weise, wie wir gelebt haben), sodann das "Nahe Karma" (Ereignisse unmittelbar vor dem Tod) und schließlich das "Allgemeine Kamma" (sonstige frühere Handlungen). Bei Normalmenschen wird das Habituelle Karma dominant sein und als Ergebnis bringen: So wie wir gelebt haben, so sterben wir und so werden wir wiedergeboren.

Der Buddha ging über die alte Lehre auch insofern hinaus, als er dem Karma nicht nur für die Wiedergeburt, sondern auch für die Erlösung entscheidende Bedeutung zuerkannte. Erlösung bedeutet, aus dem karmisch bedingten ständigen Kreis der Wiedergeburten auszuscheiden. Wenn gutes Karma zu guter und schlechtes Karma zu schlechter Wiedergeburt führt, so gelangt man zur Erlösung, wenn gar kein Karma mehr angesammelt wird. Denn Taten und Tatabsichten, die nicht von Gier, Haß und Unwissenheit motiviert sind, bleiben ohne karmische Nachwirkungen. Hierzu zeigte der Buddha einen Weg, der von jedem Menschen gegangen werden kann, das Erlösungsmonopol der Brahmanen war somit gebrochen.


c) Der Umfang des Karma (karmavipaka)

Der Bedeutungsinhalt des Wortes "Karma" hat sich also von der bloßen (rituellen, den Brahmanen vorbehaltenen) Handlung weiterentwickelt und bedarf, auch wegen der in Buddhistenkreisen häufig anzutreffenden Missverständnisse, einer Erläuterung: Als "Karma" bezeichnet man im Theravada zum einen diejenigen Handlungen, für die ein Individuum die Verantwortung trägt, zum anderen aber auch die sich aus diesen Taten ergebenden Ergebnisse (karmavipaka = "Reifung früherer getaner Tat").

Auf die unschöne Angewohnheit, mit fatalistischem Unterton jedes Missgeschick auf "schlechtes Karma" wegen früheren Tuns zurückzuführen, sei an dieser Stelle hingewiesen. Gerade hinsichtlich der praktisch wichtigen Frage, was im Leben alles karmisch bedingt ist, herrschen oft abwegige Vorstellungen. Die Floskel "Alles ist Karma" deutet auf ein Verständnis des Karmagesetzes im Sinne eines mechanischen Vergeltungsprinzips alttestamentlicher Prägung. Das ist es aber auf keinen Fall und wir wollen uns darüber klar werden, wo die Grenzen des Karma sind, welche Wirkung (bzw. "Frucht", karmavipaka) überhaupt entstehen kann.

Nach buddhistischem Verständnis entscheidet das "Karma" darüber, wie man wiedergeboren wird und wie die künftige Existenz ausgerichtet werden soll, legt also die Rahmenbedingungen der neuen Existenz fest. Es bestimmt das Geburtsumfeld und die körperlich-geistigen Anlagen der Wiedergeburt, keineswegs aber deren Schicksal und zukünftiges Tun. Die Frucht des Karma wird nicht geerntet In der neuen Existenzform, sondern als die neue Existenzform. Die Meinung, dass alles, was man erlebt und empfindet, dass alles in diesem Leben Erlittene die Frucht alten Tuns sei, gehört zu den Auffassungen, die der Buddha als falsch bekämpfte. Das Karma eines Menschen kann demnach bestimmen:

den niedrigen oder höheren geistigen Rang des Wiedergeborenen,
seine Kurz- oder Langlebigkeit,
seine Kränklichkeit oder Gesundheit,
seine Hässlichkeit oder Schönheit,
seinen gesellschaftlichen Einfluß,
ob er in armer oder reicher Familie geboren wird,
seinen sozialen Stand,
den Grad seiner Intelligenz.

Man mag aus heutiger Kenntnis die einzelnen Karmafrüchte anders bewerten als im alten Indien. Wichtig aber ist festzustellen, dass im Kreislauf der Geburten kein allgemeiner Determinismus vorliegt. Ein wesentlicher Teil unserer Existenz ist jedenfalls karmisch nach dem "Gesetz von Ursache und Wirkung" reguliert, und wenn wir nicht an das Eingreifen einer höheren Macht glauben wollen, kommt für den restlichen, "unkarmischen" Teil nur noch ein etwas suspekt scheinender Geselle als Ursache in Betracht: Der Zufall.


3. Die Rolle des Zufalls

a) Kinder des Zufalls

Dass alles, was uns widerfährt, von einem weisen Gott, von einem geheimnisvollen Schicksal oder vom gleichfalls mysteriösen Karma verursacht wurde, ist der Mensch ja gern bereit zu akzeptieren. Dagegen hat er Hemmungen, für seine Begebenheiten schlicht und einfach den schnöden Zufall verantwortlich zu machen. Dazu kommt, dass der Mensch die Welt verstehen will und sich nach einem übersichtlichen Leben sehnt, der bloße Zufall macht ihm daher Angst. Jedenfalls wird der Zufall bei uns und wohl in allen Kulturen gern ausgeklammert, ja verdrängt, weshalb wir uns einmal mit seiner Rolle in unserem Leben befassen wollen.

Zunächst sollten wir uns klar machen, dass wir, die wir hier sitzen und einen Text lesen, selber Produkte des Zufalls sind und nur als Folge von unendlich vielen Zufällen die Fähigkeit zu unseren menschlichen Leistungen haben. Wir sind Zufallsergebnisse aus dem Bastelkeller der Evolution. Die Natur experimentierte wahllos mit neuen Formen und keines ihrer Geschöpfe und deren Eigenschaften ist geplant worden. Unsere Erde erwies sich mit ihrer - sicherlich äußerst seltenen - optimalen Lage im Sonnensystem als für die Entstehung und Evolution des Lebens bestens geeignet. Durch ständige Selektion entwickelten sich dort die heutigen komplexen Lebensformen, eine neu beginnende Evolution würde zu ganz anderen Ergebnissen führen.

Das Darwinsche Konzept einer Evolution durch natürliche Selektion schildert einen automatisch ablaufenden Prozeß und stößt daher auf den Widerstand derjenigen, die einen gestaltenden Willen (Gott) für erforderlich halten. Die Buddhisten können es dagegen gut mit ihrer Karmalehre vereinbaren: Die Entstehung der Arten nach dem "Gesetz des Zufalls" steht nicht im Widerspruch zu der Aussage, dass nach dem "Karmagesetz" die zum Tragen von Verantwortung befähigten Wesen mit ihren Handlungen Ursachen für die Gestaltung ihrer Zukunft setzen.


b) Von Klapperstorch und Koinzidenzen

Der Zufall ist also offensichtlich ein der Welt zu Grunde liegendes Prinzip, kommen wir jetzt auf seine Rolle im Alltag zu sprechen. Als "zufällig" bezeichnen wir zwei Gruppen von Geschehnissen: Erstens, wenn ein Ereignis keine zu Grunde liegende Gesetzmäßigkeit erkennen lässt, (z.B. die Auslosung der Lottozahlen); zweitens, wenn Ereignisse so zusammen fallen, dass wir einen Sinn darin zu sehen glauben ("Koinzidenz").

Mit der Koinzidenz müssen wir uns etwas näher befassen und wählen zum Einstieg die bekannte Geschichte vom Klapperstorch: Akribische Beobachtung von Störchen in einem Gebiet hat einen Rückgang der Adebare um 30% ergeben. Gleichzeitig stellen die Behörden fest, dass auch die Geburten bei der Bevölkerung dieser Gegend um 30% gesunken sind. Logische (?) Schlussfolgerung: Der Klapperstorch bringt, wie es die alten Mären ja sagen, die kleinen Kinder. Etwas aufgeklärtere Mitmenschen stellen natürlich fest, dass hier fälschlich aus einem Zusammentreffen zweier Ereignisse ein Zusammenhang abgeleitet wurde, mit anderen Worten: Hier wurde Koinzidenz mit Kausalität verwechselt. Das sollte nicht erstaunen, denn es liegt in unserem Wesen, im Geschehen um uns herum Muster zu erkennen und Zusammenhänge zu vermuten.

Auch außerhalb der Welt der Klapperstörche finden wir im Alltag viele Koinzidenzen. So etwa, dass es immer gerade dann regnet, wenn wir den Schirm vergessen haben. Wir hören von seit Jahrzehnten getrennten Geschwistern, die unversehens auf einer Urlaubsreise wieder zusammentreffen. Und wer spricht nicht von "Gedankenübertragung", wenn Tante Erna just in dem Augenblick anruft, als wir an sie denken? Dabei wissen nicht nur Buddhisten, dass in unserem Kopf ein permanenter Gedankenstrom fließt, in dem sich auch immer wieder (aber unbeachtet) der Gedanke an Tante Erna findet. Es ist also lediglich eine Frage der Statistik, wann einer dieser vielen Gedanken mit dem Telefonanruf zusammenfällt - und dadurch ein gar nicht bestehender Zusammenhang suggeriert wird.

Damit kommen wir auf den oben schon kurz erwähnten Dachziegel zu sprechen, der uns bei unserem Weg von der Arbeit nach Hause auf den Kopf fiel. Zufall oder nicht, Schicksal oder Karma?


c) Dachziegel trifft Fußgänger

Wir haben hier wieder zwei Handlungsstränge, die wir untersuchen wollen. Der eine betrifft uns als Fußgänger, nämlich unser Erscheinen an bestimmtem Ort zu bestimmter Zeit. Gemäß dem überzeugenden Kausalitätskonzept der buddhistischen Denkweise ist eine Vielzahl von Bedingungen ursächlich ihr jedes Ereignis (Konditionismus). Wie jedes Geschehnis beruht also auch unser räumlicher und zeitlicher Aufenthalt am Unglücksort auf einem gewaltig großen Bedingungsstrom, von dem wir uns hier nur beispielhaft einige adäquat erscheinende Glieder herausgreifen können, die conditio sine qua non (unerlässliche Vorbedingung) für den Eintritt des Ereignisses (von Erfolg zu sprechen, verbietet sich hier wohl!) sind: Wir gingen zu Fuß, weil unser Auto in der Werkstatt war; unser Weggang aus dem Büro verzögerte sich, weil wir noch vom Chef angesprochen wurden; wir passierten das Unglückshaus, weil wir einen bestimmten Laden aufsuchen wollten usw. usw. Das Ergebnis der unendlich vielen Einzelfaktoren war jedenfalls unsere Anwesenheit unter dem schadhaften Dach genau zu der Zeit, als der Ziegel sich löste.

Der andere Handlungsstrang betrifft den Dachziegel. Auch hier ist eine Vielzahl von Faktoren gegeben, von denen keiner weggedacht werden kann, ohne dass das schädigende Ereignis weggefallen wäre (oder einen anderen Passanten getroffen hätte): Eine Windböe zur Unglückszeit riß den wackeligen Ziegel los; dieser war locker, weil ein Geselle beim Dachdecken fahrig und übermüdet war; dies beruhte auf einer Feier am Vorabend usw. usw. Auch hier eine unendliche Zahl von Vorbedingungen, die kausal ihr den Sturz genau zu der Zeit waren, als wir unter dem Dach spazierten.

Wenn wir nun die beiden Handlungsstränge analysieren, so können wir keinen inneren Zusammenhang zwischen ihnen feststellen. Zwei unabhängige Kausalverläufe führten zu einem bloßen Zusammentreffen, also zu einer Koinzidenz. Damit liegt hier hinsichtlich des auf den Kopf gefallenen Ziegels lediglich ein zufälliges Ereignis vor (ein "Zufall", hier leider als Unfall). Wie häufig sich ein derartiger Zufall innerhalb eines Lebens ereignet, also wie wahrscheinlich er ist, können uns nur die Statistiker sagen.

Es lässt sich allerdings grundsätzlich nicht unwiderlegbar beweisen, ob eine Verkettung von Ereignissen wirklich zufällig ist - oder sich dahinter doch eine geheimnisvolle Kraft verbirgt.

In solchen Fällen neigt der Mensch deshalb oft dazu, den Zufall zu leugnen und einen Zusammenhang zu konstruieren. Denn der Glaube an die Macht des Schicksals oder einen Weltenlenker ist ein fester Zug in unserer Persönlichkeit. Wir wollen immer einen Grund wissen für das, was uns zustößt, und dabei beruhigt die Vorstellung einer höheren Absicht, selbst wenn wir ihr ausgeliefert sind. Hier ist der Bereich des Glaubens. Und wer an verborgene Pläne glaubt, sieht sich meist im Besitz einer besonderen Intuition, glaubt an für ihn und seine Glaubensgenossen offen stehende Erfahrungswelten, von denen die Skeptiker in ihrer beengten Weitsicht nicht mal etwas ahnen.


d) Warum stoppte die Uhr?

Abschließend sei dem Verfasser gestattet, ein eigenes Erlebnis zu schildern: Am letzten Tag meines Berufslebens machte ich eine Abschiedsrunde durch die Firma und fuhr anschließend nach Hause. Dort stellte ich fest, dass meine stets zuverlässige Uhr kurz vor Verlassen der Firma stehen geblieben war! Mein Verstand sieht hier eine Koinzidenz, denn schließlich musste sich die Batterie ja mal erschöpfen - reiner Zufall, dass dies auf der Abschiedsrunde geschah. Mein Gefühl möchte dem widersprechen: Hat vielleicht die Emotionalität der besonderen Abschiedssituation zu physikalischen oder gar metaphysischen Konsequenzen geführt, die das Verhalten der Uhr beeinflussten?

Und noch ein Geschehnis aus dem Grenzbereich der Koinzidenz sei mitgeteilt: Ausgerechnet während meiner ersten Liebende-Güte-Meditation auf einer Veranstaltung im BBH-Zentrum wurde bei mir zu Hause eingebrochen. Immerhin schien es sich um einen korrekten Einbrecher alter Schule zu handeln, der Schäden an Sachen auf das bei seiner Berufsausübung nun einmal unvermeidliche Maß zu reduzieren wusste.

All das klingt sehr geheimnisvoll - und ist es wohl auch. Wir wollen das Thema "Kausalität" daher nicht beenden, ohne noch auf Carl Gustav Jungs Synchronizitäts-Theorie hingewiesen zu haben. Danach gibt es eine Gruppe von Geschehnissen, die auf besondere Weise - aber nicht kausal - miteinander verknüpft sind ("bedeutungsvolle Koinzidenzen"). Solche synchronen Ereignisse hängen nach Jung mit verschiedenen Ebenen des Unbewussten zusammen. Die Psyche ist ein Mikrokosmos, der den Makrokosmos spiegelt. Der Mensch ist jenseits der bewussten Ebene auf einer tieferen, unbewußten Ebene in einen Beziehungskomplex eingebunden, der Raum, Zeit und Kausalität überschreitet und ständig Synchronizitäten formt. Eine Art magnetische Anziehungskraft des Gleichartigen würde erklären, warum Böses das Böse und Gutes das Gute nach sich zieht. Jung sah das chinesische I Ging als Bestätigung des Synchronizitätsprinzips an, schlug aber auch eine Brücke zur modernen Physik (Quantentheorie nach Wolfgang Pauli).


4. Probleme der Karma-Lehre

a) Nicht alles ist "Karma"

Wie schon gesagt, wird in den frühen Lehrreden Buddhas die Ansicht zurückgewiesen, alles Erlebte sei ehemaligen Taten zuzuschreiben. Vielmehr wird das früher erworbene Karma nur als eine von vielen möglichen Ursachen angesehen. Es ist daher verständlich, wenn der Indologe und langjährige Theravada-Mönch Aloys Payer die häufig gehörte Aussage "Alles ist Karma" als bloße Ausrede ansieht, die aus "Karma" eine unüberprüfbare Ideologie macht, "mit der man alles erklärt, ohne auch nur über die geringste Einsicht in die Wirkungszusammenhänge zu verfügen." Richtig dürfte vielmehr der Sangharakshita-Schüler Alex Kennedy liegen, wenn er sagt: "Die karmische Ordnung ist bloß eine von mehreren Stufen der Konditionalität." Die einzige Möglichkeit festzustellen, ob ein Vorfall als Ergebnis früheren Karmas anzusehen ist, liegt laut Kennedy darin, alle übrigen Erklärungsmöglichkeiten auszuschließen.

Dem ist bei vorurteilsfreier Betrachtung sicherlich zuzustimmen. Allerdings lässt sich dieses Ziel leider nicht ohne oft erheblichen Aufwand an Wissen (Information) erreichen, wie noch einmal am Beispiel der Klapperstorch-Gläubigen (s.o. 3 b) gezeigt werden soll: Es erfordert den erfolgreichen Besuch eines Volkshochschulkurses zum Thema "Zeugung und Geburt", um den Glauben an den Klapperstorch zu zerstören und die bis dahin bestehende Verwechslung von "Kausalität" und "Koinzidenz" aufzugeben.

Damit kommen wir auf die eingangs zitierten Äußerungen des englischen Trainers und des jüdischen Rabbis zurück.

aa) Der Trainer hat eine allgemeine Behauptung aufgestellt, die in keiner Weise die verschiedenen Ursachen berücksichtigt, die zur Behinderung eines Kindes führen können. Die - auch vorgeburtliche - Behinderung kann unendlich viele physische und chemische Ursachen haben, etwa eine Körperverletzung durch Dritte oder die Einnahme von Medikamenten durch die Mutter. Greifen wir auch hier zur Verdeutlichung ein schon oben (3 c) angeführtes Beispiel auf: Fällt der lockere Dachziegel auf eine Schwangere und schädigt deren Kind, so gilt die Feststellung, dass die beiden Handlungsstränge "Weg der Schwangeren" und "Fallen des Ziegels" zusammentreffen, ohne dass eine innere Kausalität gegeben ist (will man nicht das Walten irgendwelcher göttlicher oder geheimnisvoller Mächte annehmen). Auch hier ist der Unfall ausschließlich "Zufall" - mag sich das Kind aus früherem Leben auch noch so viel negatives Karma aufgesammelt haben.

bb) Auch keines der Opfer des Holocaust war karmisch hierfür prädestiniert. Der Lebenslauf jeden einzelnen Opfers hatte seine unendlich vielen Vorbedingungen, genau so wie der seines verbrecherischen Schergen. Dass Opfer und Scherge dann im Konzentrationslager zusammentrafen, begründet keinen Zusammenhang, ist also lediglich Koinzidenz. Die fehlende Kausalität wird ja daher vom Rabbi dadurch ersetzt, dass eine strafende Instanz (Gott) konstruiert wird. Die Behauptung des Rabbi ist aber insofern bemerkenswert, als sie eine Kollektivschuld nahe legt, was ja alttestamentlicher Denkweise entspricht. Fragen wir daher, ob ein kollektives Karma nach buddhistischer Auffassung möglich ist.

Gemäß Gautamas ursprünglicher Lehre erwirbt jeder durch eigenes Tun sein höchstpersönliches Karma. Daher ist auch die Übertragbarkeit von Karma auf andere nicht möglich, eine Auffassung, die dann vom Mahayana aus dem Gesichtspunkt der Verdienstübertragung (Bodhisattva-Lehre) aufgegeben wurde. Jeder hat also nach theravadischer Lehre ein individuelles Karma, während die Veden noch davon ausgingen, es gebe ein gemeinsames Karma der Mitglieder einer Familie oder eines Stammes. Denn das Leben als Einzelperson ist eingebettet in das Leben der Familie, der näheren Umgebung, des Volkes und letztlich der gesamten Menschheit. Diese Auffassung wurde später vom Volksbuddhismus wieder aufgegriffen. Sie lässt sich aber mit der Aussage, dass das Karma nur das Geburtsumfeld und die körperlich-geistigen Anlagen der Wiedergeburt bestimmt (s.o. 2 c), nicht vereinbaren.


b) Plausibilität der Karma-Theorie

Wiedergeburtslehre und Karmalehre geben eine plausible Erklärung für die unterschiedlichen Entwicklungen der Menschen, insbesondere für die ungerecht erscheinende Verteilung von Lasten. Das Gesetz von Ursache und Wirkung, das Naturgesetz der ethischen Kausalität, war (und ist!) fundamentaler Bestandteil buddhistischen Denkens. Für uns Unerlöste erscheint es axiomatisch. Niemand verlangt von uns jedoch, diesem Gesetz kritiklos zu glauben, sondern wir können es - im Vergleich zu "Konkurrenzmodellen" - für lediglich am plausibelsten halten. Die prophetischen Religionen mußten sich schon immer der Frage stellen, warum der angeblich allmächtige und gütige Gott seine Allmacht nicht dazu benutzt, das Leiden allgemein oder zumindest das der Gerechten und Unschuldigen abzuwenden. Es handelt sich um das uralte Problem der Theodizee (griech. Rechtfertigung Gottes), also die Rechtfertigung des Glaubens an einen Gott der Liebe in Hinblick auf das oft so sinnlos erscheinende Leid in der gottgeschaffenen Welt. Doch die Antworten der Monotheisten - insbesondere der Hinweis auf Gottes unerforschlichen Ratschluß - erscheinen bei näherer Betrachtung weitaus unvernünftiger und zweifelhafter als das buddhistische Modell.

Auch können wir Vertrauen (shraddha) zu Buddha Gautamas Angaben haben, der das Karmagesetz in der Nacht seiner Erleuchtung als zutreffend erkannt haben will: "Mit dem himmlischen Auge, dem klaren, über menschliche Grenzen hinausgehenden, sah ich, wie die Wesen vergehen und (wieder) entstehen, sah ich hohe und niedrige, glänzende und unscheinbare, wie ihnen je nach ihren Taten ( kamma) günstige oder schlechte Wiederverkörperung zuteil geworden war." Die Wiedergeburtslehre, so der Indologe v. Stietencron, "gibt dem Menschen Hoffnung auf eine bessere Zukunft in künftigen Leben und eine starke Motivation, an sich selbst zu arbeiten, damit eine solche Besserung eintritt".

Die aus dem Hinduismus übernommene Karma-Lehre ist jedoch auch, so kritisiert der Indologe K. Mylius, "eine unleugbare Schwäche des Buddhismus. Denn es gelingt ihm hier nicht, sich von vorgefundenen Dogmen frei zu machen. Die Behauptung einer moralischen Weltordnung ist zweifellos sehr edel, müßte aber hinterfragt werden: Wer setzt die Maßstäbe eines moralischen Wandels fest, wenn man sich nicht auf einen Propheten oder jemanden, dem die Gesetze von Gott selber überreicht wurden, berufen kann?" Gibt es überhaupt eine allgemeine, zeitlose, über sozialen Klassen und Gruppen thronende Gerechtigkeit?

Kritisch auch Jane Bunnag (in dem von H. Bechert und R. Gombrich herausgegebenen Buch "Der Buddhismus"): "Die Karmalehre stellt nur eine sehr allgemeine Theorie über die Ursachen der Wechselfälle des Lebens dar, die viel zu allgemein gehalten ist, um alle Fragen zu beantworten. Der einzelne weiß zu keinem Zeitpunkt, wie groß sein Guthaben an Verdienst ist oder wann sich die Ergebnisse seiner guten und schlechten Taten auswirken werden." Neben der Karmalehre, so Jane Bunnag, kenne man in den theravadischen Ländern daher auch andere Theorien über Zusammenhänge und Ursachen des Geschehens, beispielsweise den Zufall - wie wir in vorliegendem Beitrag ja erörtert haben.

Die Lehre vom Karma, so K. Mylius, ist genau so wenig beweisbar im wissenschaftlichen Sinn wie die der Wiedergeburten. Sie wurde vom Buddhismus als "selbstevidentes Dogma" übernommen.

Freilich werden diese Feststellungen einen Buddhisten nicht verdrießen. Wie der Meister (offenbar aus Erfahrung mit den Skeptikern schon zu seiner Zeit!) sagte, ist die Beachtung der Tugendregeln für den Menschen auch dann sinnvoll, wenn er von der Karmalehre nichts weiß oder nicht an den Dharma glaubt. Denn er führt dann jedenfalls in der gegenwärtigen Welt ein erfülltes Leben frei von Haß und Übelwollen, also einen moralischen Lebenswandel, der in jedem Fall von Vorteil ist: Stimmt das Karmagesetz, haben wir die Chance zu einer Wiedergeburt in besseren Verhältnissen (von Erlösung ganz zu schweigen), stimmt es nicht, geht es uns wenigstens in dieser Welt besser.

Und der Welt mit uns auch.


"Vom Standpunkt der Betroffenen macht es keinen Sinn, wenn ein Kind behindert geboren wird. Nur wenn man den Menschen als Bestandteil der gesamten Evolution auf der Erde begreift, die den Gesetzen von Mutation und Selektion folgt, wird man auch den Sinn einer Behinderung verstehen und letztlich akzeptieren.

Die Fehler unserer Weltbetrachtung beginnen da, wo wir so tun, als wenn die ganze Welt so sein müsste, wie wir es wünschen. Das kann sie nicht, denn sonst hätte sie uns nicht hervorgebracht"

Eugen Drewermann


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Quelle:
Der Mittlere Weg - majjhima-patipada
40. Jahrgang, Mai - August 2008/2552, Nr. 2, Seite 6-14
Herausgeber: Buddhistischer Bund Hannover e.V.
Drostestr. 8, 30161 Hannover
Tel. und Fax: 05 11/3 94 17 56
E-Mail: info@buddha-hannover.de
Internet: www.buddha-hannover.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2008