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PRESSE/790: Welt und Ich - Vermeintliche Realitäten (Buddhistische Monatsblätter)


Buddhistische Monatsblätter Nr. 3/2009, September - Dezember
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.

Vermeintliche Realitäten: Welt und Ich - Eine Betrachtung im Stile der Buddhareden

Von Dr. Hellmuth Hecker


Zu einer Zeit lebte in einem gewissen Lande ein gewisser Cundo. Er hatte nichts erfahren, war ein gewöhnlicher Mensch, ohne Sinn für das Heilige, der heiligen Lehre unkundig, der heiligen Lehre unzugänglich, ohne Sinn für das Edle, der Lehre der Edlen unkundig, der Lehre der Edlen unzugänglich; und er nahm die Welt als Welt und hatte er die Welt als Welt genommen, so dachte er Welt, dachte an die Welt, dachte über die Welt, dachte "Mein ist die Welt" und freute sich der Welt. Und warum? Weil er sie nicht kannte. Es hatte der Denker Cundo eben die Ansicht gefasst: Hier bin ich, dort ist die Welt. Der Körper bin ich, der Körper gehört mir, der Körper ist mein Selbst. Und der Körper vergeht mit dem Tode, ebenso der Geist, der ja nur eine Funktion des Körpers ist - darum lasset uns das Leben genießen.

Und der Denker Cundo mühte sich, die Welt zu genießen. Nachdem er aber manche Veränderlichkeit erfahren hatte, begann er zu schwanken und zu zweifeln. Nachdem er schwankend und zweifelnd geworden war, begann er zu grübeln: Was ist die Welt? Wie ist die Welt? Ist die Welt ewig oder ist die Welt zeitlich? Ist die Welt endlich oder ist die Welt unendlich? Was bin ich? Wie bin ich? Bin ich ewig oder bin ich zeitlich? Verhalten sich Welt und Ich zueinander? Wie verhalten sich Welt und Ich zueinander?

Nachdem der Denker Cundo derart begonnen hatte zu grübeln, wandte er sich an die Philosophen und Gelehrten und forschte sie aus über die Welt und das Ich. Da nun hörte der Denker Cundo gar mancherlei verwickelte Meinungen und Ansichten, Systeme und Konstruktionen, so etwa:

1. Es gibt einen psycho-physischen Parallelismus, Materie und Geist bestehen unabhängig nebeneinander. Die Welt und das Ich sind zwei unendliche Reihen, die parallel laufen. Jedes Ich hat seine Ursache in einem früheren Ich und bewirkt ein künftiges Ich. Endlos ist die Kette der Ich-Formen, die in den Zeiten geboren wurden. - Was ist nun das Ich? Der Körper ist nicht das Ich, der Körper vergeht nach seinem Gesetz, er gehört mir nicht, er ist nicht das Selbst. Und auch die Gefühle vergehen, gehören mir nicht, sind nicht das Selbst. Und auch alle Gemütsregungen, alle Denkerwägungen, alle Inhalte der Wahrnehmung vergehen, gehören mir nicht, sind nicht das Selbst. - Was aber ist dann das Selbst? Es ist das Bewusstsein an sich, das leere Bewusstsein, frei von allen Formen und Inhalten. Dieses Bewusstsein ist das Selbst. Dieses Bewusstsein ist das reine Sein, das reine Nichts, die reine Leere. Es ist ewig, unwandelbar, beharrend. Es ist das höchste Glück, jenseits aller Formen und Inhalte, zu sein.

2. Richtig ist zwar, was jene lieben Philosophen vom psycho-physischen Parallelismus sagen, dass Ich und Welt nebeneinander herlaufen; richtig ist auch, was jene lieben Philosophen darüber sagen, dass nicht der Körper, nicht die Gefühle, nicht die Inhalte der Wahrnehmungen das Selbst sind. Aber auch das Bewusstsein ist nicht das Selbst. Es kann da gar kein Bewusstsein an sich geben, das Bewusstsein vergeht mit seinen Inhalten. - Was aber ist dann das Selbst? Es ist der Wille, der individuelle Durst, der unterbewusste Daseinsstrom, das energetische Kraftfeld der Tendenzen, der subjektive Werdeprozess. Was in der Welt könnte sonst das Selbst sein? Dieser Wille aber führt immer wieder zu vergänglichem Dasein, er ist etwas, das nicht da sein sollte. Der Wille ist die Wurzel allen Übels. Der Wille muss daher aufgehoben, das Selbst muss vernichtet werden. Das höchste Glück ist das Nichtsein.

3. Falsch ist, was jene lieben Philosophen vom psycho-physischen Parallelismus sagen. Es gibt keine Zweiheit von Materie und Geist. Was wir Materie nennen, ist nur die Wahrnehmung von Materie, ist nur ihre Idee. Die Welt ist nur Erscheinung, nichts anderes als Erscheinungen sind erlebbar. Die Ursache für die Erscheinungen aber ist unerkennbar, ist transzendental, ist das Ding an sich, das ewig ist. Das Ich ist eine Form des Erkennens, denn jedes Erkennen setzt ein logisches Subjekt.

4. Richtig ist, dass die Welt nur Erscheinung, nur Vorstellung ist. Nichts anderes als Erscheinungen, Vorstellungen sind erlebbar und erfahrbar. Hinter der Vorstellung aber kann nichts sein, denn jedes Dahinter wäre auch nur eine Vorstellung. Die Ursache für die Vorstellungen aber liegt im Willen. Der Wille ist das Ding an sich. Die Welt der Vorstellung ist nur eine Objektivation des Willens. Der Wille ist das Selbst und der Wille ist ewig. Enden die Erscheinungen, dann ist der reine Wille, der Wille an sich, vorhanden.

Nachdem der Denker Cundo solche und ähnliche Ansichten gehört hatte, wurde er verwirrt. Verwirrten Sinnes kam er zu der Ansicht: Es gibt keine Wahrheit, es gibt keine Erkenntnis, alles Denken ist eitel und nichtig, führt zu nichts, dreht sich im Kreise, widerspricht sich. Und der Denker Cundo gab das Denken auf. Mürrisch und verbittert zog er sich von den streitenden Philosophen zurück und lachte nur noch über ihre Konstruktionen. Nachdem er aber wieder manche Veränderlichkeit erfahren hatte, hörte er eines Tages von einem Weisen, der ganz anders sei als alle bisherigen Philosophen. Und der Denker Cundo dachte bei sich: Schaden kann es nichts, einmal zu hören, was dieser Weise verkündet. Trägt auch er Verwicklung vor, so weiß ich Bescheid. Sollte er aber etwas anderes darlegen, so müsste ich mir Vorwürfe machen, wenn ich ihn nicht aufgesucht hätte.

Und der Denker Cundo begab sich dorthin, wo jener Weise weilte, wechselte höfliche, denkwürdige Worte mit ihm und setzte sich zur Seite nieder. Zur Seite sitzend sprach nun der Denker Cundo also:

"Von den vielen verschiedenen Lehren, die da in der Welt auftauchen und sich bald mit der Betrachtung des Selbst, bald mit der Betrachtung der Welt befassen, braucht man wohl nur den Anfang zu kennen, um sie zu verwerfen, um sie zu verleugnen?"(1)

"Von den vielen verschiedenen Lehren, Cundo, die da in der Welt auftauchen und sich bald mit der Betrachtung des Selbst, bald mit der Betrachtung der Welt befassen, gilt überall, wo sie auftauchen, aufsteigen, auftreten das wahrheitsgemäße, vollkommen weise Urteil: »Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst«, so werden sie verworfen, so werden sie verleugnet. - »Körper« ist ein Vermeinen, »Geist« ist ein Vermeinen, »Materie« ist ein Vermeinen, »Welt« ist ein Vermeinen. »Ich« ist ein Vermeinen, »Wille« ist ein Vermeinen, »Bewusstsein an sich« ist ein Vermeinen, »Ding an sich« ist ein Vermeinen, »Vernichtung« ist ein Vermeinen, »Ewigkeit« ist ein Vermeinen, »Sein« ist ein Vermeinen, »Nichtsein« ist ein Vermeinen, »Subjekt« ist ein Vermeinen, »Objekt« ist ein Vermeinen, »Zweiheit« ist ein Vermeinen, »Einheit« ist ein Vermeinen."

Nachdem der Denker Cundo diese Antwort im Geiste erwogen und abgewogen, betrachtet und betrachtet hatte, erwiderte er: "Möge mir der Ehrwürdige diesen kurzgefassten Stempel näher erläutern, mit seinen ausführlichen Abzeichen."

Und der Ehrwürdige sprach also: "'Von den vielen verschiedenen Lehren, die da in der Welt auftauchen und sich bald mit der Betrachtung des Selbst, bald mit der Betrachtung der Welt befassen, gilt überall, wo sie auftauchen, aufsteigen, auftreten das wahrheitsgemäße, vollkommen weise Urteil: »Das bin ich nicht, das gehört mir nicht, das ist nicht mein Selbst«, - so werden sie verworfen, so werden sie verleugnet.' Das ist gesagt worden. Und warum wurde das gesagt? Was da auch immer aufkommen und erscheinen mag, es ist immer bedingt durch die 6 Sinne: Es ist Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Tasten, Denken. Eine andere Wahrnehmung, eine andere Erscheinung, ein anderes Erleben und Erfahren und Vorstellen als dieses gibt es nicht. Hinter dem Sehen ist kein Sehobjekt, und vor dem Sehen ist kein Sehsubjekt. Hinter dem Hören ist kein Hörobjekt, und vor dem Hören ist kein Hörsubjekt. Hinter dem Riechen ist kein Riechobjekt, und vor dem Riechen ist kein Riechsubjekt. Hinter dem Schmecken ist kein Schmeckobjekt, und vor dem Schmecken ist kein Schmecksubjekt. Hinter dem Tasten ist kein Tastobjekt, und vor dem Tasten ist kein Tastsubjekt. Hinter dem Denken ist kein Denkobjekt, und vor dem Denken ist kein Denksubjekt. Seher und Gesehenes, Hörer und Gehörtes, Riecher und Gerochenes, Schmecker und Geschmecktes, Taster und Getastetes, Denker und Gedachtes - es ist alles nur ein wähnender Wahn. Objekt und Subjekt, Cundo, sind Wahnerzeugnisse, Wahngebilde, Wahnvorstellungen. Und alle Lehren, die sich mit Subjekten und Objekten befassen, sie gegenüberstellen und in mannigfacher Weise auslegen, sind Wahnlehren, Irrlehren, Wirrlehren. Nicht gibt es ja, Cundo, etwas anderes als jenes sechsfache Gebiet. Nicht gibt es ja, Cundo, eine andere »Welt« als jenes sechsfache Gebiet. Erkennen da nun, Cundo, jene lieben Philosophen das Objekt als leer und die Welt als bloße Erscheinung, so müssen sie ein Subjekt, ein Ich annehmen, das diese Erkenntnis hat und sich daran erfreut. Und erkennen nun, Cundo, jene lieben Philosophen das Subjekt als leer und das Ich als bloße Erscheinung, so müssen sie ein Objekt, eine Welt annehmen, von der sich das erscheinende Subjekt unterscheidet. Und so verwickeln sie sich im Dorn der Ansichten, Hag der Ansichten, Garn der Ansichten. Und warum? Weil sie, bevor sie die Wirklichkeit erforschen, bereits einen Gegensatz von Subjekt und Objekt annehmen, von dieser Voraussetzung ausgehen. So können sie nicht erkennen, dass die Welt, über die sie nachdenken, und das Ich, über das sie nachdenken, nichts anderes zur Grundlage haben als eben das Denken. Der Gedanke »So ist die Welt« und der Gedanke »So ist das Ich« sind ja eben nur Gedanken, nur Vorstellungen, nur Erscheinungen. Das Denken aber bin ich nicht, das Denken gehört mir nicht, das Denken ist nicht das Selbst. Das Denken ändert sich, wandelt sich, wechselt. Und was veränderlich, wandelbar, wechselhaft ist, davon gilt das wahrheitsgemäße, vollkommen weise Urteil: »Das bin ich nicht, das gehört mir nicht, das ist nicht mein Selbst.« - Wurde dieses gesagt, so ward es darum gesagt.

"'»Körper« ist ein Vermeinen, »Geist« ist ein Vermeinen, »Materie« ist ein Vermeinen, »Welt« ist ein Vermeinen, »Ich« ist ein Vermeinen, »Wille« ist ein Vermeinen, »Bewusstsein an sich« ist ein Vermeinen, »Ding an sich« ist ein Vermeinen, »Vernichtung« ist ein Vermeinen, »Ewigkeit« ist ein Vermeinen, »Sein« ist ein Vermeinen, »Nichtsein« ist ein Vermeinen, »Subjekt« ist ein Vermeinen, »Objekt« ist ein Vermeinen, »Zweiheit« ist ein Vermeinen, »Einheit« ist ein Vermeinen. Das ist gesagt worden. Und warum wurde das gesagt? Da, Cundo, Wirklichkeit nicht auf den Gegensatz von Subjekt und Objekt gestützt ist, so ist alles Denken in diesen Gegensätzen ein Vermeinen. Aus Unwissen, Cundo, werden Subjekt und Objekt unterschieden. Durch diese Unterscheidung bedingt ist das Bewusstsein. Durch das Bewusstsein bedingt sind die ihm mitgegebenen Inhalte, nämlich die Annahme eines Sehers und eines Gesehenen, eines Denkers und eines Gedachten, kurz: ein Gegensatz von Subjekt und Objekt. Durch die 5 Bilder der Sinne und die Begriffe des Denkens einerseits, durch die Annahme eines dem entsprechenden sechsfachen Reiches andererseits ist bedingt die Berührung von »innen« und »außen«. Durch die Berührung bedingt ist das Gefühl, dass ein »Ich« von einer »Welt« Angenehmes oder Unangenehmes erfahre. Durch das Gefühl bedingt ist der Drang, der in seinem Drängen den Wahn einer Spaltung von Ich und Nicht-Ich aufrechterhält, indem er eine aktive und passive Seite des Daseins trennt. Durch den Drang bedingt ist das Anhangen des Ich an dem Gefühl, das ergriffen und für das Ich genommen wird. Durch das Anhangen bedingt ist das Vorhandensein künftiger Zeit, die das Werden eines neuen Daseins gebiert. Durch Werden bedingt ist Geburt, durch Geburt bedingt ist Altern und Sterben, Schmerz und Jammer, Leiden, Gram, Verzweiflung, Vereintsein mit Unliebem, Getrenntsein von Liebem. - Nicht ist da ja, Cundo, ein Ich, das in einer Welt Glück und Leid erfährt. Nicht ist da ja, Cundo, eine Wille, der den Erscheinungen gegenübersteht. Nicht ist da ja, Cundo, ein leeres Bewusstsein, das seinen Inhalten gegenübersteht. Nicht ist da ja, Cundo, irgendetwas absolut oder an sich oder ewig. - Durch Bewusstsein bedingt ist der Drang und durch den Drang bedingt ist das Bewusstsein, gegenseitig durch Bedingtheit bestehend, ein Kreis des Wahns. Mit der Aufhebung des Wahns, des Dranges hebt sich der Wahn des Bewusstseins auf. Und wann hebt sich der Wahn des Dranges auf? Wenn das Vermeinen und Unwissen sich aufhebt. Wahn ist, Cundo, alles Vermeinen. Und wenn da einer von Vermeinen getrieben fragen würde, was denn dann sei, wenn aller Wahn aufgehoben, Durst und Bewusstsein verendet seien, dann wäre ihm zu antworten: Ein »Außerhalb« des Wahns ist ein Denken, eine »Zeit nach« dem Wahn ist ein Denken. Denken aber und Worte und Begriffe sind Bewusstsein, sind bedingt, setzen »Dinge« und Bedingtheit voraus: Sind alle Dinge allgemach entwurzelt, ist alle Macht entwurzelt auch der Worte. - Wurde dieses gesagt, so ward es darum gesagt. - Das sind, Cundo, Dinge, die tief sind, schwer zu entdecken, schwer zu gewahren, stille, erlesene, unbekrittelbare, feine, Weisen erfindliche."

Zufrieden freute sich da der Denker Cundo über das Wort des Ehrwürdigen.(1)


(1) Erschienen in: DIE EINSICHT, Vierteljahreshefte für Buddhismus, 6. Jahrgang 1953, Heft 1, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.


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Quelle:
Buddhistische Monatsblätter Nr. 3/2009, September - Dezember,
Seite 4-9
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2009