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PRESSE/818: Indien vor dem Buddhismus (Buddhistische Monatsblätter)


Buddhistische Monatsblätter Nr. 1/2010, Januar - April
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.

Indien vor dem Buddhismus

Von Norbert Rin-Dô Hämmerle


Vorwort

In der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V. (BGH) bildete im Frühjahr 2007 Korin (Dr. Holger Stienen) einen Zen-Studienkreis. Aus seinen Einführungen, Vorträgen sowie Ergänzungen zu den einzelnen Themenschwerpunkten, den Referaten einzelner TeilnehmerInnen und ergänzender Literatur ist diese Mitschrift mit ein paar vertiefenden Ausarbeitungen entstanden. Hier nun das erste gekürzte Kapitel zu Indien vor dem Buddha.

Mein persönlicher Bezug zu Brahmanismus, Dàoismus sowie Buddhismus ist durch Erfahrungen im Kundalini Yoga, stillem QiGong, Taijiquan (Tai Chi Chuan) und Zazen (Dhyana) gewachsen. Ich selbst praktiziere QiGong, Taijiquan im klassischen Yang-Stil und übe in der Zengemeinschaft Sei-Sui-Zendo (stilles Wasser), habe jedoch auch in anderen Traditionen, wie Theravada, gelernt. Schwerpunkt der vollständigen Arbeit ist, wie Buddhismus in Indien entstand und wie sich daraus in China unter dem dàoistischen Einfluss Chan-Buddhismus (Zen) entwickelte und nach Japan kam. Für Kundige wird es eine Begegnung mit bekannten Grundlagen sein.

Bodhidharma, der Begründer des Chan-Buddhismus in China und damit der erste Zen-Patriarch in der chinesischen Linie, soll sinngemäß gesagt haben:

"Es gibt Menschen, die sich einbilden, Kenner der Lehre zu sein, weil sie Vorträge halten können. Gründliche Kenntnis buddhistischer Texte mag jemand haben, er ist jedoch ohne Erkenntnis seines wahren Wesens ein Unwissender."

In diesem Sinne bitte ich diesen Abschnitt nur als Anregung zu sehen, manche der vorgestellten Texte erschließen sich erst durch eigene Erfahrung und Praxis vollständig. Somit ist es sinnvoll, in den reichhaltigen Angeboten in Hamburg und in der BGH nach der richtigen persönlichen Vertiefung zu suchen. Bei weiterem Interesse kann die vollständige Arbeit für eine Spende geliefert oder eine Veröffentlichung gesponsert werden. Für die Möglichkeiten zur guten Praxis möchte ich mich hier bei meiner Sangha und den vielen Lehrern sowie Gastlehrern, Meistern und Mönchen in der BGH und für das Korrekturlesen bei Margitta Conradi bedanken.


Das vorbuddhistische Indien

Auf dem indischen Subkontinent, etwa so groß wie Europa ohne Russland, von Gebirgsketten einerseits und Meer andererseits umschlossen, hat sich ein ganz eigener Kulturraum entwickelt. Fast das ganze Land hat ein trockenes bis tropisches Klima mit nur wenig Kühle in der kurzen Regenzeit, sodass die Verbindung der Menschen zur Natur anders als in Europa ist. Wasser hat für Mensch, Tier und Pflanze eine große Bedeutung und Rituale wie Waschungen und Trankopfer spielen eine Rolle in religiösen Zeremonien. Mensch und Tier sind sich immer eng begegnet, sodass schon früh alle Wesen als beseelt angesehen wurden. Das Klima ist jedoch nicht einheitlich. Es gibt Steppen, Wüsten und Regenwälder. In den fruchtbaren Regionen sind die ersten Siedlungen entstanden und die Steppen wurden von Nomaden mit ihren Herden durchzogen. Beide Lebensstile haben in Synthese die Grundlagen der indischen Kultur bestimmt.

Von der indischen Frühgeschichte ist wenig bekannt. Die frühe Indus- und Harappa-Kultur war eine Städtekultur, in der eine Oberschicht über primitive steinzeitlich lebende Menschen herrschte. Ausgrabungen im Industal haben Städte zu Tage gefördert, die 2500 Jahre v. Chr. bestanden und schon Systeme zur Wasserversorgung sowie Entwässerung besaßen. Die streng geometrische Bauweise weist auf eine sehr sachliche Lebensweise hin. Die vorgefundenen Schriftzeichen sind noch nicht entziffert worden. Es wird angenommen, dass hier schon Devi und Shiva verehrt wurden und damit wahrscheinlich im Tantrismus lange vor Shakyamuni Buddha Wege zum Erwachen gesucht wurden. Die Entstehung des praktischen vorarischen Yoga-Weges, auf dem nach Erlösung gesucht wird, fällt also in diese Frühgeschichte und geht wohl auf Jäger, die lange Zeit still sitzend auf das Wild warten mussten, sowie auf Schamanen zurück, die sich mit dem Leiden der Menschen beschäftigten und zu Asketen wurden. In dieser Kultur liegt also eine der Wurzeln, in denen der menschliche Körper mit seinem Geist ein Instrument wurde, um mit dem göttlich Absoluten in Verbindung zu treten.

Etwa 1600 Jahre v. Chr. wurde von Westen her die ursprüngliche Bevölkerung Indiens langsam durch die Indo-Arier verdrängt und später der ganze indische Kontinent von diesen weiter erobert. Historisch falsch ist die Ansicht, dass die Arier besonders grausam und unbarmherzig von Norden eingefallen seien. Verantwortlich dafür sind u. a. die deutschen Nationalsozialisten unter Adolf Hitler, die mit ihrem Arier-Wahn Geschichtsklitterungen betrieben haben. Richtig ist, dass sich auch andere Völker über das Industal zum Ganges hin in dem klimatisch günstigen Raum der Flüsse angesiedelt haben. Auch die Drawiden gehören dazu. Die älteste Volksgruppe auf dem indischen Subkontinent sind wohl die Vedda, doch sind Anschauungen, wie "wir waren die ersten Siedler", immer in vielerlei Hinsicht fragwürdig. Die philosophisch-religiösen Vorstellungen von der Erde und dem Leben auf dem Subkontinent haben sich langsam zu Gunsten der Indo-Arier verändert, die sich die Erscheinungen mit ihren Veden (Verse des Wissens, Mehrzahl Veden) erklärten. Einerseits haben die Arier durch ihr Kastensystem einen Großteil der ursprünglichen Bevölkerung unterdrückt und andererseits mit den Veden für längere Zeit erfolgreich den Versuch unternommen, ihren geistig-philosophischen Überbau durchzusetzen. Von der Geisteswelt der Urbevölkerungen ist so nur wenig überliefert. Im Laufe der Zeit haben sich jedoch besonders die Yoga-Praktiken, alte Fruchtbarkeitsriten und Totenrituale nicht unterdrücken lassen und wurden in der Geistes- sowie Götterwelt teilweise assimiliert. Das Zeitalter der Veden zählt etwa von 1500 bis 500 v. Chr. Sie bestehen aus einer Sammlung von Niederschriften, die nicht bestimmten Autoren zuzuordnen sind.

Veda bedeutet umfangreiches religiöses Wissen, dass in vier Werken,

01. Lobeshymnen, Rigveda,
02. Liedern & Gesängen, Samaveda,
03. Opferformeln, Yayurveda sowie
04. magischen Formeln, Atharvaveda,

zusammengefasst ist und im Umfang die Bibel um das Sechsfache übersteigt. Die Veden sind inhaltlich widersprüchlich, doch hat dies wie auch die pompösen öffentlichen Rituale mit schwer verständlichen Sprüchen und blutigen Tieropfern offensichtlich die Bevölkerung beeindruckt. Im Schöpfungsmythos des Rigveda heißt es:

"Damals war nicht das Nichtsein noch das Sein.
Kein Luftraum war, kein Himmel drüber her.
Wer hielt in Hut die Welt; wer schloss sie ein?
Wo war der tiefe Abgrund, wo das Meer?
Nicht Tod war damals noch Unsterblichkeit.
Nicht war die Nacht, der Tag nicht offenbar.
Es hauchte windlos in Ursprünglichkeit.
Das Eine, außer dem kein anderes war."

Die Veden waren geheime priesterliche Handbücher. Innerhalb jeder der Veden gibt es die folgenden vier esoterischen Abteilungen:

01. Gebetsformeln, Mantras,
02. Anwendungsanweisungen, Brahmana,
03. Waldtexte für Einsiedler, Aranyaka und
04. Geheimlehren, Upanischad,

die für die Priester in ihren Handlungen maßgeblich sind und als göttliche Offenbarungen sowie absolute Wahrheiten gelten. Frühe Götter waren noch den Elementen der Natur (Wasser, Erde, Feuer, Luft und Äther) zugeordnet und es entstanden später philosophische Vorstellungen über deren All-Einheit in einem Urgrund. Die Götter wurden zu Reinkarnationen eines Gottes in verschiedener Gestalt des einen göttlichen Prinzips. Mit der Ausdehnung der Herrschaft der Indo-Arier wurde das rassistische Kastenwesen gegen die ursprüngliche Bevölkerung geschaffen. Die Einteilung in herrschende Aryas und unterworfene Tschudras sollte eine Vermischung verhindern. Die Lehren waren den Aryas vorbehalten. Dabei haben sich die Arier selbst alsbald noch in weitere Schichten von priesterlichen Brahmanen, kriegerisch-adeligen Kschatriyas und freien Vaischyas (Bauern, Kaufleute, Handwerker etc.) geteilt. Unter den unterworfenen willfährigen Tschudras wurden noch die Kasten der unbekehrten Urbevölkerung, der Sklaven und Kriegsgefangenen sowie der sogenannten unberührbaren Parias eingeführt. Im Laufe der Zeit entstanden weitere Unterkasten und die anfängliche Vorherrschaft der Kschatriyas (Kriegerkaste) ging nach beendigter Eroberung an die Brahmanen (Priesterkaste) über. Es bildeten sich mehrere despotische Königreiche und nur in Nordindien bestanden kleinere Republiken. Abgesichert wurde die Herrschaft auch durch die Lehre von der Seelenwanderung, nach der, vereinfacht ausgedrückt, die Parias durch schlechte Lebensführung in vergangenen Leben als Karma ihre Wiedergeburt im Elend selbst verschuldet haben und nicht die Unterdrückung sowie Bereicherung durch die Arier dafür verantwortlich ist. Dieses frühe Erbe des Brahmanismus wirkt sich bis heute, trotz Gandhis Kampf gegen derartige Vorstellungen, negativ auf breite Schichten der indischen Gesellschaft aus.

Die Suche brahmanischer Priester ging über die anfänglichen formelhaften Veden hinaus und es entstanden, wieder als Werk vieler Autoren, abschließend die über 100 Upanishaden. Upanischad bedeutet sinngemäß die Lehre für diejenigen, die nahe bei den Meistern sitzen. Die Stimmung in den Upanishaden ist im Kontrast zu den altvedischen Lobeshymnen eher pessimistisch. Deutlich wird schon hier, dass alles Leben leidvoll ist. Im Kern sind die philosophisch-religiösen Vorstellungen durch die Lehren von Atman und Brahman sowie von Seelenwanderung und möglicher Erlösung aus dem Wiedergeburtszyklus geprägt. Verkürzt dargestellt strebt die Einzelseele Paramatman mit dem göttlichen Urgrund Brahman im menschlichen Herzen nach Vereinigung mit der Weltseele Atman. Diese Wahrheit liegt nicht im menschlichen Verstand und kann nur auf einem langen Weg der Askese mit Abkehr von der Außenwelt, mit Selbstdisziplin in Fasten, Ruhe, Schweigen sowie Sammlung erlangt werden. Eine solche vorbildliche Lebensführung, in der Wissen und Werk zählen, bedingt eine günstige Wiedergeburt in einer höheren Kaste, schlechte Lebensführung hingegen führt zum Abstieg. Da es Taten und Werke sind, die das Karma ausmachen, bestimmen sie jede weitere Existenz. Erfahren des Höheren in Askese und Erkenntnis des einen Brahman im eigenen Herzen führt zur Erlösung im Atman. Diese Verwirklichung streift alle Fesseln der Individualität ab. Das Ego verschmilzt mit dem All-Einen und befreit sich so vom leidvollen Wiedergeboren-Werden. Dies ist das höchste Ziel. Es bildeten sich etwa 500 Jahre v. Chr. 6 orthodoxe Systeme, Nyaya, Vaischeschika, Samkhya, Yoga, Mimamsa und Vedanta heraus, die die Autorität des Veda anerkennen. Neben den philosophisch-spirituellen Lehren wurden auch die alten praktischkörperlichen Methoden zur Erlangung von Erlösung im Yoga in die Texte eingefügt. Hier mögen durchaus schon Einflüsse des Buddhismus vorhanden sein. Der Yoga entwickelte so im Rahmen des Samkhya-Systems seine praktischen Methoden zur Erlösung weiter, sodass Samkhya die Theorie und Yoga die Praxis ist. Das klassische System kennt folgende 8 Stufen der Übung:

01. Zucht, Zügelung; moralische Gebote wie Enthaltsamkeit, Gewaltlosigkeit (Ahimsa) und Wahrhaftigkeit (Yamas);

02. Askese, Genügsamkeit, Gottergebenheit, Reinigung, Selbstzucht, Studium (Niyamas);

03. Asanas, rechte Körperhaltung, Padmasana (Zazen), richtiges Sitzen. In der Bhagavadgita heißt es dazu: (Krishna unterweist Arjuna in dem Wahren Yoga)
(11) Er errichte sich an einem reinen Platze einen festen Sitz, weder zu hoch noch zu niedrig, übereinander mit heiligem Grase, einem Fell und einem Tuche bedeckt.
(12) Er lasse sich auf diesem Sitz nieder, richte seinen Geist auf einen Punkt, bezähme das Denken und die Sinne, und übe so, zur Läuterung der Seele, den Yoga (hier Dhyana-Yoga).
(13) Körper, Haupt und Hals aufrecht und unbeweglich haltend, den Blick beständig auf die Nasenspitze richtend, ohne herumzuschauen,
(14) heiter und furchtlos, fest im Gelübde der Enthaltsamkeit; den Geist bezähmend, möge er dasitzen, seinen Geist auf mich (Krishna) gerichtet, ausgeglichen, auf mich (Krishna) allein bedacht.;

04. Pranayama, Atemkontrolle, Regeln zu Ein-, Ausatem sowie Atemanhalten;

05. Die Sinne von äußeren Objekten zurückziehen (Pratyahara);

06. Die Gedanken auf einen Punkt konzentrieren (Dharana);

07. Intensive Konzentration, Meditation (Dhyana-Yoga), Nachsinnen;

08. Geistvereinigung mit dem Göttlichen, Samadhi, Versenkung, Verzückung. In der Bhagavadgita heißt es dazu:
(15) Der Yogin, der seinen Sinn bezähmt, sich immer auf solche Weise in Einklang hält, geht in den Frieden, in das in mir (Krishna) befindliche höchste Nirvana ein.

Die in der Bhagavadgita enthaltenen Unterweisungen von Krishna an Arjuna sind höchst widersprüchlich, weil er diese Yoga-Lehre zum Kampf, also zum Töten anderer Menschen, dualistisch Feinde genannt, missbraucht. In diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis wichtig, dass Yogis, also den brahmanistischen Yoga-Weg Übende, allerhand unsinnige, frauen-, körper- und sexualfeindliche Ansichten verbreiten, Tieropfer betreiben und dazu ihre Körperfertigkeiten gerne gegen Entgelt zur Schau stellen. Hier kündigt sich in manchem Hokuspokus, der sich ähnlich auch in China im Dàoismus entwickelte, ein Zerfall des überkommenen Brahmanismus an.

Die wichtigsten schriftlichen Lehren stehen, neben den Upanishaden, in der Bhagavadgita, im Mahabharata, im Gesetzbuch des Manu und gelten als Vedanta (Vollendung des Veda). In den orthodoxen Systemen der "Jasager", Astikas, bildeten sich, angesichts der entstehenden nicht-orthodoxen Systeme der "Neinsager", Nastikas, Schulen der Logik und Dialektik heraus, nicht nur, um den Gehalt der Lehren zu kommentieren, sondern auch, um die Lehre zu verteidigen. Ebenfalls entstanden als Gedächtnisstütze in allen Systemen Merksprüche, Sûtras, für die Eingeweihten. Formen des Brahmanismus gibt es in Indien, vertreten von verschiedenen Gruppierungen, noch heute und sie haben sich in jüngster Vergangenheit auch in Europa sowie in den Vereinigten Staaten verbreitet und wurden dort modifiziert.

Von den orthodoxen, auf den Veden bis hin zu den Upanishaden basierenden Anschauungen und Systemen kehrten sich um 500 v. Chr. mehrere Volksgruppen in Sekten ab. Das Wort Sekte ist im ganzen vorliegenden Text nicht abwertend gemeint. Bedeutend sind hier neben der Lehre des Buddha der frühe Materialismus der Charvakas und der idealistische Jainismus des Mahavira. Wichtig in diesem Zusammenhang ist aus heutiger Sicht noch, dass es in Indien selbst so etwas wie Buddhismus, Hinduismus (Brahmanismus) und Jainismus gar nicht gegeben hat, dass dies vielmehr spätere Kategorien und Klassifizierungen der britischen Kolonialmacht gewesen sind. Historisch richtiger ist einerseits ein damaliger Zerfall des Brahmanismus, der andererseits zu vielen neuen, nicht nur spirituellen Ansätzen führte und der Ausdruck von Suchenden ist.

Für die Charvaka-Materialisten war die Lehre von Atman sowie Brahman eine bloße Täuschung. Es gab für sie keine Seele, die wiedergeboren wird, sondern nur die Energie aus der sinnlich wahrnehmbaren Materie der damaligen vier alchimistischen Elemente (Wasser, Erde, Feuer und Luft). Die Metaphysik der altindischen brahmanischen Priester wurde kritisiert und abgelehnt. Die sinnliche Lust war für die Materialisten gut und die Herrschaft der sich nur selbst bereichernden und ihre Vorrechte durch angebliche Seelenwanderung vererbenden Brahmanen schlecht. Dass Leiden durch Askese und Verzicht zu einer besseren Wiedergeburt führen sollen, wurde abgelehnt und der Schmerz als unangenehmes Beiwerk eines ansonsten erfüllten Lebens hingenommen. Durch ihre vernichtende Kritik am brahmanistischen Kastensystem schufen die Materialisten den Freiraum, in dem sich andere philosophisch-religiöse Systeme entwickeln konnten, die sich nun egalitär an alle Kasten und damit alle Menschen wandten. Als Bewegung selbst hatte der Materialismus anfänglich viele Anhänger bei den Kschatriyas (Kriegerkaste), deren Rolle in der indischen Gesellschaft an Bedeutung abgenommen hatte, gefunden und ist dann in Indien in den folgenden geschichtlichen Entwicklungen aufgegangen.

Der Jainismus hingegen leugnete die Existenz einer Seele nicht. Nach Ansicht der idealistischen Jainas besteht die Welt sowohl aus belebten Einzelseelen als auch aus unbelebter Materie. Die Seelenwesen lassen sich durch Neugier in die Materie hineinziehen und werden erst so zu sterblichen materiellen Leibern, die dabei ihren Ursprung vergessen. Nur ein achtsamer Lebenswandel mit asketischen Bußübungen reinigt die Seele wieder von diesen Befleckungen. Die Jainas nehmen an, dass Erlöser, die Jinas, regelmäßig auf die Erde kommen, um den Menschen diesen rechten Weg zu zeigen. Einer von ihnen war, dieser Lehre gemäß, Mahavira, der als von den weltlichen Freuden abgewandter Asket die Grundlagen dieses dogmatischen Systems entwickelte und verkündete. Die nicht in Frage zu stellenden Dogmen von angenommenen und auf die Erde gekommenen Jinas basieren im Grunde nur auf den absolutistischen Ansichten des Gründervaters Mahavira.

In vielem sind die Kulte des brahmanistischen Priestertums erhalten geblieben. So pflegen die Jainas in ihren Gelübden im Kern die Tugenden, nicht zu lügen, nicht zu stehlen, Gewaltlosigkeit (Ahimsa) und keine Lebewesen zu töten, um die Seele von schlechtem Karma zu lösen und zur Stätte der Vollendeten zu gelangen. Radikale Anhänger sollen als Zeichen von Besitzlosigkeit nackt herumgelaufen sein. Im Verlauf der Geschichte kam es zu heftigen Disputen mit den anderen Strömungen sowie den Anhängern Buddhas. Der Jainismus sprach vorwiegend die Mittelklasse, die Kaste der Vaischyas (Kaufleute, Handwerker...) an und auch ihn gibt es heute noch.

Abschließend betrachtet, zeichnet sich die vorbuddhistische Zeit durch praktische Übungen wie Versenkung im Sitzen, ethische Haltungen wie Gewaltlosigkeit und spirituelle Kenntnisse wie den Veda aus und ist damit eine Grundlage für alle weiteren Entwicklungen in Indien geworden.


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Quelle:
Buddhistische Monatsblätter Nr. 1/2010, Januar - April Seite 14-21
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Januar 2010