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PRESSE/840: Arbeit, Ethik und die Lehre des Buddha (Buddhismus aktuell)


Buddhismus aktuell, Ausgabe 2/2010
Zeitschrift der Deutschen Buddhistischen Union

Arbeit, Ethik und die Lehre des Buddha

Von Manfred Folkers


Arbeit und Ethik scheinen heutzutage nicht mehr recht zu harmonisieren: Die Art unseres Arbeitens und Wirtschaftens ist destruktiv geworden. Wir stecken in dem Dilemma, dass unser Zug in die falsche Richtung fährt, ohne ihn anhalten oder verlassen zu können. Kritisch analysiert der Autor unsere Arbeitswelt und präsentiert mithilfe der Lehre des Buddha Anregungen für eine neue Ethik, die unseren Bedürfnissen tatsächlich entspricht.


Die Zahl der arbeitsbedingten psychischen Erkrankungen hat sich in den vergangenen Jahren verdoppelt. Bei der France Telecom haben in einem halben Jahr 24 Mitarbeiter Selbstmord begangen. Mangelhafte Zuwendung aus Zeitnot sind traurige Realität in der Kranken- und Altenpflege. Die soziale Ausgrenzung von Arbeitslosen ist unwürdig und die Gewöhnung an eklatante Einkommensunterschiede letztlich unbegreiflich. Leistungsdruck, Kontrolle und die Reduzierung der Sinnfrage auf das Geldverdienen gehören zum Standard des Arbeitsalltags. Kein Wunder, dass dieser oft zu Angst, Hetze und Verzweiflung führt.

Unerfreulich sind auch zahlreiche Nebeneffekte heutiger Arbeit. Wer die Arbeits- und Konsumprozesse und ihre Langzeitwirkungen genau untersucht, stößt unter anderem auf Ressourcenausbeutung, Zukunftsverpfändung, Bodenversiegelung, Verschwendung, industrielle Tierhaltung sowie auf den exorbitanten Einsatz von Energie verbrauchenden Maschinen, deren CO2-Ausstoß die globale Erwärmung fördert. All diese Phänomene werden zwar seit Langem kritisiert, aber ihre Beweggründe auch nach der Finanzmarktkrise 2008 kaum infrage gestellt.


Arbeit heute: ethisch unverantwortlich

Wer die Antriebskräfte und Ziele von Arbeit erforscht, entdeckt fast immer das Verlangen nach Gewinn und Macht sowie eine merkwürdige Lust an Geschwindigkeit, Konkurrenz und Wettbewerb. Besitzstreben, Geltungsdrang und Gegnerschaft sowie die vielen leidvollen Folgen heutiger Arbeitstätigkeiten gelten als notwendige Begleiterscheinungen einer auf Wachstum angewiesenen Ökonomie. Von Behutsamkeit, Entschleunigung und Achtsamkeit ist selten die Rede. Die Art und Weise, wie die Menschheit gegenwärtig draufloslebt und -arbeitet, ist von Rücksichtnahme und einem ethisch durchdachten Handeln oftmals weit entfernt und nicht nur langfristig gesehen unverantwortlich.

Immerhin wird zunehmend versucht, die schlimmsten Schäden zu begrenzen, so durch Wiederverwertung von Abfällen, Nutzung von erneuerbaren Energien, Renaturierung von Flüssen oder schonendere Produktionsverfahren. Doch derartige Maßnahmen wirken in der Regel wie kosmetische Operationen. Sie verändern lediglich oberflächlich und halten an der eingeschlagenen Richtung fest. Sie verschleiern die wachsenden Unterschiede zwischen Wissen und Umsetzung - sei es bei der unwiederbringlichen Vernichtung von Ressourcen, der Zunahme des weltweiten Hungers, der Hinnahme wachsender Ungerechtigkeiten oder der Zerstörung der natürlichen Umwelt.

Zu fragen ist also nach den Gründen der Diskrepanz zwischen einem ethisch verantwortungsvollen und dem tatsächlichen Tun. Die allgemein übliche Antwort lautet: Fast alle Menschen fühlen sich eingebunden in ein System von Sachzwängen und abhängig vom Funktionieren der gegenwärtigen Form des Wirtschaftens und Arbeitens. Deshalb werden deren Prinzipien und Mechanismen quasi als Naturgesetze interpretiert und die schädlichen Folgen als unvermeidlich akzeptiert.

Das zwiespältige Gefühl, auf wirtschaftliches Wachstum angewiesen zu sein und gleichzeitig zu wissen, dass ein begrenztes System wie die Erde kein unbegrenztes Wachstum verträgt, nehmen jedoch immer mehr Menschen wahr. Dabei spüren sie, dass dieser Widerspruch mitten durch sie hindurchgeht, dass ihr konkretes Verhalten inkonsequent und wider besseres Wissen ist.

Dass nachhaltig zukunftsfähige Orientierungen in der Gestaltung von Wirtschafts- und Arbeitshandlungen weitgehend fehlen, ist ein Dilemma. Es wird nur durch Maßnahmen überwindbar sein, die die grundlegenden Motivationen und Entwicklungsrichtungen unserer Zivilisation mit einschließen.


Buddhas Analyse: Gier ist destruktiv

Hier ist eine Rückbesinnung auf die Sicht und das konsequente Vorgehen des Buddha hilfreich. Bei seiner Betrachtung des menschlichen Lebens erkannte er viele leidhafte Aspekte, die er auf die drei Antriebskräfte Gier, Hass und Verblendung zurückführte. Eine Beseitigung dieser hauptsächlichen Ursachen war für ihn eine Voraussetzung für die Überwindung von Leiden.

Der Buddha analysierte vor allem das Leben des einzelnen Menschen. Eine genaue Untersuchung unserer Gesellschaft und ihrer Arbeits- und Wirtschaftsverhältnisse führt zu vergleichbaren Ergebnissen: Die von Buddha erkannte leidhafte Struktur des Einzelnen zeigt sich hier als gesellschaftlich institutionalisiert. Das individuelle Streben nach Reichtum, Prestige und Einfluss ist heutzutage gesetzlich geregelt und wird von zahlreichen Einrichtungen (Behörden, Banken, Management usw.) systematisch organisiert. Verwirklicht werden diese Ziele mithilfe eines vom Ego-Sinn ausgehenden Gegeneinanders, das sich im konkurrierenden Handeln und im Kampf um Marktanteile und Arbeitsplätze ausdrückt. Die Gier-Wirtschaft erfordert darüber hinaus eine gewisse Blindheit gegenüber den Umweltschäden und Zukunftskosten, die die Kalkulationen nicht belasten und die Produktionsprozesse nicht lähmen dürfen.

Eine genaue Betrachtung der Beweggründe menschlicher Arbeits- und Konsumaktivitäten zeigt, dass die genannten Kräfte zu Selbstläufern geworden sind und sich von Vernunft und Verantwortung weitgehend abgekoppelt haben. Gewinnmaximierung, Konkurrenzprinzip und Bagatellisierung der langfristigen Folgen sind Dogmen des Markt- und Arbeitsgeschehens.

Bei einem bevorstehenden Wandel werden die gegenwärtig vorherrschenden Antriebskräfte der Wirtschaft (Renditeewartungen, Umsatzsteigerung, Rivalität, Eile, Ignoranz etc.) nachhaltig verändert werden müssen. Erst deren Austausch ermöglicht eine heilsame Zukunft. Wenn die Ausrichtung einer "Ethik" destruktiv ist, sind die Wirkungen der von ihr ausgehenden Taten grundsätzlich gefährlich und bedrohlich. Der Philosoph Hans Jonas sieht deshalb die Menschheit "dem bösen Ende näher" rücken. Sein Kollege Peter Sloterdijk konstatiert eine "Betonmauer", auf die wir zurasen. Und der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh stellt fest: "Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird unsere Zivilisation zerstört werden." Diese Einsichten führen unmittelbar zu Überlegungen wie: "Was soll ich tun, wenn der Zug, an dessen Betrieb ich mich beteilige, in die falsche Richtung fährt? Gibt es überhaupt ein richtiges Leben im falschen?"


Verantwortung und Mitgefühl sind befreiend

Der Buddha hat sich ähnlichen Fragen gewidmet und festgestellt, dass es zwar ein fehlerhaftes Verständnis vom Leben gibt, dieses jedoch durch eine Bearbeitung und Umwandlung der Ursachen überwunden werden kann. Die Bedeutung seiner Lehre für eine ethische Grundhaltung hat Geshe Thubten Ngawang beschrieben: "Der Buddhismus hat anderen Religionen gegenüber einen Vorzug: Er begründet, warum es gut ist, Liebe zu entwickeln und den Geist zu schulen. Deshalb ist diese Lehre für heutige Menschen, die kritisch sind und nicht blind glauben wollen, so wichtig."

In der Tat hat Buddhas Lehre für den Auf- und Ausbau einer zeitgemäßen Ethik sowohl hinsichtlich des geistigen Hintergrunds als auch für eine praktische Umsetzung allerhand zu bieten, denn sie ist im Prinzip eine Anwendung des gesunden Menschenverstandes auf das ganze Leben und das Leben als Ganzes.

Kurzformeln wie "Komm und sieh selbst" und "Nicht glauben, sondern erkennen" verdeutlichen die dogmenfreie Transparenz dieses Lehrgebäudes. Die Identifizierung von drei universellen Merkmalen des Daseins (Wandel, Verbundenheit und Offenheit) stimmt nicht nur mit den neuesten Erkenntnissen der Naturwissenschaft (Evolution, Quantenphysik) überein; diese Merkmale können auch jederzeit und überall von jedem Menschen überprüft und bestätigt werden. Und wenn es heißt, dass sich im Buddhismus die Befreiung durch Verstehen und Übung und nicht durch Gnade oder Verdienst ergibt, werden das praktische Handeln des einzelnen Menschen und somit dessen Verantwortung und Mitgefühl sehr deutlich in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt.

Eine derartig fundierte Ethik wird im Lebensbereich "Arbeit" unaufhörlich daran erinnern, dass alle menschlichen Aktivitäten in die natürliche Mitwelt eingreifen. Diese Tatsache darf bei keiner Entscheidung - sei sie groß oder klein - unberücksichtigt bleiben. Wer Wandel und Offenheit als Voraussetzungen für jegliche Entwicklung versteht und sich selbst mit dem Ganzen verbunden fühlt und dieses Ganze ständig im Blick behält, gibt der Erde und der Zukunft eine Stimme.

Deshalb eignen sich die zur Besinnung auffordernden Methoden des Buddha (anhalten und genau hinschauen) nicht nur für eine ruhige und aufrichtige Betrachtung der Wirklichkeit, sondern sind auch eine hervorragende geistige Unterstützung für jegliches gesellschaftliche Engagement. Mit ihrer Hilfe lässt sich eine Gesinnung erarbeiten und stabilisieren, die sich mutig und kraftvoll den bevorstehenden einschneidenden Veränderungen widmen kann.


Ethik als Übung der Wahrhaftigkeit

Die Regeln des menschlichen Zusammenlebens ergeben sich dann nicht nach dem Motto "Du sollst ..." bzw. "Du sollst nicht ...", sondern aufgrund eigener Einsichten und der Einstellung "Ich werde ... " bzw. "Ich werde nicht ... ". Die Kunst des Lebens stellt sich demzufolge als eine im gegenwärtigen Moment, also mitten im Alltag stattfindende Übung dar, die vom Streben nach Wahrhaftigkeit und Integrität geprägt ist.

Die Zielrichtung dieser Aufgabe hat Lama Thubten Yeshe formuliert: "Ihr gewinnt Vertrauen in eure Entwicklungsmöglichkeiten als Mensch und entscheidet euch, sie zu entfalten." Zentrale Triebfedern einer buddhistisch motivierten Ethik sind Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut. Bei ihrer Verwirklichung kommt dem vom Buddha empfohlenen Mittleren Weg (das Heilsame tun, das Unheilsame lassen) eine besondere Bedeutung zu.

Es gibt zahlreiche Vorschläge, diese Ziele praktisch umzusetzen. Einige von ihnen werden in diesem Heft erläutert: so Arbeitsprojekte in Köln (Rainer Kippe) und New York (Bernie Glassman), achtsames Wirtschaften (Kai Romhardt) und buddhistisch orientierte Firmenberatung (Claudia Klein). Interessant sind auch Komplementärwährungen, zinsfreie Darlehen, bedingungsloses Grundeinkommen, Leben in Gemeinschaften, Gewaltfreie Kommunikation, kulturkreative Projekte, vegane Ernährung und Entschleunigungspraktiken, die auf dem Kongress "Arbeit. Wirtschaft. Umwelt. Verantwortlich handeln" vorgestellt werden, den die Deutsche Buddhistische Union vom 15. bis 17. Oktober in Berlin veranstalten wird.

Um diese Wege beschreiten und durchhalten zu können, sind überzeugende Ausrichtungen und Motive erforderlich, die nachhaltig beflügeln. Wenn Ethik sich durch die Gesinnung, die Beweggründe und Wirkungen menschlichen Handelns ausdrückt und wenn eine gedeihliche Zukunft nur durch einen Wechsel dieser Antriebskräfte möglich ist, dann benötigen wir nicht nur im Bereich Arbeit eine neue Ethik. Dies wäre ganz im Sinne des Philosophen Hans Jonas, der schon 1992 der Auffassung war, "dass die Philosophie eine neue Seinslehre erarbeiten muss", in der "die Stellung des Menschen im Kosmos und sein Verhältnis zur Natur im Zentrum" stehen sollten.

Die Erfahrung der unmittelbaren Verbundenheit mit dem Dasein und das bewusste Erleben einer vollständigen Anwesenheit in dieser Welt bedeuten nicht, dass ein verantwortungsvolleres Vorgehen ständig große Schritte erfordert. Im Gegenteil: Wandel erfolgt durch viele kleine Schritte, die von vielen einzelnen Menschen möglichst auf offene Weise, also freiwillig und kreativ, zu vollziehen sind. Die Lehre des Buddha bietet dabei ein stabiles Fundament für das wissende Gefühl, auf einem ethisch integeren Weg zu sein.


Manfred Folkers, Diplompädagoge, Taiji- und Qigong-Lehrer (DDQT), Dharma-Lehrer (ernannt von Thich Nhat Hanh), seit 1995 Vorsitzender des Vereins "Achtsamkeit in Oldenburg", Buchautor (u. a. "Achtsamkeit und Entschleunigung") und Rat der Deutschen Buddhistischen Union. Er lebt mit Frau und Kind in Oldenburg i. O.


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Quelle:
Buddhismus aktuell, Ausgabe 2/2010, S. 6-9
Herausgeberin: Deutsche Buddhistische Union (DBU)
Buddhistische Religionsgemeinschaft e.V.
www.dharma.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2010