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PRESSE/938: "Der Geist geht allem voran" (Buddhismus aktuell)


Buddhismus aktuell, Ausgabe 2/2012
Zeitschrift der Deutschen Buddhistischen Union

"Der Geist geht allem voran"

Interview von Michaela Doepke mit mit S. H. Drikung Kyabgön Chetsang, Oberhaupt der Drikung-Kagyü-Linie



Während der großen Feierlichkeiten in Tingmosgang anlässlich der Einweihung des Bodhi-Stupa sowie des Geburtstags S. H. Drikung Kyabgön Chetsang hatte Michaela Doepke die seltene Gelegenheit, eine Privataudienz zu erhalten. Eindrucksvoll äußerte sich der Thronhalter der Drikung-Linie im Gespräch über die große Kraft von Gedanken, Gebeten und Ritualen, die Frieden für Mensch und Umwelt bewirken sollen.


Buddhismus aktuell: Eure Heiligkeit, es ist eine große Ehre für mich, Sie anlässlich der großen Feierlichkeiten in Tingmosgang interviewen zu dürfen. Als Chefredakteurin von Buddhismus aktuell, der Zeitschrift der Deutschen Buddhistischen Union, möchte ich Ihnen im Namen unserer Leserinnen und Leser gern einige Fragen stellen. Würden Sie mir freundlicherweise etwas über die Drikung-Linie erzählen?

S. H. Drikung Kyabgön Chetsang: In Tibet gibt es vier Haupttraditionen des Buddhismus: Sakya, Gelug, Nyingma und Kagyü. Die Drikung-Kagyü-Linie ist Teil der Kagyü-Linie und über 800 Jahre alt. Sie ist der Tradition des Übersetzers Marpa zugeordnet und hat dort ihren Ursprung. Marpa selbst reiste dreimal nach Indien und viermal nach Nepal und studierte und praktizierte den Dharma über 20 Jahre hinweg. Schließlich übersetzte er all die Texte, die er studiert hatte, vom Sanskrit ins Tibetische und brachte sie nach Tibet, wo er letztendlich lehrte und Schüler wie Milarepa hatte. Milarepas Schüler wiederum war Gampopa, der selbst wieder vier große Schüler hatte. Diese waren Karmapa Dusum Khyenpa, Phagmodrupa, Tsalpa Tsondru Dragpa and Barom Darma Wangchug. Und von den Schülern Phagmodrupas war Lord Jigten Sumgön der Gründer der Drikung-Kagyü-Linie. Dieser gründete den Sitz der Drikung-Kagyü im Jahr 1179 in Drikung Thil in Tibet. Das ist jetzt über 800 Jahre her.

Ich selbst bin der 37. Nachfolger auf dem Thron Lord Jigten Sumgöns. In Tibet kümmert sich S. H. Chungtsang Rinpoche um die Linie. Außerhalb Tibets, in Indien, Nepal, Ladakh und im weiteren Ausland, habe ich mich um das Gedeihen der Linie bemüht. Im Augenblick haben wir mehr als 100 Klöster in Ladakh, Nepal und Indien sowie etwa 100 weitere Klöster in Tibet. Im Westen und in anderen Ländern gibt es derzeit etwas mehr als 100 Dharma-Zentren. So sieht es im Augenblick aus.

Buddhismus aktuell: Und S. H. Chungtsang Rinpoche ist in Tibet? Darf er dort in seinem Kloster praktizieren?

S. H. Drikung Kyabgön Chetsang: In Tibet hat S. H. Chungtsang leider nicht die Möglichkeit, in einem Kloster zu praktizieren oder zu lehren. Es gibt jedoch in Tibet ein Amt für religiöse Angelegenheiten, welches Teil der Chinesischen Buddhistischen Vereinigung ist. Und S. H. Chungtsang Rinpoche ist Generalsekretär einer Abteilung der Buddhistischen Vereinigung und hatte mehrmals die Gelegenheit, einige europäische Länder zu bereisen. Das waren offizielle Reisen, die vom Staatlichen Amt für religiöse Angelegenheiten organisiert wurden. So etwas ist möglich, aber einen Tempel oder ein Kloster zu besuchen oder zu praktizieren und Belehrungen zu geben, wird ihm nicht gestattet.

Buddhismus aktuell: Von der spirituellen Atmosphäre hier war ich sehr beeindruckt. Man spürt, dass die Menschen in Ladakh einen sehr tiefen Glauben besitzen. Ist Buddhismus für Sie mehr eine Religion oder eher eine Philosophie? Im Vergleich zu westlichen Menschen folgen die Menschen hier ihrem Glauben. Sie lassen sich von ihrer Hingabe, von ihrem Vertrauen leiten. Aber sie haben nicht viel philosophisches Wissen.

S. H. Drikung Kyabgön Chetsang: Im Westen dagegen sind die meisten Menschen gebildet und besitzen einen Universitätsabschluss. Seit 1960 etwa gedeiht der Buddhismus in westlichen Ländern, sodass es inzwischen einige große Gelehrte gibt. Es wurden viele Dharma-Bücher geschrieben, und philosophisch gesehen wurde viel erreicht.

Aber auch hier in Ladakh hat sich seit 1960 einiges verändert. In den Klöstern gibt es jetzt Schulen für die jungen Mönche, die verschiedene Unterrichtsfächer anbieten. Es steht den jungen Mönchen offen, an unterschiedlichen Shedras zu studieren, an anderen Akademien und Klöstern in Indien, um ihr Studium zu erweitern und zu vertiefen ... Aber vor allem sind die Menschen hier sehr religiös und lassen sich von ihrem Glauben leiten. Ich beobachte auch, dass die Menschen in Ladakh und Tibet es vorziehen, Ermächtigungen zu erhalten - Langlebensermächtigungen und so weiter ... Manche wollen ihren Reichtum vermehren. Sie erhalten die Ermächtigungen und hoffen, dass die Geschäfte gut gehen.

Leute aus dem Westen mögen dagegen lieber Belehrungen über Mahamudra oder Dzogchen. Sie wollen die Essenz des Dharma erforschen, zum Inneren der Lehre vordringen. Ihr Interesse geht mehr in diese Richtung, und sie überprüfen und versuchen zu verstehen. Ich sehe das als ein sehr gutes Zeichen.

Ich meine, man kann den Buddhismus nicht als Religion im Sinne des Christentums bezeichnen, weil im Buddhismus der blinde Glaube nicht gefördert wird. Glaube sollte auf geistigem Verstehen und logischem Denken beruhen, und aus dieser Perspektive ist es keine Religion. Wir sind jedoch angehalten, Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha zu nehmen. In diesem Sinne gibt es religiöse Aspekte, aber es ist nicht Religion im Sinne des Christentums, welches völlig auf Glauben basiert. Der Buddhismus ist der modernen Wissenschaft sehr nahe, denn er lehrt das Gesetz "des abhängigen Entstehens" von Ursache und Wirkung, Karma und Auswirkung und so weiter.

Der Buddha erklärte die Abhängigkeit von Ursache und Bedingungen am Beispiel der Erzeugung von Feuer. In früheren Zeiten brauchte man dazu zwei Stückchen Holz, und um diese aneinander zu reiben, brauchte man eine Person und die Bemühungen dieser Person. Wenn all das zusammenkam und zusammenwirkte, dann entstand als Resultat das Feuer, auf Grund der gegenseitigen Abhängigkeit. Das ist ein Beispiel für alle Erscheinungsformen. Alles, was entsteht, entsteht durch die gegenseitige Abhängigkeit von Ursache und Bedingungen. Und wenn man dann die Erscheinungsform kritisch analysiert, findet man letztendlich kein Objekt, dem man eine endgültige Identität zuschreiben könnte. Deswegen ist alles, was abhängig entstanden ist, von Natur aus leer. Und deshalb bringt der Buddhismus viele Nachforschungen mit sich, viele Analysen. Deswegen kann man nicht ganz davon sprechen, dass der Buddhismus eine Religion ist, denn er ist nicht nur Glaube.

Buddhismus aktuell: Können Sie unseren Lesern freundlicherweise erklären, worin Sie die Stärke und die Kraft der Lehren des Buddha sehen?

S. H. Drikung Kyabgön Chetsang: Der Geist geht allem voran. Deshalb ist alles, gut oder böse, durch den Geist bestimmt. Heilsame wie unheilsame Gedanken entstehen im Geist. Der Geist ist die Grundlage. Deshalb ist die wichtigste Aufgabe im Dharma, den Geist zu befrieden und zu zähmen. Dafür haben wir die Praktiken von Liebender Güte und Mitgefühl. Die Buddhas und Bodhisattvas haben bereits große Gebete für unser Glück, für den Frieden in der Welt und für alle fühlenden Wesen gemacht. Wenn wir uns zusätzlich selbst in Liebe und Mitgefühl üben und für Frieden und Harmonie in der Welt beten, dann kann das eine große Auswirkung in dieser Welt und in diesem Zeitalter haben.

Buddhismus aktuell: Viele Menschen aus dem Westen waren sehr beeindruckt, als sich plötzlich während der Belehrungen und Einweihungen hier in Tingmosgang jeden Tag ein Regenbogen am strahlend blauen Himmel wie aus dem Nichts manifestierte. Wir spürten, dass sehr, sehr viel Kraft von diesen Gebeten und Ritualen ausgeht. Derzeit erleben wir viele Umweltkatastrophen wie jüngst in Fukushima in Japan oder auch die Flutkatastrophe vor einem Jahr in Ladakh. Sind Sie eigentlich der Überzeugung, dass Gebete den Geist der Menschen und unsere Umwelt oder sogar das Wetter maßgeblich beeinflussen können?

S. H. Drikung Kyabgön Chetsang: Ich glaube, dass Gebete wie zum Beispiel die Praxis der Liebenden Güte durchaus einen Einfluss haben und Veränderungen hervorbringen können. Jemand, der die Liebende-Güte-Meditation perfekt beherrscht, kann nicht mit Waffen verletzt werden. Das können wir am Leben des Buddha sehen. Kurz vor seiner Erleuchtung haben die Dämonen versucht, seinen Geist abzulenken, ihn zu zerstören, und sie haben mit Steinen und Waffen nach ihm geworfen. Aber alle Waffen haben sich in Blumen verwandelt, sie konnten ihm nichts anhaben. Und das ist ein Beispiel für die Kraft wahrhafter Liebender Güte.

Ich meine auch, dass alle Buddhas und Bodhisattvas sehr wirksame Gebete für das Wohlergehen aller Lebewesen in der Welt bereithalten und dass dies auch auf andere Religionen zutrifft. Es gibt viele Gebete für das Wohl fühlender Wesen. Und wenn wir darüber hinaus jetzt auch unseren eigenen Geist transformieren und Liebende Güte und Mitgefühl entwickeln, dann können wir wundersame Verwandlungen, unvorstellbare Veränderungen hervorrufen . Wenn wir Liebe und Mitgefühl entwickeln, dann ruft das ein Gefühl der Freude und des Glücks hervor, nicht nur für menschliche Wesen, sondern auch für formlose Wesen wie die Geister und die Wesen der Erde und anderer Elemente. Sie werden zufrieden und glücklich, und dann erzeugen sie erstaunliche Dinge wie Wolken, Regenbogen, Regentropfen und andere Glück verheißende Zeichen. All das geschieht aufgrund der Abhängigkeit vieler Elemente. Um diese wunderbaren Dinge entstehen zu lassen, braucht es die Beteiligung vieler Aspekte.

Buddhismus aktuell: Die meisten Menschen im Westen glauben nicht, sondern folgen eher der Ratio und verlangen ständig Beweise für bestimmte Phänomene. Für uns Westler waren die spirituellen Erlebnisse hier in Tingmosgang eine wichtige Botschaft und überzeugten uns davon, dass wir unseren Geist durch die Praxis tatsächlich transformieren und dadurch sehr viel Positives für die Mit- und Umwelt bewirken können. Durch welche Geisteshaltung können wir Ihrer Ansicht nach noch mehr Respekt vor der Natur erlangen?

S. H. Drikung Kyabgön Chetsang: In den Bäumen, in den Bergen, in den Felsen existieren unzählige Lebewesen. Diese sind ihre Wohnstätten. Es ist ihr Zuhause. Wenn wir ihr Heim zerstören, dann werden sie unruhig. Und als Resultat sehen wir eine Vielzahl von Katastrophen ... Wenn wir die Natur durch unsere Handlungen zerstören, dann zerstören wir auch das Leben, das Heim vieler Lebewesen. In früheren Zeiten, als ich noch sehr jung war, gab es bestimmte Vorschriften in Tibet. So war es nicht erlaubt, Bäume im Wald zu fällen, und es war nicht erlaubt, wilde Tiere zu jagen. Tiere wie Leoparden kreuzten die Wege der Menschen, und die Menschen mussten anhalten, weil diese Tiere ihnen auf ihrem Weg begegneten. Das heißt in Tibet "nagyal" und "lungyal". "Nagyal" bedeutet, dass die Berge versiegelt, geschützt sind, und "lungyal", dass die Tiere, das Wild geschützt sind. So war die Situation in jener Zeit, und deshalb gab es auch weniger Naturkatastrophen, weniger Überflutungen und so weiter. Generell ist es durchaus möglich, dass wir einige Katastrophen erleben. Aber heutzutage gibt es zu viele davon. Und das hat damit zu tun, dass es viel Missachtung gegenüber den Elementen, der Umwelt gibt. Es ist die Folge dieser Achtlosigkeit der Menschen, dass wir heute mehr Katastrophen erleben als früher.


Übersetzung aus dem Englischen: Ani Konchog Jinpa Chodron (Jutta Gassner).< br> Das Interview wurde von Michaela Doepke im August 2011 im Kloster Tserkamo in Tingmosgang in Ladakh geführt.

Hinweis: S. H. Drikung Kyabgön Chetsang Rinpoche hat im Westen drei neue Milarepa-Retreat-Zentren gegründet. Diese befinden sich in Ungarn, in Neuseeland und in Schneverdingen in Deutschland. Um einen Bau ohne Hindernisse zu erwirken, hatte er in diesen Zentren vor Baubeginn persönlich Erdrituale ausgeführt.

Weitere Infos: www.drikung.org

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Quelle:
Buddhismus aktuell, Ausgabe 2/2012, S. 17-19
Herausgeberin: Deutsche Buddhistische Union (DBU)
Buddhistische Religionsgemeinschaft e.V.
www.dharma.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. April 2012