Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → BUDDHISMUS

PRESSE/951: Die Göttlichen Verweilungen (Der Mittlere Weg)


Der Mittlere Weg - Nr. 3, September - Dezember 2012
Zeitschrift des Buddhistischen Bundes Hannover e.V.

Die Göttlichen Verweilungen

von Axel Rodeck




Die Brahmaviharas

Es gibt und gab schon immer eine Vielzahl von Meditationstechniken, also praktische religiöse Übungen, die dem spirituellen Fortschritt des Übenden dienen sollen. Im Buddhismus unterscheidet man zwei Hauptgruppen, deren eine (vipassana) zu Perspektivenwechsel bei der Betrachtung der Welt, und deren andere (samatha) zu Geistesberuhigung führt. Alle diese Techniken sind nach innen gewandt und sollen ausschließlich dem Meditierer nützen. Ergeben sich dann mittelbare positive Folgen für die Gesellschaft - um so besser, aber nicht bezweckt.

Doch gibt es eine Ausnahme, nämlich eine nach außen und in die Gesellschaft, ja in die gesamte Welt hinein gerichtete Meditationsweise. Sie nennt sich "Brahmavihara", was mit "Brahma-Verweilungen" übersetzt werden kann nach dem Hindu-Gott Brahma, der in der indischen Kunst mit vier Gesichtern in alle Himmelsrichtungen schauend dargestellt wird. Andere Bezeichnungen sind "Göttliche Verweilungszustände" oder auch "Unermeßlichkeiten" (appamanna). Sie sind der Inhalt einer Meditationsübung, bei der der Meditierende vier positive Geisteszustände in sich erweckt und diese nach allen Himmelsrichtungen ausstrahlt.

Das erste Objekt dieser Meditation ist die "liebende Güte" (metta). Der Meditierende begibt sich in Meditationshaltung und durchströmt mit einem Denken voller Güte nacheinander die vier Himmelsrichtungen sowie den Raum nach oben und unten. Anschließend strahlt er nacheinander Mitgefühl (karuna), Mitfreude (mudita) und Gleichmut (upekkha) auf die selbe Weise aus.

Für unsere Betrachtung besonders wichtig sind die "liebende Güte" (metta) und das Mitgefühl (karuna). "Karuna" erstreckt sich über Menschen und Tiere hinaus bis in die Pflanzenwelt. Metta und Karuna sind die Anknüpfungspunkte für die altruistischen Tätigkeiten, insbesondere auf sozialem Gebiet. Denn mit ihnen geht der Heilssucher über die bloße Unterlassung unheilsamer Taten hinaus, gibt den negativ gefassten Verhaltensregeln also eine positive Interpretation.

Wie der Indologe E. Conze ausführt, zeigen die "Brahmaviharas" keine spezifisch buddhistischen Eigenschaften, sondern finden sich auch in den Yoga-Sutras von Patanjali und wurden möglicherweise anderen indischen Religionen entnommen: "Jahrhunderte lang standen sie eher am Rande der buddhistischen Lehre und die orthodoxe Elite hielt sie für untergeordnete Praktiken, die mit den übrigen, die Unwirklichkeit von Personen und Dingen betonenden Übungen nicht recht übereinstimmten. Dennoch sind es wichtige Mittel zur Selbstauslöschung und im Mahayana wurde ihnen sogar ein derartiger Stellenwert eingeräumt, dass sich die gesamte Struktur der Lehre veränderte."

Ein alter Sutra-Text zu den Brahmaviharas (Unermeßlichkeiten) lautet:

"Vier Unermeßlichkeiten gibt es. Da, ihr Brüder, durchstrahlt der Mönch mit einem von Güte (ebenso: Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut) erfüllten Geist erst eine Richtung, dann eine zweite, dann eine dritte, dann die vierte, ebenso nach oben, unten und ringsherum; und überall mit allem sich verbunden fühlend durchstrahlt er die ganze Welt mit einem von Güte (ebenso: Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut) erfüllten Geist, mit weitem, erhabenem, unbeschränktem Geist frei von Gehässigkeit und Groll."

(Übersetzung Nyanatiloka)


Metta und Karuna

Sittlichkeit ist das, was ein anständiger Mensch sowieso nicht tut, sie verhindert schlechtes Karma. Wer jedoch gutes Karma erlangen will, muß darüber hinaus gehen. "Mitgefühl und Güte (karuna und metta) geben der buddhistischen Lehre die Lebenswärme, die sie den Strafgesetzen überlegen macht" (H.W. Schumann). "Metta" entspricht bis zu einem gewissen Grad der christlichen "Liebe", das christliche Gebot der Nächstenliebe hat hier eine buddhistische Entsprechung. Das berühmteste buddhistische Dokument über die "Liebende Güte" ist das täglich tausendfach zitierte "Metta-Sutta", welches auch in westlichen Meditations-Zirkeln regen Zuspruch findet. Eine (als kurz gefasste Inhaltsangabe anzusehende) Fassung lautet:

"Mögen alle Wesen wohl und glücklich sein! Mögen sie heiter sein und in Sicherheit leben. Alle Wesen, ob schwach oder stark - ohne Ausnahme - in hohen, mittleren oder niedrigen Sphären des Daseins, klein oder groß, sichtbar oder unsichtbar, nah oder fern, geboren oder ungeboren, mögen sie alle wohl und glücklich sein. Niemand soll einen anderen täuschen oder verachten, in welchem Stande er sich auch befinden möge. Niemand soll in Ärger oder bösem Willen dem anderen Böses wünschen. Genau wie eine Mutter über ihr Kind, ihr einziges Kind, wacht und es beschützt, so, mit freiem weiten Herzen, soll man alle lebenden Wesen lieben und Freundlichkeit ausstrahlen über die ganze Welt, über uns, unter uns und um uns her, ohne Grenze; möge so ein jeder unbegrenzten, guten Willens sein gegenüber der ganzen Welt, ohne Beschränkung und frei von bösem Willen oder Feindschaft."

(nach E. Conze)

Noch höher als die "Silas", die (in Teilen den christlichen 10 Geboten entsprechenden) sittlichen Grundregeln, bewertet der Buddha die Güte (metta) zu den Wesen. Denn sie bedeutet ein Wohlwollen ohne innere Bindung und hat den Zweck, aus dem eigenen Herzen Haß und Mißgunst zu entfernen. Dabei ist die Entwicklung von "liebender Güte" keineswegs nur eine rein technische Übung, sondern der Meditierer muß möglichst intensive Gefühle entwickeln und diese Stimmung Schritt für Schritt auf andere Wesen ausdehnen. Die Liebe der Mutter zu ihrem Kind wird als nachahmenswertes Beispiel angegeben.

Die Schwierigkeiten des Normalmeditierers in der Praxis sind naturgemäß groß. Stellen wir uns doch einmal die Frage, wie ernst wir es meinen, wenn wir jemandem einen "guten Tag" oder "frohe Weihnachten" wünschen. Derartige Wünsche sind meist zu Phrasen verkommen und die Intensität einer Mutterliebe wird wohl nur selten erreicht. Bei der Liebende-Güte-Meditation ein wohlwollendes Gefühl nicht nur für geliebte Angehörige, sondern auch für wenig beachtete oder gar negativ eingestufte Personen zu entwickeln, setzt schon allerlei innere Beherrschung voraus. Aber auch hier macht sicherlich die Übung den Meister.

Immerhin ist, wie oben bereits angedeutet, die Metta-Ideologie die Basis für das soziale Engagement des Buddhismus seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts geworden. Während der alte Buddhismus die Diesseitsaufgaben der Religion noch gering schätzte, wird heute zunehmend seine soziale Verpflichtung betont. Die Buddhisten haben sich von ihren Meditationssitzen erhoben und soziale Aufgaben sowie Mitarbeit in Politik und Ökonomie übernommen.


Die Bodhisattvas

Bei aller theravadischen Freude (mudita!) über das Postulat von "Metta" als tatkräftige Liebe - gute Gefühle allein machen noch keinen Hungrigen satt - wollen wir nicht verschweigen, dass es der Buddhismus des Mahayana war, der die Tür zum Altruismus weit aufstieß. Denn Hilfsbereitschaft gegenüber notleidenden Mitwesen war traditionell nicht gerade Schwerpunkt der alten indischen Kultur - und die strenge Ausrichtung der frühen Buddhisten auf die eigene Erlösung wurde seit dem Entstehen des Mahayana-Buddhismus im 1.Jh.v.Chr. ein ständiger Kritikpunkt. Es erschien selbstsüchtig, wenn die Anhänger des frühen Buddhismus zwar Mitgefühl (karuna) für alle Wesen übten, sich aber dadurch nicht vom ausschließlichen Ziel des eigenen Heils (Nirvana) abbringen ließen. Herzlos und egoistisch sei es, so wurde gesagt, sich ins Nirvana zu verabschieden und die bedauernswerten Mitwesen im Geburtenkreislauf zurück zu lassen.

Mit dem Mahayana kam daher ein neues Leitbild auf, das des "Bodhisattva". Ein Bodhisattva ("Erleuchtungswesen") war nach altem Sprachgebrauch jeder auf dem Weg zur Erlösung Befindliche. Nun wurde der Begriff auf einen kurz vor dem Ziel befindlichen, uneigennützigen Heilssucher bezogen: Dieser könnte zwar schon das Heilsziel erreichen, verzichtet darauf jedoch freiwillig, um sich der Leidensbefreiung anderer zu widmen. Aus reinem Mitgefühl bleibt er als Nothelfer in der Welt und räumt den anderen Heilssuchern unheilsames Karma (die Folgen früherer schlechter Taten) aus dem Wege.

Anders als die Buddhas, die sich auf das Aufzeigen des Erlösungsweges beschränken, aber keine praktische Hilfe leisten, stehen die Bodhisattvas nun für tatkräftige Unterstützung zur Verfügung. Sie geben aus ihrem reichhaltigen Vorrat an Verdienst den Bedürftigen ab. Das widersprach freilich der alten Lehre, wonach das Karma höchstpersönlich wirkt und Verdienstübertragung (Pali: pattidana) durch Dritte nicht möglich ist. Der Populärbuddhismus hatte jedoch auch in den theravadischen Ländern den Brauch entwickelt, lieben Verstorbenen Verdienst (punna) nachzusenden. Dies gab den neuen mahayanischen Vorstellungen Entfaltungsmöglichkeit: Bei aller Ablehnung der mahayanischen Neuerungen übernahmen die Anhänger des Hinayana (Theravada) doch gelegentlich stillschweigend Mahayanalehren, die sie als nützlich und akzeptabel empfanden. Verdienstübertragung und mitleidiges Tätigwerden gehörten dazu.

Der Altruismus der Bodhisattvas wurde somit allgemeines buddhistisches Leitbild und prägte das soziale Verantwortungsbewußtsein über die Anhänger des Mahayana hinaus auch für die Angehörigen anderer Lehrtraditionen. In heutiger Zeit mag die Konkurrenz zum die Nächstenliebe predigenden Christentum dazu beigetragen haben, dass in die Gesellschaft hineinwirkende buddhistische Aktivitäten entwickelt wurden.

*

Quelle:
Der Mittlere Weg - majjhima-patipada
44. Jahrgang, September - Dezember 2012/2556, Nr. 3, Seite 20-22
Herausgeber: Buddhistischer Bund Hannover e.V.
Drostestr. 8, 30161 Hannover,
Tel. und Fax: 05 11/3 94 17 56
E-mail: info@buddha-hannover.de
Internet: www.buddha-hannover.de
 
"Der Mittlere Weg - majjhima-patipada" erscheint
nach Bedarf und ist für Mitglieder kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2012