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PRESSE/960: Die Königskobra (Buddhistische Monatsblätter)


Buddhistische Monatsblätter Nr. 3/2012, September - Dezember
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.

Die Königskobra

von Alfred Weil



Sie war berüchtigt, die Königskobra, die sich schon vor einiger Zeit in der Nähe des Dorfes niedergelassen hatte. Mit ihrer gewaltigen Größe und ihrer ungewöhnlichen Aggressivität versetzte sie Groß und Klein in Furcht. Wenn immer die Dorfbewohner sie zu Gesicht bekamen, suchten sie schleunigst das Weite.

An einem sonnigen Morgen hatte sie ihren Aufenthaltsplatz an einer Steinmauer ganz in der Nähe des Weges zu den Feldern gewählt, und die Frauen und Männer, die auf ihm unterwegs waren, mussten einen großen Bogen machen. Gegen Mittag sah man aus der Ferne einen buddhistischen Mönch sich andächtigen Schrittes den Häusern nähern, und es konnte nicht lange dauern, bis er an der gefährlichen Stelle vorbei kommen würde. Die Bauern bei ihrer Arbeit sahen Unheil auf den Pilger zukommen und versuchten sogleich, ihn zu warnen. Der Fremde aber ließ sich nicht beeindrucken und ging unbeirrt weiter. Als er auf der Höhe der Kobra angelangt war, schnellte diese plötzlich empor, reckte drohend ihren Kopf und zischte den Vorübergehenden wutentbrannt an.

Doch der braungewandete Mönch ließ sich nicht erschrecken oder gar zu irgendeiner Handlung hinreißen. Im Gegenteil. Er sah die Schlange freundlich und liebevoll an, als sei sie eine gute alte Freundin von ihm. Das hatte die Kobra noch nie erlebt und sie bemerkte verwundert, dass ihr dieser Blick unglaublich wohl tat. In einem Augenblick war ihr Zorn verflogen, und die Feindseligkeit, die sie eben noch verspürte, war spurlos vergangen.

Nun redete der Pilger sie an, denn er war der Sprache der Tiere mächtig: "Sieh' selbst, jetzt bist du heiter und froh, weil du dein Wüten und Rasen eingestellt hast und keine Zorngedanken hegst. Wenn du in deiner Wildheit anderen Furcht und Schrecken einjagst, tust du auch dir nichts Gutes. Ich kenne schon lange keine üblen Gedanken mehr, sage nichts Böses und füge niemandem ein Leid zu. Daher lebe ich mit anderen und mit mir selbst in völliger Harmonie - und ich bin glücklich."

Die sanften Worte des Mannes machten die Königskobra sehr nachdenklich, und es fiel ihr wie Schuppen von den Augen: Ihr bisheriges Leben war von Wut und Hass bestimmt, und sie selbst daher immer in innerer Anspannung und Unfrieden. Im Augenblick aber war alles anders, sie war ruhig und heiter. Ja, sie wollte, sie musste sich ändern. Die Schlange dankte dem Pilger und versprach ihm, von nun an allen Wesen nur noch voller Wohlwollen und Liebe zu begegnen.

Natürlich fiel es den Dorfbewohnern bald auf, dass das gefürchtete Reptil sich nicht mehr wild und bedrohlich gebärdete, wenn sie in ihre Nähe kamen, sondern sich still auf den Steinen sonnte oder friedlich durch das Gras schlüpfte. Sie hielten die Kobra für schwach oder krank und hatten deshalb keine Angst mehr vor ihr. Ja, mit einem Mal sahen sie die Möglichkeit, dem Reptil endlich das früher erlittene Leid heimzuzahlen. Der Mutigste fing an, die arme Schlange mit einem Stock zu ärgern und sie bei ihrem Sonnenbad zu stören. Bald zogen die anderen nach, einige fassten sie am Schwanz und ließen sie in der Luft kreisen. Andere traten nach ihr, bewarfen sie mit Ästen und Steinen oder schlugen sie. Die Angriffe und die spöttischen Bemerkungen wollten kein Ende nehmen; das gepeinigte Tier blutete und sicher hatte es auch ein paar Rippen gebrochen. Und eines Tages war es so krank und matt, dass es sich kaum mehr bewegen konnte.

Da war es kein Wunder, dass sie etwas unsicher wurde, ob ihr neuerliches Verhalten überhaupt richtig war und ob sie nicht besser wieder zu ihrer alten Art zurückkehren und drohend ihre gespaltene Zunge zeigen oder gar beißen sollte. Und doch war ihr so wohl dabei, wenn Wut und Ärger in ihr schwiegen.

Wie freute sich da unsere Königskobra, als sie nach einiger Zeit ihren vormaligen Lehrer, den weisen Mönch mit seiner einfachen Kutte, wieder still des Weges kommen sah. Er war die Rettung, er wusste sicher Rat. Tatsächlich war der Pilger wiedergekommen, um nach seiner Schülerin zu sehen und in Erfahrung zu bringen, welche Fortschritte sie gemacht hatte oder welche Schwierigkeiten ihr begegnet waren.

Der Mönch war allerdings ziemlich überrascht, die einstmals so prächtige Schlange völlig kraftlos, abgemagert und mit den Spuren vieler Verletzungen vorzufinden. "Wie geht es dir?", fragte er besorgt. "Weshalb siehst du so elend aus? Was ist dir widerfahren, dass es dir so schlecht geht?"

"Eigentlich geht es mir nicht schlecht. Klar, ich bin ein wenig schmäler geworden, weil ich keine Mäuse und Frösche mehr töte, um sie zu fressen. Ich bringe es einfach nicht mehr übers Herz. Und wenn ich nicht gerade ein totes Tier finde, ernähre ich mich von Pflanzen und Früchten. Das ist schon in Ordnung."

"Aber du bist doch von Narben übersät und machst einen ziemlich verstörten Eindruck. Da muss doch noch etwas anderes dahinterstecken."

"Nun, wenn du so fragst: Als die Dorfbewohner mitbekamen, dass ich nicht mehr mit den Augen blitzte und nicht mehr nach ihnen schnappte, wurden sie übermütig und trieben es ärger und ärger mit mir. Am Ende quälten mich sogar die kleinen Kinder nur so zum Spaß. Deshalb glaube ich fast, dass sich dein Ratschlag von damals gar nicht immer verwirklichen lässt."

"Sage das nicht. Sage das nicht. Gewiss, ich habe dir geraten, niemanden zu verletzen oder gar zu töten. Du sollest keinem Wesen absichtlich einen Schaden zufügen oder es beeinträchtigen, stattdessen ihm stets mit Freundlichkeit und Wohlwollen begegnen. Doch war nicht davon die Rede, dass du nicht zischen darfst, wenn man dir zu nahe tritt oder übel will. Es hätte niemandem wehgetan, hättest du dich in deiner ganzen Größe gezeigt und jedem deutlich gemacht, dass du wie jeder andere unbehelligt bleiben möchtest."

Dass sie nicht selbst darauf gekommen war! Denn der Pilger hatte Recht, wie sich schnell herausstellte. Bald hatte die Kobra nämlich ihre Mutlosigkeit überwunden und bewegte sich wieder frei und unbekümmert in den Feldern und auf den Weiden. Von ihrer liebevollen Haltung gegenüber jedermann ging sie nicht im Mindesten ab. Doch wenn wieder jemand Schabernack mit ihr treiben wollte, reckte sie sich mächtig in die Höhe, züngelte und zischte nach Kräften und flößte so dem Betreffenden gehörig Respekt ein. Und schließlich kamen alle gut miteinander aus.

Diese indische Fabel, die ich frei nacherzählt habe, atmet durch und durch den Geist des Wohlwollens. Sie spricht von einer Haltung den Mitwesen gegenüber, die frei ist von Aversion und Aggression. Sie bekräftigt eine zentrale Botschaft nicht nur der buddhistischen Tradition, niemandem willentlich Leid zuzufügen. Und in der Fabel ist es möglich, dass sogar ein instinktgebundenes Tier, das sonst nur seinen blinden Trieben entsprechend handeln kann, sich eine solch hohe Gesinnung zueigen macht.

Doch lenkt diese Geschichte unsere Aufmerksamkeit noch in eine weitere Richtung. Sie greift eine mehr oder weniger deutliche Sorge auf, die in so manchem auftauchen mag, der sich darum bemüht, stets zuvorkommend und rücksichtsvoll zu sein. Wieweit kommt man eigentlich damit? Kann man in Zeiten wie den heutigen wirklich nur wohlwollend sein? Geht es in einer zunehmend rauer werdenden gesellschaftlichen Wirklichkeit ganz ohne Ellenbogen und ganz ohne eine gewisse Härte?

Vielleicht ist die geforderte liebevolle Haltung ja lediglich ein hoch zu schätzendes Ideal für die Sonntage, das sich aber an den grauen Werktagen als unzulänglich erweist. In der Familie, unter Verwandten oder im Kreis der Freunde mag sie ihre unverzichtbare Rolle spielen. Aber im "feindlichen Leben"? Ausnahmslos und immer?

Oder wir haben sogar schon einmal die traurige Erfahrung gemacht, dass sich Freundlichkeit tatsächlich nicht auszuzahlen schien. Nicht etwa, dass nur der erwartete Dank für unser Entgegenkommen oder eine positive Reaktion ausgeblieben wären. Darüber könnte man hinwegsehen. Nein, ich meine die Erfahrung, dass unsere Mitmenschen Freundlichkeit und Offenheit als Schwäche auslegen oder sie gar als Einladung betrachtet haben, dem eigenen Egoismus freien Lauf zu lassen. War nicht das Geschick der Königskobra das passende Beispiel dafür? Wurde ihre Friedfertigkeit nicht mit Hohn und Drangsal, ja mit körperlicher Verfolgung und Schmerz belohnt? Und wird damit die Empfehlung des Mönches nicht geradezu widersinnig und gefährlich?

Ich denke, der Rat des Pilgers erscheint ebenso weise wie praktikabel, wenn wir besonders das Ende der Geschichte betrachten. Sie sagte uns zunächst, wie unmittelbar wohltuend eine freundliche Art von dem erlebt wird, der diese Herzensverfassung hat - und ganz gleich, wie andere darauf reagieren. Aber das bedeutet doch nicht, die eigenen Interessen aus den Augen zu verlieren oder sie aufzugeben.

Das Missverständnis der neu bekehrten, aber noch unerfahrenen Schlange war, universelle Liebe mit völliger Selbstaufgabe zu verwechseln. Dazu mögen Heilige in der Lage sein, wir sind es nicht und wir brauchen es auch nicht zu sein. Und das macht der kluge Pilger seiner Schülerin deutlich: Wohlwollen meint, all jene Absichten fallen zu lassen, deren Verwirklichung uns einen Vorteil auf Kosten des Nächsten bringt. Wohlwollen meint, es soll allen gut gehen. Ja, allen ohne Ausnahme - und dazu gehören auch wir selbst. Wir haben den gleichen Anspruch auf Unversehrtheit und Glück wie jeder. Wenn wir allen Wesen Wohlergehen wünschen und gönnen, warum uns davon ausnehmen?

Die Folge davon ist, dass wir den Menschen, mit denen wir es zu tun haben, Grenzen aufzeigen, wenn das nötig ist. Gelegentlich ist dann ein deutliches Wort angebracht. Es kann klar und unmissverständlich zum Ausdruck bringen, was wir wollen und wozu wir nicht bereit sind. Wir können bestimmt und fest auftreten, ohne zu poltern oder laut zu werden. Wir dürfen uns artikulieren, aber nicht verletzen. Wir dürfen zischen, aber nicht beißen.

Darüber hinaus sollten wir zeigen, dass wir nach einer Lösung suchen, die beiden Seiten gerecht wird und bei der es keinen Gewinner und keinen Verlierer gibt. Die auch von Buddhisten so sehr gepriesene Haltung von Liebe und Güte, der Erwachte nennt sie metta, betrachtet die Menschen als gleich, was ihre Sehnsucht nach Frieden und Geborgenheit angeht. Und er betrachtet sie als gleich hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, beides zu erlangen: indem sie das gewähren, was wir selbst wünschen.

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Quelle:
Buddhistische Monatsblätter Nr. 3/2012, September - Dezember, Seite 7-11
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2013