Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → BUDDHISMUS

PRESSE/967: "Göttliches Verweilen" (Buddhistische Monatsblätter)


Buddhistische Monatsblätter Nr. 2/2013, Mai - August
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.

"Göttliches Verweilen"

von Dr. Alfred Weil



"Göttliches Verweilen"

Religionen antworten auf zutiefst menschliche Bedürfnisse. Sie zeigen, wie wir uns im Leben besser zurechtfinden und es heller und freudvoller gestalten können. Zugleich aber weisen sie über die menschliche Dimension hinaus. Sie sprechen von der Möglichkeit, sich zu wandeln und unbekannte Potenziale in sich zu wecken, die bislang verkümmert waren oder ungenutzt geblieben sind.

Folgen wir diesem Weg lange genug, entfalten sich in uns Eigenschaften, die über die alltägliche Art weit hinausgehen, ja geradezu übermenschliche Qualität annehmen. Ob wir sie dann himmlisch oder göttlich nennen, tut wenig zur Sache. Auf jeden Fall kommen wir in Kontakt mit einer anderen und höheren Ebene unseres Erlebens und Fühlens. Unser Herz schlägt nach einem anderen Takt, unser seelischer Aufenthaltsort ist ein hellerer, weiterer, höherer geworden. Buddhisten sprechen in diesem Zusammenhang oft von den "göttlichen Stätten des Verweilens" - den Brahmavihara, wie sie in der Sprache des Erwachten heißen.

Die alte indische Tradition sieht Brahma als ein hohes übermenschliches Wesen. Er ist Vorbild und Repräsentant eines überaus erhabenen geistig-seelischen Zustandes. Alles Kleinliche und Beschränkte, Enge und Unwürdige ist ihm fremd. Ein Brahma ist in vollkommener Harmonie mit sich selbst und anderen. Aversion und Ärger, Neid und Unruhe kennt er nicht.

In ihm zeigen sich vielmehr vier bemerkenswerte Herzensqualitäten, vier segensreiche Haltungen empfindenden Wesen gegenüber. Wenn ein Brahma anderen Lebewesen begegnet, lässt er sich allein von Güte oder Liebe, von Mitempfinden, von Freude und von Gleichmut leiten. Buddhisten nennen diese vier heilsamen Gemütsverfassungen Metta, Karuna, Mudita und Upekkha.

Güte oder Liebe ist es, die den Nächsten entdeckt und als ebenbürtigen Weggefährten im Leben würdigt. Wo sonst oft das eigene Interesse im Vordergrund steht, kommt jetzt in den Blick, dass jeder wie wir selbst nur das eine ersehnt: Er möchte glücklich sein und Frieden finden. Er möchte Wohl erfahren und Schmerz vermeiden, Angenehmes erleben und Unangenehmem ausweichen. Metta heißt, nicht nur sich selbst Gutes zu wünschen, sondern ausnahmslos allen. Metta ist universelles Wohlwollen, das nicht unterscheidet zwischen Mann und Frau, arm und reich, hoch- und niedriggestellt, gebildet und unwissend.

"Mögen alle Wesen glücklich sein" - in diesem Satz drückt es sich in den wenigen und einfachen Worten aus, denen sich alle Buddhisten zutiefst verpflichtet fühlen. Wer Metta übt, will anderen nicht zur Last fallen, will ihnen keinen Schaden zufügen oder sich ihnen gegenüber nicht rücksichtslos verhalten. Diese Haltung ist die Grundlage einer Ethik, die das Richtige aus der vollen Überzeugung der Ich-Du-Gleichheit tun lässt.

Die zweite dieser "göttlichen Verweilstätten" ist Mitempfinden. Es entsteht da, wo wir die Mitwesen in einer Situation von Bedrängnis und Schmerz sehen. Ist jemand krank, in materieller oder seelischer Not, sieht man in diesem Fall eben nicht weg.

Der Blick für die leidvolle Situation ist sogar geschärft. Sich den Opfern einer großen Katastrophe zuzuwenden, ist dann selbstverständlich. Doch genauso kommt es darauf an, die vielen kleinen Alltagssorgen und Belastungen um sich herum zu erkennen. Dabei meint der Ausdruck Karuna mehr, als nur für die beschwerten Lebensumstände anderer sensibler zu werden. Karuna besitzt auch eine deutlich aktive Seite. Wer Not mit diesen Augen sieht, will sie nach Möglichkeit lindern oder beseitigen. Wo Armut herrscht, ist für ihn konkrete materielle Hilfe angesagt. Wenn jemand trauert, darf er auf Trost und Zuspruch hoffen.

Mitempfinden sollten wir allerdings nicht mit Mitleid verwechseln. Es ist nicht zu allererst ein schmerzliches Gefühl, das dann nur aus einem schnell zwei Leidende werden lässt. Es ist der realistische Blick für die vorhandenen Unzulänglichkeiten und die Motivation, ihnen praktisch beizukommen.

Angesichts der vielfältigen Anforderungen und Aufgaben des Alltages wird es heute für viele immer schwerer, ihr Herz für den Nächsten zu öffnen und Anteilnahme zu zeigen. Aber fast noch schwieriger scheint es oft, Freude zu empfinden, wenn die Arbeitskollegin befördert wird, der Nachbar ein neues Auto bekommt, jemand besonders attraktiv aussieht oder über ungewöhnliche Fähigkeiten verfügt. Ihnen all das ohne Neid und Missgunst zu gönnen, ist für die meisten Menschen eher eine Herausforderung. Mudita meint aber genau das. Sie gönnt jedem das Gute und Schöne, das ihm oder ihr widerfährt. Sie ist Mitfreude an fremdem Glück, ohne etwas davon für sich zu beanspruchen. Sie verdoppelt so Freude statt sie neidisch zu beäugen. Mudita ist damit auch die Haltung gleichbleibender Heiterkeit, die trotz aller Härten des Daseins stets auch dessen vorhandenen positiven und angenehmen Seiten würdigt und es damit erhöht und verschönt.

Gleichmut zu besitzen, "gleichen Mut" also, das heißt ein unverändert bleibendes Gemüt in allen Lebenslagen zu bewahren. Wer sich durch schlimme Ereignisse nicht erschüttern lässt und in Notzeiten nicht in Depression verfällt, verfügt über diese innere Kraft von Upekkha. Er lässt sich nicht aus der Bahn bringen oder in Verwirrung stürzen, sondern bewahrt einen kühlen Kopf und innere Festigkeit. Dabei ist Gleichmut etwas ganz anderes als Gleichgültigkeit, die aus egoistischen Gründen desinteressiert ist und sich nicht um das Notwendige kümmert. Gleichmut lässt Güte, Mitempfinden und Mitfreude nicht hinter sich, um sich weltabgewandt ganz den eigenen Belangen zu widmen. Im Gegenteil gibt er diesen erst ihre notwendige Grundlage. Gleichgültigkeit will nichts vom Wohl und Wehe des anderen wissen, Gleichmut sehr wohl, nimmt es aber andererseits gerade nicht so tragisch, wenn die eigenen Anliegen durchkreuzt werden oder Schicksalsschläge zu verkraften sind.

Viele Menschen besitzen diese vier eben beschriebenen Eigenschaften. Ja, sie machen gerade das eigentlich Menschliche aus. Aber wie stark sind sie ausgeprägt? Wie belastbar sind sie? Können wir uns lediglich bei besonderen Anlässen zu einem freundlichen Wort oder zu einer großherzigen Tat durchringen? Oder sind Güte und Mitempfinden beständige und markante Wesenszüge von uns? Natürlich freuen wir uns, wenn eine uns nahestehende Person Glück erfährt, und selbstverständlich bleiben wir gelassen, wenn alles nach Wunsch verläuft. Aber was geschieht, wenn alles drunter und drüber geht oder wir sogar ernsthaft in Gefahr geraten? Einem Freundlichen begegnen wir mühelos ebenfalls freundlich, wie aber einem, der uns gegen den Strich geht? In diesen Fällen zeigt sich schnell, wo unsere Grenzen liegen.

Güte, Erbarmen, Freude und Gelassenheit als "Stätten göttlichen Verweilens" - wie sie von Buddhisten genannt werden - sind also noch etwas anderes. Diese Bezeichnung verdienen sie nur, wenn sie eine besondere Qualität haben. Wenn sie nicht nur gelegentliche Gemütsanwandlungen bleiben, sondern deutliche und unverlierbare Charaktereigenschaften geworden sind; wenn sie alle Fasern von uns durchdringen.

Dann lassen sie uns unsere Mitmenschen mit ganz anderen Augen sehen. Wir hören auf, unser Gegenüber nach subjektiven und damit völlig ungeeigneten Kriterien einzuschätzen. "Er ist mir sympathisch oder unsympathisch", mochten wir bisher gedacht haben.

"Sie ist mir hilfreich, jene nicht." "Diesen mag ich, jenen kann ich nicht ausstehen." So oder so ähnlich lauteten vielleicht unsere spontanen Urteile, die alle eines gemeinsam haben. Sie sehen den Nächsten aus der Perspektive des persönlichen Vorteils oder Nachteils. Sie messen und bemessen die Personen um uns herum nach ihrem vermeintlichen Wert oder Unwert für uns.

Güte dagegen und ihre drei Bundesgenossen kennen eine solche trennende und spaltende Sicht nicht; sie betonen das Verbindende und Gemeinsame. "Da ist jemand, der wie ich nach Glück strebt und Unannehmlichkeiten möglichst vermeidet." "Da ist jemand in Not, der sich wie ich freut, wenn er Hilfe bekommt." "Da ist jemand zufrieden, wie ich es sein würde, hätte sich einer meiner Wünsche erfüllt."

Aber was tun, wenn wir merken, dass uns diese "göttliche" Art des Empfindens fehlt und wir im Umgang eben nur menschlich, ja vielleicht nur allzu menschlich reagieren?

Nun, unsere persönlichen Eigenschaften, so der Buddha, sind nicht wie in Stein gemeißelt und unwandelbar. Wir können unseren Charakter formen und veredeln, auch wenn wir nicht mehr zwanzig sind. Güte und Mitempfinden kann man lernen, sich in Mitfreude und Gleichmut einfinden und einüben. Wo wir sie vermissen, lassen sie sich finden, wo sie schon da sind, lassen sie sich mehren und stärken.

Zwei Wege bieten sich dafür an: die alltägliche zwischenmenschliche Begegnung und die Meditation.

Wann immer wir mit jemandem zu tun haben, besteht die Gelegenheit zur Übung, auch wenn es nur in kleinsten Schritten vorangeht. Sagen wir jemandem "Guten Tag", kann es künftig mehr als eine bloße Floskel sein. Wir können diese Worte mit einem auch tatsächlich so gemeinten Wunsch verbinden. Ein "Wie geht es dir?" muss ebenfalls nicht bloße Konvention bleiben, sondern kann aufrichtiges Interesse ausdrücken.

Zu einem wohlwollenden Denken und einer freundlichen Redeweise gehören ebensolche Handlungen. Das meint nicht sofort altruistische Spitzenleistungen, wenn überhaupt, sondern die tausend Kleinigkeiten, in denen sich eine gönnende und wohlwollende Haltung zeigt. Eine helfende Hand, Rücksicht im Verkehr, ein kleines Geschenk ohne besonderen Anlass - die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.

Buddhisten kennen außerdem eine besondere Form der Meditation, die sie in ihren Alltagsbemühungen unterstützt. Dabei richtet man seine wohlwollenden Gedanken der Reihe nach auf sich und alle seine Mitwesen. Bei sich beginnend, dann bei einem geliebten Menschen, etwa einem Familienmitglied, umhüllt und durchdringt man jeden, der einem in den Sinn kommt mit uneingeschränkter Freundlichkeit. Das sind neben den uns besonders nahestehenden Personen Menschen, denen wir neutral gegenüberstehen; und selbst die, bei denen wir gewöhnlich Ärger und Ablehnung verspüren sind jetzt nicht ausgenommen. In diesem Moment des Übens fallen alle Unterschiede und alles Trennende weg, unser Wohlwollen ist universell geworden.

Höhepunkt und Abschluss dieser Meditation ist das schon erwähnte "brahmische oder göttliche Verweilen" in seiner eigentlichen Bedeutung. Der Meditierende erfüllt jetzt in seiner Vorstellung die ganze Welt mit Strahlen von Liebe, von Erbarmen, Glück und Unerschütterlichkeit. Sein "Ich" ist so groß und weit geworden, dass es sich mit allem als eins empfindet.

Wer aber in einer solchen Gemütsverfassung ganz und gar zu Hause ist, der lebt schon auf der Erde wie im Himmel, er lebt schon als Mensch wie ein göttliches Wesen.

*

Quelle:
Buddhistische Monatsblätter Nr. 2/2013, Mai - August 2013, Seite 21-25
Vierteljahreszeitschrift der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg e.V.
Herausgeberin: Buddhistische Gesellschaft Hamburg e.V.
Beisserstr. 23, 22337 Hamburg
Tel.: 040 / 6313696, Fax: 040 / 51902323
E-Mail: bm@bghh.de, bghwiebke@gmx.de
Internet: www.bghh.de
 
Die Buddhistischen Monatsblätter erscheinen
vierteljährlich.
Einzelpreis: 5,-- Euro
Abonnementspreis: 20,-- Euro jährlich


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juni 2013