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BERICHT/252: Jedes Kind ist exzellent (Junge.Kirche)


Junge.Kirche 1/2008
Unterwegs für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung
Focus dieses Heftes: Kind uns gegeben

Jedes Kind ist exzellent
Eine christliche Gemeinde macht sich auf den Weg, ihren Kindergarten neu zu erfinden

Von Nina Kölsch-Bunzen, Dieter Kaufmann, Susanne Schick


In Esslingen bei Stuttgart wird gerade ein neues Gebäude geplant. Entstehen soll ein evangelisches Kinder-, Familien- und Gemeindezentrum, in dem eine besondere Form der elementarpädagogischen Bildungsarbeit nach dem Early-Excellence-Ansatz angeboten wird. In diesem Artikel wird zunächst von Seiten der wissenschaftlichen Begleiterin des Vorhabens, Nina Kölsch-Bunzen, dieser pädagogische Ansatz kurz erläutert. In einem zweiten Teil äußert sich Dekan Dieter Kaufmann, der sich in seiner Landeskirche für den Ausbau von Early Excellence Centres stark macht, dazu, warum EEC und kirchliche Kita-Arbeit besonders gut zusammen passen können. Im dritten Abschnitt schließlich wird aus der Sicht der zuständigen Fachberaterin Susanne Schock geschildert, wie die ersten konkreten Umsetzungsschritte aussehen können.


Early Excellence Centre - was ist das?

Kearnu patscht vergnügt mit beiden Händen auf die Wasseroberfläche seines Spielbeckens. Die Wassertropfen stieben in alle Himmelsrichtungen. Ein bisschen wird auch Kearnus Gesicht nass. Kearnu strahlt. Wenig später bewegt Kearnu eine Rassel rhythmisch auf und ab, fasziniert lauscht er auf das Geräusch ... auf die Stille ... und erneut auf das Geräusch, das auf seine Schüttelbewegung hin ertönt. Kearnu war neun Monate alt, als mit ihm und anderen Kindern im Vorschulalter zusammen ein Lehrfilm gedreht wurde im Early Excellence Centre in Corby, einer sehr armen ehemaligen Industriestadt in England. Kearnu zeigt uns, dass er gerade im Begriff ist, eine wichtige Bildungserfahrung zu machen. Er erfährt durch das gezielte Auf- und Abbewegen, dass die Welt gewisse Gesetzmäßigkeiten aufweist, die sie für ihn von Tag zu Tag ein wenig mehr überschaubar und beeinflussbar erscheinen lassen. Geschulte Fachkräfte der Elementarpädagogik erkennen in Kearnus Handlungsschema des Auf und Ab zahlreiche Ansätze, an sein aktuelles Bildungsinteresse anzuknüpfen. So kann er ermutigt werden, mit seinen Händen unterschiedliche Materialien abzuklopfen, er kann die Erfahrung der Auf- und Abbewegung ganzkörperlich erfahren auf einem Trampolin. Nachdem man seinen Eltern die Filmsequenzen über sein Lerninteresse gezeigt hat, fällt ihnen ein, dass sie ihrem Sohn einmal die Bongos, die der Vater auf dem Dachspeicher stehen hat, anbieten könnten, eine Idee, die Kearnu im Film begeistert aufgreift.

Eltern, die ihre Kinder den Early Excellence Centres für Kinder von null Jahren bis zum Schulalter anvertrauen, schätzen die Einrichtung, weil sie eine intensive Bildungsarbeit mit ihren Kindern leistet. Darüber hinaus jedoch wird den Eltern gerade in Multiproblemwohngebieten diese Bildungsarbeit verständlich vermittelt. Vielleicht erstmals in ihrem Leben können auch eher bildungsferne Eltern die Erfahrung machen, dass Bildung Spaß machen kann. Sie sehen gemeinsam mit den Elementarpädagog/innen die Videos an, gemeinsam, auf Augenhöhe, lernen die Fachkräfte und die Eltern die Lernschritte der Kinder immer sensibler und genauer wahrzunehmen und mit entsprechenden Bildungsangeboten zu bereichern.

über diese Bildungsarbeit mit Kindern und Eltern hinaus öffnen sich Early Excellence Centres auch für den Sozialraum, indem sie sich zu integrierten Servicezentren für Familien wandeln. In diesen Zentren wird Erziehungsberatung angeboten, Gesundheitsberatung, Sozialberatung, Frühförderung und auch Anregung an Eltern für die eigene Weiterbildung. Hier werden für Familien die Zugangsschwellen möglichst niedrig gelegt. Die Wege sind kurz und die vertrauten Elementarpädagog/innen können schnell vermitteln und begleiten. Zur sozialräumlichen Ausrichtung der Arbeit gehört es, den Eltern Gelegenheit zu geben, sich untereinander gut kennen zu lernen. Gemeinsame Freizeitaktivitäten der Familien werden unterstützt, Väter werden bewusst mit einbezogen.

Folgende Leitgedanken prägen diese besondere pädagogische Arbeit:

Jedes Kind - mit oder ohne Behinderung, mit oder ohne Migrationserfahrung, aus bildungsinteressierten oder bildungsfernen Familien - ist exzellent.

Eltern und Fachkräfte der Elementarpädagogik begegnen einander in der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft auf Augenhöhe.

Elementarpädagogische Bildungsinstitutionen öffnen sich für das Gemeinwesen.

Der Early-Excellence-Ansatz ist explizit auf Partizipation hin angelegt, weil Mitarbeiter/innen, Eltern, Angehörige, Kinder erleben, dass sie Einfluss nehmen können auf ihre Lebensverhältnisse.

Der EEC-Ansatz geht davon aus, dass Vielfalt Reichtum bedeutet. Es wird positiv vom Faktum der Heterogenität ausgegangen. Es gilt, interkulturelle und interreligiöse Kompetenz zu fördern.

Auch in Deutschland beginnt man mittlerweile, diesen Bildungsansatz, der die allgemeine Fachentwicklung in der Elementarpädagogik auf besonders ertragreiche Weise zusammenführt, einzuführen. Mittlerweile existiert bereits ein EEC in Berlin. In Baden-Württemberg machen sich Kinderzentren in Stuttgart und in Esslingen auf den Weg, sich in EECs umzuwandeln. Hier entdecken gerade Caritas und Diakonie die starken Verbindungslinien zwischen dem gemeinwesenorientierten Ansatz und einem gemeindeorientierten Verständnis von elementarpädagogischer Bildungsarbeit.


EEC als Ort gelebten Glaubens und interreligiöser Kompetenz

Viele Kirchengemeinden sind Träger von Tageseinrichtungen für Kinder. Die lange Tradition, dass evangelische Kirchengemeinden Träger von Tageseinrichtungen für Kinder sind, hat zum einen mit ihrem Verständnis als Gemeinde Jesu zu tun. Zugleich aber auch im gemeindebezogenen Auftrag, dass in der religionspädagogischen Arbeit gerade im Kindergarten eine Gemeinde einen wesentlichen Teil ihrer Existenz sieht. Damit ist die Kindergartenarbeit zur Gemeinde als Ganzes gehörig. Und zugleich auch ein Element der helfenden Begleitung von Kindern und ihren Familien.

Durch die sich verändernden Lebenskontexte von Kindern und Familien wird dieser Teil der Gemeindearbeit ständig konzeptionell weiterentwickelt. Je nach Gemeindesituation sind sich weiter ausdifferenzierende Ansätze notwendig, die Antworten geben auf die Frage, wie Kindern und Familien Formen begegnen, in denen sie Glauben für ihr eigenes Leben entdecken können, Antworten auf Fragen nach der angemessenen Erziehung, einer positiven Gestaltung des Familienlebens sowie den sozialen Situationen. Gerade auch die besonders auf Unterstützung angewiesenen Familien sollen sich wahrgenommen und begleitet wissen. In diesen vielschichtigen Anforderungen sollen Angebote eröffnet werden, die auf dem Wege des Heranwachsens begleiten und Familien stützen. Die Gemeinde versteht sich darin als Leib mit unterschiedlichen Gliedern, die je in ihrer Unterschiedlichkeit, auch in ihren unterschiedlichen Bedarfen, ernst genommen werden.

Konkret heißt dies für uns: Wir machen uns auf einen Weg, einen Teil der Gemeindearbeit mit dem neuen Konzept eines Kinder-, Familien- und Gemeindezentrums zu entwickeln. Dabei versteht die Kirchengemeinde sich als Ort, an dem Raum ist für Kinder und ihre Familien. Ein Raum, in dem die unterschiedlichsten Seiten wahrgenommen werden. Der geistliche Auftrag verbindet sich mit dem diakonischen. Die Angebote in den Gruppen für die Kinder werden ergänzt durch Angebote der Begleitung und Beratung. Die Gemeinde lädt ein zum Einander-Kennenlernen, zum Feiern. Im EEC ist der Ort, interreligiöse Kompetenz zu entwickeln.

Dass sich eine Kirchengemeinde dem EEC-Ansatz öffnet, ist die folgerichtige Konsequenz aus ihrem eigenen geistlichen Anspruch und der Lebenswirklichkeit von Kindern und Familien. Dass sich die Kirchengemeinde dabei öffnet für Kinder, Familien und Alleinerziehende in den unterschiedlichsten Lebenskontexten und Lebenskulturen, entspricht ihrer Offenheit zur Welt. Sie stellt sich damit dem Auftrag, Verantwortung zu übernehmen für das Leben, für die Begleitung des Lebens von Kindern.


EEC als Work in Progress

"Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt." Dies empfinde ich als Fachberaterin für evangelische Kindertagesstätten im Kirchenbezirk, wenn ich an unser neues Projekt, an unseren Aufbruch zu ganz neuen Ufern denke. Doch wir haben uns bereits auf die Reise begeben, haben die Koffer gepackt und sind losmarschiert in Richtung "Evangelisches Kinder-, Familien- und Gemeindezentrum in Oberesslingen, Pfostenackerweg". Für uns als kirchlicher Träger von Kindertagesstätten beginnt damit wirklich völliges Neuland. Natürlich weiß ich als Fachfrau Bescheid über EEC in England, über das deutsche Pendant dazu in Berlin - aber ich kenne dies eben nur aus der Literatur, aus Projektschilderungen und Filmen. Und doch scheint mir dieser Ansatz von EEC genau das zu sein, was wir in diesem Stadtteil, in dieser Kindertagesstätte und in dieser Kirchengemeinde brauchen. Begonnen hat alles damit, dass sowohl die Kirche als auch die Kindertagesstätte mit zwei Gruppen sehr alt und renovierungsbedürftig waren. Ein pfiffiger Architekt hat vorgeschlagen, Kirche und Tagesstätte abzureißen und auf dem Gelände ein neues Gebäude zu erstellen, das beide Nutzungen ermöglicht. Parallel zu diesen Planungsprozessen zeigte sich innerhalb der Kindertagesstätte eine immer größer und drängender werdende Zahl von Problemen. Es wurde verstärkt deutlich, dass das Einzugsgebiet in einem Multiproblemstadtteil liegt. In Briefen an Kirche und Stadt hat das sehr engagierte und kompetente Erzieherinnenteam aufgezeigt, dass die bisherigen Möglichkeiten der Betreuung, Bildung und Erziehung zu eng umrissen sind. Es sind nicht nur die Kinder, die mehr Unterstützung und Förderung benötigen - sondern es sind dort vor allem die Familien, die Hilfen, Orientierung und Vermittlung zwischen unterschiedlichen Welten benötigen. Eltern sind in diesem Wohnumfeld oftmals an ihren Grenzen und können die Erziehungsverantwortung ihren Kindern gegenüber kaum wahrnehmen. Enge Wohnungen erschweren das Leben für alle Beteiligten. Bereits seit langer Zeit kooperiert die Kindertagesstätte sehr aktiv mit zahlreichen Hilfeeinrichtungen, wie dem sozialen Dienst, der Förderschule, der Sprachheilschule, einigen Kinderärzten, der interdisziplinären Frühförderstelle, der psychologischen Beratungsstelle und so fort.

Bei allen Gesprächen auf den verschiedensten Ebenen wurde deutlich, dass die Kinder und Familien direkt in der Kindertagesstätte Hilfsangebote und Unterstützung brauchen. Und hier wurde dann von uns als Kirche das Thema EEC ins Spiel gebracht als eine sinnvolle Möglichkeit, Kinder-, Familien- und Gemeindeleben unter einem Dach zu integrieren. Damit war die Idee, das "Kinder-, Familien- und Gemeindezentrum Pfostenackerweg", geboren. Mit Hilfe eines Projektes, das derzeit auf den Weg gebracht wird, wollen wir ganz praxisnah und mit kleinen Schritten ein Esslinger EEC verwirklichen! Das geplante Zentrum soll Wünsche und Bedürfnisse von Familien im Stadtteil aufgreifen, niederschwellige Beratungs- und Hilfsangebote anbieten sowie evangelische Gemeindearbeit vor Ort lebendig und zukunftsweisend gestalten. Unter Federführung des Familienzentrums soll die pädagogische Arbeit in der Kindertagesstätte qualitätsvoll weiterentwickelt werden. Indem Eltern frühzeitig und ohne Druck in ihrem Lebensumfeld Kontakt zum Familienzentrum aufnehmen können, erhalten sie Unterstützung bei der Erziehung ihrer Kinder, um Verhaltensauffälligkeit, Vernachlässigungen und Entwicklungsverzögerungen vorzubeugen. Unsere Vision für dieses Projekt ist, dass die Kirchengemeinde als Trägerin des Familienzentrums Gemeinschaft fördert und eine lebendige Partnerschaft entwickelt, auch mit Familien aus anderen Kulturen und Religionen. Das Familienzentrum soll ein fester, markanter Bestandteil dieses Stadtteils werden, von der Bevölkerung positiv und zustimmend aufgenommen. Es ist ein Ort, wo die Vermittlung zwischen unterschiedlichen Welten gelingt und wo Diakonie und Christsein im interreligiösen Dialog spürbar gelebt wird ohne Ausgrenzung!


Nina Kölsch-Bunzen, Professorin an der Hochschule Esslingen
Dieter Kaufmann, Dekan im Kirchenbezirk des Landkreises Esslingen
Susanne Schick, Pädagogische Fachberaterin für evangelische Kindertagesstätten im Kirchenbezirk Esslingen


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Inhaltsverzeichnis - Junge.Kirche 1/2008

Focus: Kind uns gegeben
- Kinder und Kindheit in der Bibel / Isa Breitmaier
- Das religiöse Denkens und Empfinden von Kindern / Anna-Katharina Szagun
- Wiegenlied für Stefan / Peter Härtling/Gunther Schendel
- Was ist "Kindertheologie"? / Erhard Reschke-Rank
- Wir haben keine / Christian Reiser
- Kinder dürfen Kinder sein / Brigitte Messerschmidt und Erhard Reschke-Rank
- Jedes Kind ist exzellent / Nina Kölsch-Bunzen, Dieter Kaufmann, Susanne Schick
- Wenn Geburts- und Todestag zusammenfallen / Kerstin Schiffner
- Ich bin ein Kind von Himmel und Erde / Dirk Schliephake
- Genau in dieser Stunde / Nancy Cardoso Pereira
- Kinderrechte ins Grundgesetz / Doris Riffelmann
- Kirche mit (hör-)behinderten Kindern / Monika Kindsgrab
- Kahlkopf, Opa, Hure, Fotze / Peter Andersen
- Starke Mädchen - starke Jungs / Silvia Wagner
- Glaube und Kunst / Traumwelten
- Lob der Disziplin? / Folkert Rickers, Eva Butting-Weiland, Barbara Klingbeil

Forum
- Mädchen, Frauen und HIV/AIDS in Afrika / Verena Grüter
- Brauchen Freunde Gegner? / Martin Stöhr
- Das Judentum und die tridentinische Messe / Micha Brumlik
- Das theologische Problem der Judenmission / Robert Brandau
- Straßenexerzitien in Berlin-Kreuzberg / Jens Haasen
- Lothar-Kreyssig-Friedenspreis für Joachim Garstecki / Paul Oestreicher
- Lieber mitleiden als Leidenschaft / Erik Borgman

Sozialgeschichtliche Perspektive
- Jesaja 53 aus einer jüdischen Bibelauslegung / Walter Rothschild

Predigt
- Warum bin ich auf der Welt? / Kerstin Bonk

Geh hin und lerne!
- Vielleicht kann man sie noch retten / Gernot Jonas und Paul Petzel

Buchseiten, Veranstaltungen
Impressum und Vorschau


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Quelle:
Junge Kirche, 69. Jahrgang, Nr. 1/2008, Seite 20-23
Herausgeber: Erev-Rav, Verein für biblische und politische Bildung
Redaktion: Junge Kirche, Luisenstraße 54, 29525 Uelzen
Tel. & Fax 05 81/77 666
E-Mail: verlag@jungekirche.de
Internet: www.jungekirche.de

Die Junge Kirche erscheint viermal im Jahr.
Der Jahrespreis beträgt 26 Euro inkl. Versandkosten.
Einzelheft 6,50 Euro inkl. Versandkosten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2008