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BERICHT/275: Amerikas Katholiken und der neue Präsident (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 1/2009

Das Obama-Syndrom
Amerikas Katholiken und der neue Präsident

Von Ferdinand Oertel


In den USA stecken Kirche und Katholiken nach der Wahl Barack Obamas zum neuen Präsidenten in einem Dilemma: Einerseits begrüßen sie den ersten Afro-Amerikaner im höchsten Staatsamt als Zeichen für die endgültige Anerkennung der Gleichberechtigung, andererseits befürchten sie unter Obama schwere Rückschritte in Gundrechtsfragen wie Abtreibung, Stammzellenforschung und Homo-Ehen.


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Die Herbst-Vollversammlung der amerikanischen Bischofskonferenz fällt traditionell in die zweite Novemberwoche, und das bedeutete 2008, sie begann genau sechs Tage nach dem traditionellen Wahltag des 4. November. Und da auch die Mehrheit der katholischen Wähler diesmal nicht nur mit dem demokratischen Kandidaten Barack Obama einen erklärten Pro Choice-Präsidenten gewählt hatte, sondern den Demokraten auch im Senat zur Mehrheit und im Repräsentantenhaus zu einer noch größeren Mehrheit als bisher verhalfen, war die Spannung groß, wie die Bischöfe reagieren würden.

Schon aus den ersten Glückwünschen katholischer Repräsentanten an Obama war erkennbar, dass es sich um eine gemischte Reaktion handeln würde. Der Erzbischof von Chicago, dem Heimatort Obamas, Kardinal Francis E. George, begrüßte als Vorsitzender der Bischofskonferenz den "President-elect" zu seiner "historischen Wahl zum ersten Afro-Amerikaner im Weißen Haus". Mit der Zusage des Gebetes um "Stärke und Weisheit" für die kommenden Herausforderungen erklärte George ausdrücklich die Bereitschaft der Bischöfe zur Mitarbeit bei "der Verteidigung und dem Schutz des Lebens und der Würde jeder menschlichen Person". Damit deutete er an, was für die Bischöfe das entscheidende Kriterium ist: Die Frage der Abtreibung.

Einzelne Bischöfe gingen indes sofort öffentlich auf Distanz zu Obama, weil er sowohl in Fragen der Abtreibung als auch der Homo-Ehen und der embryonalen Stammzellenforschung Positionen vertritt, die gegen die Lehre der Kirche verstoßen. Am unverblümtesten brachte der Nationaldirektor der Bewegung "Priests for Life", Frank Pavone, seine Enttäuschung über die Wahl eines "Abortion President" zum Ausdruck. Einen Tag nach Obamas Wahl nannte Pavone diese einen "schweren Fehler": Wie könne jemand, der sage, er wisse nicht, wann menschliches Leben beginne, von diesem "Standpunkt der Unkenntnis" aus eine Regierung führen? Pavone sagt eine Vertiefung der Spaltung des amerikanischen Volkes durch die demokratische Regierung voraus, bekräftigt gleichzeitig aber, dass dies nur die Bemühungen aller Pro Life-Anhänger um den Schutz der Ungeborenen verstärken werde.

Während die Bischöfe vor früheren Wahlen ihren einschlägigen Hirtenbrief unter der allgemein gehaltenen Überschrift "Faithful Citizenship" veröffentlicht hatten, setzten sie mit ihrer Erklärung zur Wahl 2008 einen neuen Akzent, indem sie den Titel differenzierten zu "Forming Consciences for Faithful Citizenship" (Gewissensbildung für gläubige Bürger). Unter Hinweis darauf, dass keine Partei und kein Kandidat alle Positionen der Kirche erfülle, sei eine "sorgfältige Gewissensprüfung" darüber notwendig, welche politischen Programme insbesondere der kirchlichen Soziallehre am ehesten entsprechen.

Die Bischöfe betonten zwar, dass dem "Schutz des menschlichen Lebens von Anfang an" Vorrang zukomme, hielten aber erstmals die Option offen, dass Katholiken bei "grave moral reasons" (schwerwiegenden moralischen Gründen) auch einen Pro Choice-Kandidaten wählen könnten, wenn er in seinen anderen Positionen die Grundprinzipien des "Common Good", des Gemeinwohls entsprechend der kirchlichen Soziallehre verfolge. Die Bischöfe hatten das Spektrum von Pro Life nicht auf Anti-Abortion eingegrenzt, sondern auf den Gesamtschutz des menschlichen Lebens ausgeweitet und Embryonenforschung, Klonen und aktive Sterbehilfe ebenso als moralisch verwerflich bezeichnet. Doch sie hatten die "schwerwiegenden moralischen Gründe" nicht spezifiziert.


Abtreibung als oberstes Wahlkriterium

Das rächte sich, als wenige Wochen vor den Wahlen ausgerechnet der von Obama zu seinem Vize-Präsidentschaftskandidaten gewählte katholische Politiker Joe Biden und seine demokratische Parteikollegin, die katholische Sprecherin des Abgeordnetenhauses Nancy Pelosi, das Thema Abtreibung wieder hochspielten. Zuerst hatte Pelosi in der NBC-Fernseh-Talkshow "Meet the Press" gesagt, die Kirche habe jahrhundertelang Abtreibungen im Frühstadium geduldet, da der Zeitpunkt des Lebensbeginns unbekannt war. Zwei Wochen später erklärte Biden in derselben Talkshow, er stimme zwar mit der Lehre der Kirche überein, dass menschliches Leben mit der Zeugung beginne, könne aber seine persönliche Auffassung einer pluralen Gesellschaft nicht vorschreiben, die mehrheitlich für das Recht der Frau auf Selbstbestimmung sei.

Die US-Bischofskonferenz erklärte dazu in zwei offiziellen Stellungnahmen nicht nur, dass die Kirche Abtreibungen von Anfang an moralisch verurteilt habe, sondern bezeichnete es nun als "Wahl-Priorität Nummer 1", dass Katholiken ihre Stimme keinem katholischen Politiker geben dürfen, der sich explizit für das Recht auf Abtreibung einsetze. Kritiker warfen den Bischöfen vor, sie nähmen die tatsächliche Haltung der katholischen Bevölkerung nicht wahr.

Schon die regelmäßigen Umfragen des Center for Applied Research in the Apostolate (CARA) an der katholischen Georgetown Universität in Washington hatten ergeben, dass die Mehrzahl aller Katholiken sich in Fragen des Sexualverhaltens nicht mehr nach der Lehre der Kirche richten, sondern nach eigenem Gewissen entscheiden. Bestärkt wurde diese Erkenntnis durch eine Umfrage des Forschungsinstituts NPR über "Faith in Public Life" unmittelbar vor der Wahl. Danach bezeichneten nicht nur 61 Prozent der jungen Katholiken zwischen 18 und 34 Jahren, sondern auch 52 Prozent der älteren über 50-Jährigen die Abtreibungsfrage als "keine entscheidende Frage"; noch deutlicher ist die Abweichung der Katholiken von der Position der Bischöfe zur Ehe von Homosexuellen: Nur 22 Prozent der Jugendlichen und 27 Prozent der Älteren sehen sie als "wichtig" an.


Umstrittene Kommunionverweigerung

Im Hinblick auf das Wahlergebnis ist ein drittes Ergebnis dieser Umfrage äußerst aussagekräftig: Für eine stärkere Rolle der Regierung in der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens sprachen sich nur 41 Prozent der Älteren, aber 67 Prozent der Jugendlichen aus. Das deutete auf eine sich wandelnde Parteienpräferenz hin, denn die Republikaner stehen seit jeher für "so wenig Staat wie möglich", und die Demokraten für "mehr Staat". Und dies dürfte nach dem unerwarteten Zusammenbruch des Immobilienmarktes und des Bankenwesens entscheidend für die Wahl geworden sein.

Aus dem Vorwahlkampf bleibt noch in Erinnerung zu rufen, dass durch die hochgespielte Abtreibungsfrage erneut die bereits bei den Kongresswahlen 2006 umstrittene Frage der Kommunionverweigerung für katholische Politiker, die nicht mit der Lehre der Kirche vereinbare Positionen vertreten, zu polarisierenden öffentlichen Debatten geführt hatte. Sie spielte deshalb eine Rolle, weil es 2008 nicht nur um die Wahl des Präsidenten ging, sondern auch um die der Mitglieder des Abgeordnetenhauses und eines Drittels der Senatoren.

Während die Bischöfe sich zur Abtreibung, embryonalen Stammzellenforschung, Homo-Ehe und aktiver Sterbehilfe übereinstimmend äußerten, vertraten sie in der Kommunionfrage unterschiedliche Positionen und verwirrten dadurch die Gläubigen noch mehr. Nur wenige hatten angeordnet, dass in ihrem Bistum liberalen Kandidaten die Kommunion verweigert werden müsse, andere luden die Politiker zur "seelsorglichen Belehrung" ein, wieder andere wiesen nur generell daraufhin, dass jeder Politiker wie alle Gläubigen sich in seinem Gewissen prüfen müsse, ob er für den Kommunionempfang würdig sei. Deshalb kündigte die Bischofskonferenz an, sich auf ihrer Vollversammlung nach der Wahl erneut mit den "praktischen und pastoralen Implikationen der politischen Unterstützung der Abtreibung" zu befassen.

Die Bischöfe tagten vom 11. bis 13. November im Hotel "Marriott on the Waterfront" in Baltimore, von dessen Zimmern aus sie einen Blick auf die Chesapeak Bay hatten, in der 1634 der englische katholische Lord Baltimore landete und die erste Kolonie gründete, in der Katholiken geduldet waren. Und zwei Jahre nach der Gründung der Vereinigten Staaten wurde 1789 die nach ihm benannte Stadt zum Sitz des ersten Bischofs in der Neuen Welt. Als die Bischöfe am Vorabend ihrer Versammlung eintrafen, mussten sie an Protestgruppen mehrerer Pro Life-Organisation vorbei, die von ihnen eine deutliche Stellungnahme gegen Obamas Abtreibungspolitik forderten.

Dennoch bezeichnete Kardinal George in seiner Eröffnungsansprache die Tatsache, dass Obama als Afro-Amerikaner seine Herkunft nicht zu verleugnen brauchte, als "Grund zur Freude" und großen Fortschritt, weil der Katholik Kennedy vor 40 Jahren sich noch wegen seines katholischen Glaubens habe rechtfertigen müssen. Doch während Rassengleichheit endlich erreicht sei, so leitete der Präsident der Bischofskonferenz zu dem Punkt des Ärgernisses über, könnten Katholiken sich im öffentlichen Leben immer noch nicht als "volle Partner in der amerikanischen Lebenspraxis betrachten, wenn sie nicht bereit sind, einige fundamentale katholische Lehren über gerechte Moral und politische Ordnung über Bord zu werfen". Und dann bekräftigte George, dass das "Gemeinwohl nie adäquat in einer Gesellschaft erreicht werden kann, die Abtreibung als legal anerkennt".

Hinter verschlossenen Türen diskutierten die Bischöfe mehrere Stunden lang über Konsequenzen aus dem unerwarteten Wahlergebnis. Dabei sollen sie, wie durchsickerte, zunächst völlig "schockiert und entsetzt" darüber gewesen sein, dass die Mehrheit der Katholiken ihren Erklärungen über den absoluten Vorrang des Lebensschutzes nicht gefolgt war (die unausgesprochen ein Votum für die Republikaner nahelegten). Die Pro Life-Kommission hatte für ein Statement der Bischöfe vier Punkte als wichtig skizziert: Der demokratischen Obama-Regierung grundsätzlich Mitarbeit in Fragen sozialer Gerechtigkeit, Einwanderer- und Gesundheitsreformen, Erziehung, Religionsfreiheit und Friedenspolitik anzubieten; sich gegen alle Maßnahmen zu wehren, die dem Schutz des menschlichen Lebens widersprechen; die hohe Stimmenzahl der Katholiken für Obama nicht als Zustimmung zur Abtreibungspolitik zu sehen, sondern als vordringliche Sorge um eine sichere persönliche Zukunft; den Katholiken zu danken, die sich im Sinne christlicher Ethik für das Gemeinwohl einsetzen.

In der Diskussion war die Feststellung unumstritten, dass die Stimmabgabe so vieler Katholiken für Obama keine Zustimmung zu seinen Positionen bezüglich Abtreibung, Homo-Ehe und embryonaler Stammzellenforschung sei, sondern aus der Krisensituation heraus Zustimmung zu seinen sozialpolitischen Zielen der Steuersenkung, Arbeitsbeschaffung, Gesundheitsfürsorge und zu seiner Friedens- und Umweltpolitik. Doch dann rückte das Thema Abtreibung in den Mittelpunkt. Laut forderten die Hardliner einen klaren und scharfen Widerspruch gegen Obamas Abtreibungspolitik.

Der Heimatbischof des designierten Vizepräsidenten Biden, Joseph F. Martino von Scranton (Pennsylvania), erklärte, er könne sich nicht vorstellen, dass Biden nach Scranton komme und behaupte, er habe dort seine katholischen Grundwerte vermittelt bekommen, während er in seiner politischen Haltung Werte im Widerspruch zur kirchlichen Lehre vertrete. Andere Bischöfe schlugen vor, den Schutz der Ungeborenen dezidiert als Thema zu benennen, über das die Bischöfe mit der Obama-Regierung Gespräche führen wollen. Abtreibung gehöre in den Gesamtkomplex Gemeinwohl, den Obama so in den Mittelpunkt gerückt habe.


Überdurchschnittlich viele Katholiken stimmten für Obama

Schließlich plädierten einige Bischöfe für einen ganz anderen Weg: weniger die Abwehr- und Abkehrhaltung zu einzelnen umstrittenen politischen Punkten in den Vordergrund zu stellen, als vielmehr mit "prophetischer Stimme" zu sprechen. Ihr Wortführer, Bischof Donald B. Trautmann von Erie (Pennsylvania) schlug vor, "in bester biblischer Tradition" eine "Prophetie der Brüderlichkeit für alle Stimmlosen, für die Gesellschaft, der wir dienen und die Nation, in der wir leben" zu verkünden.

Die Erklärung, die Kardinal George am Schluss der Vollversammlung im Namen der Konferenz abgab, bekundet generell die Bereitschaft zur Mitarbeit in allen Fragen des Gemeinwohls, geht im längsten Teil aber auf das "fundamentale Gut des Lebens" ein, dessen Beginn seit der Abtreibungs-Entscheidung des Obersten Gerichtes von 1973 ungeschützt sei. "Das war ein böses Gesetz", so die Erklärung wörtlich und geht dann aktuell auf den Gesetzentwurf "Freedom of Choice Act" (FOCA) ein, mit dem jede Art von Begrenzung der freien Entscheidung für die Abtreibung ausgeschlossen werden soll. Das von Demokraten eingebrachte Gesetz ist zwar bisher über den Status der Anhörung nicht hinausgekommen, aber Obama hat bereits angekündigt, dass er es unterschreiben werde, wenn der neue Kongress es beschließt (woran nicht gezweifelt werden kann, weil die Demokraten dann in beiden Häusern die Mehrheit haben).

Die Bischofserklärung warnt vor den "tödlichen Folgen" von FOCA: Dann fielen nicht nur alle bisherigen "moderaten Maßnahmen" zur Reduzierung von Abtreibungen wie Wartezeiten, Elternbenachrichtigung, Schwangerenhilfe fort, sondern auch die Gewissensfreiheit von Ärzten, Krankenschwestern und Gesundheitshelfern würde eingeschränkt und die Tötung ungeborenen Lebens mit Steuergeldern aller Bürger finanziert. Schließlich würde ein solches Gesetz gegen die Religionsfreiheit verstoßen. Eindeutiger konnte die Kernbotschaft der Bischöfe an die neue Regierung nicht formuliert werden.

Dagegen wurde der Entwurf in der Passage über katholische Politiker, die in der Abtreibungsfrage Pro Choice sind, zweimal gemildert. In der ersten Fassung hieß es, dass sie nicht mehr die Kommunion empfangen sollten. In der Debatte wurde daraus "der Wunsch, dass alle Katholiken im öffentlichen Leben das Gemeinwohl anstreben" und der Kommunionempfang in der Kirche "vollständig" ihrer Lehre entsprechen müsse. Im endgültigen Text wird all denjenigen in der Politik gedankt, die sich "für den Schutz des am stärksten verwundbaren Lebens" einsetzen und der Wunsch geäußert, mit allen zusammenzuarbeiten, "die das Gemeinwohl schützen". Über den Kommunionempfang wird nichts mehr gesagt. Deshalb kommt einer der bekanntesten katholischen Kommentatoren, John L. Allan Jr., in seinem wöchentlichen Blog des "National Catholic Reporter" zu dem Fazit: "Die Grundlinie (der Bischöfe) in Baltimore scheint daher in eine Richtung zu führen, die keine Position in der katholischen Debatte ganz zufrieden stellt: viel zu weitreichend für die 'Common Ground'-Anhänger und nicht eindeutig genug für die militantesten Pro Life-Anhänger."

Als ein Zeichen dafür, dass doch wohl die "moderate" Mehrheit der Bischöfe für Kooperation mit der neuen Regierung eintritt, wird die Wahl des neuen Vorsitzenden der Medienkommission gesehen, dem als Sprecher der Bischofskonferenz eine besondere Rolle zukommt. Mit 129 zu 97 Stimmen wurde Bischof Gabino Zavala von Los Angeles, ein Hispanic, dem als Hardliner geltenden Bischof Robert Finn von Kansas City vorgezogen. Zavala hatte betont, dass die US-Kirche keine "Ein-Thema-Kirche" sei, sondern Rassengleichheit, Völkermord, Einwanderung, Krieg und die Auswirkungen der Wirtschaftskrise ebenso wie die Abtreibung Beachtung finden müssten.

Die generelle Enttäuschung der Bischöfe über das Wahlverhalten der Katholiken wird verständlicher, wenn man die Wahlanalysen genauer betrachtet. Daraus geht nicht nur hervor, dass Obama insgesamt mehr katholische Stimmen erhalten als im Wählerdurchschnitt (54 gegenüber 52 Prozent), sondern dass er mit 67 Prozent eine überaus hohe Stimmenzahl der Hispanics auf sich vereinigen konnte, die mehr als ein Drittel aller Katholiken ausmachen. Und auch die Hoffnungen, die die Bischöfe sich auf die zusätzlichen Abstimmungen in einzelnen Bundesstaaten über Abtreibung, Stammzellenforschung, Homo-Ehen und aktive Sterbehilfe gemacht hatten, wurden enttäuscht.

Zeigten die Ergebnisse der Abstimmungen den Bischöfen, wie abweichend große Teile der Bevölkerung von der Lehre der Kirche denken und entscheiden, so schockten sie umso mehr erste politische Entscheidungen des neuen Präsidenten. Noch während sie in Baltimore tagten, hatte Obama nicht nur bekräftigt, dass er das Gesetz "Freedom of Choice Act" unterzeichnen werde, sondern auch 200 Präsidial-Erlasse Bushs sofort aufheben will. Und dazu zählen die Begrenzung finanzieller Bundesmittel für embryonale Stammzellenforschung und für Abtreibungs-Beratungen amerikanischer Organisationen in verschiedenen Ländern der Welt. Die letztere, mit Verteilung von Kondomen verbundene "Beratung" war von Bill Clinton mit staatlichen Mitteln gefördert und von George W. Bush bei seinem Amtsantritt aufgehoben worden.

Noch schlimmer traf es die Bischöfe, als Obama eine Woche nach ihrer Konferenz bekannt gab, er wolle den früheren Senator von Süd-Dakota, Tom Daschle, zum Gesundheitsminister berufen. Das Gesundheitsministerium ist zuständig für die Abtreibungspolitik, also auch den "Freedom of Choice Act". Daschle ist erklärter Katholik, doch eben einer jener Katholiken, die bereits seit Jahren politisch die Pro Choice-Linie vertreten. Er war lange Sprecher der Kongressminderheit und erregte 1997 scharfen Widerspruch der Bischöfe, als er sich für die Beibehaltung der Legalität von Spätabtreibungen einsetzte, wenn auch mit geringen Eingrenzungen. Eine der größten amerikanischen Pro Choice-Organisationen, NARAL, die Abtreibungs-Zweigstellen in 30 Bundesstaten hat und Obama von Anfang an unterstützte, zählt Daschle zu ihren prominentesten Anhängern.


Appelle zu neuer katholischer Gemeinsamkeit

Deshalb hatte sein Ortsbischof in Süd-Dakota, Robert Carlson, ihn 2003 bereits schriftlich aufgefordert, bei seiner Pro Choice-Propaganda öffentlich nicht weiterhin als "Katholik" aufzutreten. Die Bistumszeitung "Catholic New York" spiegelte in ihrem Link zu "Catholic online" am Tag der Benennung Daschles zum Gesundheitsminister sicherlich die Meinung des New Yorker Kardinals Edward Michael Egan wider: "Daschle - a Pro Life-Nightmare" (ein Alptraum für Pro Life). Und Kommentator Allen schrieb schon zuvor: Es bedürfe keines Orakels, um vorauszusagen, "dass die Bischöfe den Kriegshund loslassen werden", wenn die Obama-Regierung das FOCA-Gesetz erlasse. Ein noch größerer Alptraum zeichnet sich am Horizont ab: die Ernennung neuer Mitglieder des Obersten Verfassungsgerichtes. Schon in der ersten Amtsperiode Obamas dürften zwei der obersten Richter aus Altersgründen ausscheiden. Obama hat als Senator bereits gegen die Berufung der beiden zuletzt ernannten Katholiken gestimmt und im Wahlkampf angekündigt, er werde in jedem Fall "liberale" oberste Richter berufen. Dies dürfte das "Obama-Syndrom", das den Bischöfen von Kritikern schon im Wahlkampf attestiert wurde, noch mehr verstärken.

Unter der Überschrift "Können Katholiken wieder zueinander finden? Ja, wir müssen es", werden in einem Nachwahl-Kommentar der nationalen katholischen Wochenzeitung "Sunday Visitor" alle zuvor gegeneinander streitenden Seiten der Laien und Bischöfe dazu aufgerufen, Wege zu gemeinsamen gesellschaftspolitischen Aktionen unter der neuen Regierung zu finden. Dass "solche Wege zur Versöhnung möglich sind, aber ihre Zeit brauchen", betonte die Direktorin des Büros für Globale Fragen der Ordensgemeinschaft von Maryknoll in Washington, Marie Dennis. Angesichts der oft groben gegenseitigen Verunglimpfungen im Wahlkampf müssten "Katholiken zu einer offenen Diskussion miteinander finden und respektvoll aufeinander hören".

Bischof Nicholas DiMarzio von Brooklyn, der den Vorsitz des Komitees "Faithful Citizenship" führte, wurde noch deutlicher: Die Menschen "müssen aufhören, im anderen nur das Schlechteste zu sehen". Den Katholiken stehe eine "schwere Zeit der Versöhnung bevor, denn in Fragen des grundsätzlich Bösen wie der Abtreibung gebe es "keinen Weg für Kompromisse"; es gebe aber "Wege, wie man das Böse begrenzen kann, und diese sollten wir gehen".


Nicht das Handtuch werfen

Wege zur Kurskorrektur für die Pro Life-Bewegung hat der langjährige Laienberater und Direktor des "Sunday Visitor", Greg Erlandson, in einem längeren Beitrag für die amerikanische Kirchenpresse aufgewiesen. In fünf Punkten plädiert er für neue Strategien:

Man solle nicht das Handtuch werfen, weil es in über 30 Jahren nicht gelungen sei, das Abtreibungsurteil von 1973 rückgängig zu machen. Es seien wichtige Schritte der Einschränkung und der Hilfe getan worden. Ein Hauptproblem der Pro Life-Bewegungen bestehe darin, dass ein Teil ihrer Anhänger die schrittweisen Verbesserungen des Lebensschutzes der Ungeborenen nicht als Erfolg betrachten.

Außerdem dürfe Pro Life nicht alle Hoffnungen nur auf die republikanische Partei setzen, die weder alle ihre Versprechungen eingelöst habe noch in anderen Fragen als der Abtreibung nicht im Sinne der Kirche agiere (gemeint sind etwa Todesstrafe und Präventivkrieg). Man solle Vertrauen zu Pro Life-Politikern der Demokraten aufbauen.

Die Pro Life-Organisationen hätten in den vergangenen 30 Jahren Beachtenswertes geleistet, doch jetzt bedürfe es jüngerer Kräfte mit neuen Strategien und Allianzen. Zudem müssten die Bischöfe ihre Meinungsverschiedenheiten überwinden. Sie hätten zwar Pro Life tatkräftig mit spirituellen und finanziellen Mitteln unterstützt, aber zuletzt mehr Zeit für ihre Richtungsauseinandersetzungen aufgewandt als für den Lebensschutz selbst. Das hätte auch zur Verwirrung der Katholiken beigetragen.

Schließlich sei die Abtreibungsschlacht noch nicht verloren, aber es sei auch kein kurzfristiger Sieg in Sicht. Der Kampf für das Recht der Ungeborenen sei ein Mehrgenerationen-Problem wie der Kampf für die Abschaffung der Sklaverei und die Bürgerrechte. Schlüssel für den Sieg seien Erziehung und persönliches Zeugnis.

Konkrete neue Strategien und Allianzen gibt es bereits, wie die "Washington Post" nach der Vollversammlung der Bischofskonferenz berichtete. Im Hinblick darauf, dass politisch nicht nur kein Verbot der Abtreibung zu erreichen ist, sondern sogar alle bisher erreichten legalen Begrenzungen durch das FOCA-Gesetz aufgehoben werden können, richtet eine Allianz von Anti-Abtreibungsgruppen ihre Arbeit darauf aus, stattdessen gesetzliche Maßnahmen für Schwangere zu erreichen, die ihnen das Austragen ihres Kindes erleichtern.

In Verhandlungen mit Pro Choice-Mitgliedern des Kongresses wollen sie um Unterstützung von zwei Gesetzesinitiativen bitten, die bereits von demokratischen Abgeordneten formuliert wurden: den "Pregnant Women's Support Act" und den "Reducing the Need for Abortion and Supporting Parents Act", mit Gesetzen für spezielle Gesundheitsfürsorge, Studienstipendien für schwangere Collegemütter, Tagesbetreuungen, Mütterbildungsstätten und Mütterheimen. Sprecher der neuen Allianz, zu der neben protestantischen, evangelikalen, hispanischen und interkonfessionellen Pro Life-Gruppen auch liberale katholische Organisationen und Einzelpersönlichkeiten gehören, verweisen darauf, dass Obama trotz seiner radikalen Abtreibungspolitik Hilfsmaßnahmen für Schwangere als Mittel zur Reduzierung von Abtreibungen zugesagt hat.

Die Bischöfe setzen ganz auf eine verstärkte religiöse Erziehung, wie sie nicht nur Erlandson vorgeschlagen hat, sondern auch der langjährige Pressereferent der Bischofskonferenz und Buchautor Russell Shaw. In einem Artikel für die Bistumszeitungen "Was die Wahl Obamas für Katholiken bedeutet" schreibt er: "Der Sieg des demokratischen Senators treibt die Pro Life-Anhänger in die Defensive und verstärkt die Spaltungen in der Kirche." Den Bischöfen schlägt er ein neues Programm vor "zur Gewissenserziehung der Katholiken mit dem nicht ausschließlichen, aber schwerpunktmäßigen Fokus auf politische Themen. Und die Aufklärung loyaler Katholiken über (das Wesen von) Politik und Medien dürfte auch hilfreich sein".

Dementsprechend haben die Bischöfe auf ihrer Vollversammlung fünf "Task Groups" von je 45 Bischöfen eingerichtet, die bis zur nächsten Herbstvollversammlung Vorschläge für pastorale Maßnahmen in Bezug auf die Würde der menschlichen Person, das Zusammenleben verschiedener Kulturen in Gemeinden und Bistümern, insbesondere mit Hispanics, Stärkung der Ehe, der Glaubensunterweisung im Blick auf die Lehre von den Sakramenten und der Weckung von Priesterberufen. Neben einem aktuellen Aufruf an alle Gläubigen, den durch die Wirtschaftskrise betroffenen Armen "in brüderlicher Nächstenliebe beizustehen", setzten die Bischöfe mit einer kurzen Verfügung doch noch einen Lichtpunkt in ihrer Sorge um den Lebensschutz für Ungeborene: Sie unterbreiteten Vorschläge für Gottesdienste in englischer und spanischer Sprache zur "Segnung der Empfängnis im Mutterleib", auch "um der Gesellschaft ein Zeichen für die Achtung des menschlichen Lebens zu geben".


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Ferdinand Oertel (geb. 1927), promovierte mit einer Arbeit über Thomas Wolfe. Seine berufliche Laufbahn im katholischen Journalismus führte ihn zur Katholischen Nachrichtenagentur, zur Zeitschrift "Die christliche Familie", zur Aachener Kirchenzeitung und zu "Leben und Erziehen". Seit dem Studium in St. Louis regelmäßig Aufenthalte in den USA. Langjährige Mitarbeit bei der Herder Korrespondenz.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 1, Januar 2009, S. 25-30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2009