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BERICHT/316: Zum Vermächtnis der Politischen Theologie Dorothee Sölles (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 6/2011

Mystik nach dem "Tod Gottes"
Zum Vermächtnis der Politischen Theologie Dorothee Sölles

Von Elisabeth Hartlieb


Ist Dorothee Sölle, an der sich stets die Geister schieden, die politische Theologin oder die fromme Mystikerin? Acht Jahre nach ihrem Tod stehen im Vordergrund der Wahrnehmung ihre poetischen Texte.


Dorothee Sölle, geboren am 30. September 1929 und gestorben am 27. April 2003, gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert. An ihr schieden sich die Geister: Prophetin oder Hexe. Für die einen stand ihr Name für die Auflösung von Theologie in Anthropologie und Gesellschaftskritik, während sie für die anderen zur Verkörperung des theologischen Aufbruchs aus toter Dogmatik und einer erstarrten Kirche wurde.

Für eines allerdings steht sie nicht und wollte sie auch nicht stehen: für die zufriedene oder zynische Gewöhnung an ungerechte Verhältnisse und Menschenverachtung. "Ich will mich nicht gewöhnen". Mit diesem so gar nicht nach Altersweisheit klingenden Vorsatz verweigerte sich Dorothee Sölle auch mit siebzig Jahren jenem Pragmatismus, der die Suche nach der Wahrheit dem Schielen auf den Erfolg unterordnet. Sie scheute nicht die Gefahren von Einseitigkeit und Moralismus und ist ihnen auch nicht entgangen, aber die tiefe Lebendigkeit und Lebensfreude ihrer Theologie wurde dadurch nie gebrochen. Ähnlich wie bei Rudolf Bultmann, dessen tiefe persönliche Frömmigkeit von seinen Kritikern und Gegnern gern übersehen wurde, blieb unbeachtet, wie stark Sölles Theologie und ihr politisches Engagement in der Friedensbewegung aus ihrer mystischen Frömmigkeit lebte. Wahrgenommen wurde sie neben Jürgen Moltmann und Johann Baptist Metz als Vertreterin der Politischen Theologie, als linke Kirchenkritikerin und provokative Friedensaktivistin.

Acht Jahre nach ihrem Tod im April 2003 scheinen sich die Akzente ganz in die andere Richtung verschoben zu haben. Im Vordergrund der Wahrnehmung stehen Sölles poetische Texte. Die programmatische Vertreterin der Politischen Theologie wird nun als "Mystikerin des Herzens" in eine Reihe mit Hildegard von Bingen, Theresa von Avila, Marguerite Porète und Edith Stein gestellt. Verbirgt sich also hinter der politischen Theologin eigentlich eine fromme Mystikerin, deren Texte nun abgelöst von der politischen Tagesaktualität zur Geltung kommen können?

Sölle war beides zugleich: provokante theologische Denkerin nach dem "Tode Gottes", deren geschliffene, klare Sätze zur Stellungnahme herausfordern und fromme Theo-Poetin, deren Gedichte und Gebete von schmerzhaften und ekstatischen Gotteserfahrungen mitten im Alltag der Welt sprechen. Dennoch lässt sie sich weder in dem einen noch in dem anderen Bild einfangen: Wer sich durch die zwölf Bände der "Gesammelten Werke" liest, herausgegeben von Ursula Baltz-Otto, Theologin, Germanistin, Pädagogin und langjährige Freundin Sölles, zusammen mit Fulbert Steffensky, Professor für Pädagogik und Sölles zweitem Ehemann in einer 34-jährigen, produktiven und streitbaren Lebensgemeinschaft, findet glänzend formulierte Texte zur Politischen Theologie und eine Theologie der Mystik, die beide im Horizont von Aufklärung und moderner Gesellschaft stehen. Es lassen sich aber gleichfalls Gedichte und Gebete entdecken, aus denen eine schier unglaubliche immanente Transzendenzerfahrung spricht und Texte, deren Moralismus und dualistische Schwarz-Weißmalerei nicht nur der Generation der Dreißjährigen überholt, simplifzierend oder unerträglich naiv erscheinen.


Theologische Arbeiterin und Schriftstellerin

Die "Gesammelten Werke" (im Folgenden GW), die seit einem Jahr im Kreuz-Verlag vorliegen, machen das in vielen Einzelveröffentlichungen, Artikeln, Bibelarbeiten und Gesprächsbeiträgen verstreute schriftstellerische Schaffen Sölles nun für alle zugänglich, die die Facetten ihres theologischen Arbeitens kennen und sich ein eigenes Urteil über die bekannteste und zugleich umstrittenste deutsche Theologin des 20. Jahrhunderts verschaffen wollen. So finden sich nicht nur Sölles theologische Arbeiten im engeren Sinne, sondern auch eine breite Auswahl ihrer Gedichte, Predigten, Bibelarbeiten und eine Reihe von Gesprächsaufzeichnungen, sowie last, but not least Ausschnitte aus ihrer Habilitationsschrift über das Verhältnis von Theologie und Literaturwissenschaft samt ihren Essays zu Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Den Abschluss bilden Sölles 1995 erschienene Erinnerungen.


Dorothee Sölle verstand sich als theologische Arbeiterin und Schriftstellerin. Die Sprache war für sie Medium, Werkzeug und Material, um leidenschaftlich und intellektuell redlich im Kontext der deutschen Geschichte nach Auschwitz konkret von Gott zu reden. Eine professionelle Theologin im Dienst der akademischen Wissenschaft war sie so wenig wie eine Vertreterin der Amtskirche. So trifft sich Sölles eigenes Fazit mit dem Urteil derjenigen, die sie unter die großen Gottessucher und -sucherinnen einreihen: "Mein Leben ist also das einer theologischen Arbeiterin, die etwas vom Schmerz Gottes und von Gottes Freude mitzuteilen versucht" (GWBand 12, S. 278).

Die Tochter aus bildungsbürgerlichem, protestantischem Hause, die in einer politisch und geistig offenen, gegenüber kirchlicher Frömmigkeit jedoch distanzierten Atmosphäre aufwuchs, traf in ihrer Religionslehrerin Marie Veit eine Christin, die sie intellektuell herausforderte. Zugleich war sie fasziniert vom Existenzialismus. Nach dem Abitur begann sie das Studium der Philosophie und Klassischen Philologie, wandte sich jedoch nach wenigen Semestern unbefriedigt und von "Kierkegaard verführt (...) in die Religion" (GW 12,38) dem Studium der Theologie und Germanistik zu. Sölles Wendung zur Theologie war begleitet von der Suche nach theologischer Neuorientierung angesichts des Versagens der liberalen Theologie in der Nazi-Zeit. So empfand sie die aufklärerische Entmythologisierung des kirchlichen Auferstehungsglaubens durch Rudolf Bultmann als Befreiung zu einem radikalen Christentum, das in der Nachfolge des Jesus von Nazareth und seiner leidenschaftlichen Hingabe steht.

Nach ihrem Examen 1954 verfasste sie eine literaturwissenschaftliche Doktorarbeit über den frühmittelalterlichen Theologen und Mystiker Bonaventura und heiratete den Maler Dietrich Sölle. Gemeinsam haben sie drei Kinder. Während ihrer Tätigkeit an einem Kölner Gymnasium erlebte sie, wie wenig erwünscht die kritische Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazi-Zeit war. Nach zehn Ehejahren trennte sie sich von ihrem Mann. Als alleinerziehende berufstätige Mutter erlebte Dorothee Sölle selbst, was es in den sechziger Jahren hieß, die Grenze der weiblichen Rolle zu überschreiten, um einen eigenen Weg zu verwirklichen. In dieser Krise entstand 1965 ihr erstes theologisches Buch als Suche nach der eigenen theologischen Standortbestimmung: "Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem 'Tode Gottes'."


Klares und mutiges Nachdenken

Sölles klares und mutiges Nachdenken über die Frage menschlicher Identität im Horizont der theologischen Tradition führt sie zu einer Neubestimmung des dogmatischen Begriffs der Stellvertretung. Christus als Stellvertreter des Menschen vor Gott ist nicht "Ersatzmann" (GW 3,89), sondern "Vorläufer zu Gott", dem auf Seiten des Menschen die Nachfolge Christi entspricht (GW3,92). Zugleich ist Christus auch Stellvertreter Gottes bei den Menschen (GW3,113 ff.). Denn Auschwitz als Inbegriff der Gräuel, der Morde und des unendlichen Leidens, dem die christlichen Kirchen in ihrer Gesamtheit nicht widerstanden haben, wird zum Signet für die Erfahrung der Abwesenheit Gottes, die die Theologie zu bedenken hat.


Die Metapher vom "Tod Gottes" bildet die unabdingbare Sprachlinie, die unbrauchbare, abgestorbene und schädliche Gottesvorstellungen des bürgerlichen Christentums von dem Versuch einer Gottesrede trennt, die nicht mehr anders denn im Gesicht des leidenden Christus formuliert werden kann, der den abwesenden Gott in der Welt vertritt. Charakteristisch für sie ist die geradezu strenge Einseitigkeit, mit der sie das Gesicht Gottes im Gesicht des anderen erkennt: "Theologie nach dem 'Tod Gottes' wird die Entäußerung Gottes zu beschreiben versuchen. (...) Sie wird Christologie als Anthropologie betreiben, weil Gott sich zwischen Menschen ereignen kann, in jenem 'das habt ihr mir getan' (...) Ihr Thema wird der Mensch sein, der missverstanden, nämlich seiner Möglichkeiten beraubt ist, wo im Reden über ihn nicht zugleich über Gott gesprochen wird" (GW 3,216 f.).


Die Inkarnation, die Fleischwerdung Gottes bedeutet dann, dass Gott aus der Perspektive des Menschen gedacht werden muss. Doch Sölle entkleidet Gott nicht nur aller Allmacht und zieht Gott radikal in die Immanenz der Mitmenschlichkeit hinein. Zugleich denkt sie die Menschen aus der Perspektive Gottes: Der Ohnmacht Gottes im Angesicht des gefolterten Christus entspricht die Ermächtigung der Menschen als Gottes Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wie in der Tradition der griechischen Kirchenväter und der Mystik entsprechen sich Menschwerdung Gottes und Gottwerdung des Menschen. Allerdings denkt Sölle dies nicht in einem metaphysisch-abstrakten Raum, sondern neuzeitlich und das bedeutet: konkret geschichtlich als gesellschaftlichen Auftrag von Theologie und Kirche. Hier liegt die Wurzel für ihr politisches Engagement.


Theologie und politisches Engagement

Ihr Buch "Stellvertretung" wurde von der Fachtheologie kontrovers diskutiert und Sölle forthin als Vertreterin der "Gott-ist-tot-Theologie" wahrgenommen. Aufmerksamkeit und Anstoß in einer breiteren Öffentlichkeit erregte Dorothee Sölle mit der neuen Gottesdienstform des "Politischen Nachtgebetes", das sie zusammen mit Fulbert Steffensky und anderen aus dem Ökumenischen Arbeitskreis Köln 1968 ins Leben rief. Hier konnte Sölle ihr theologisches Programm umsetzen, Theologie und politisches Engagement zu verbinden: "Das Verifikationskriterium jedes theologischen Satzes ist die zukünftig ermöglichte Praxis" (GW 1,91). Damit vertritt Sölle nicht die Meinung, es gäbe spezifisch christliche Lösungen der Weltprobleme. Vielmehr sieht sie die Aufgabe der christlichen Theologie gerade darin, den Interpretationshorizont offen zu halten, in dem Politik als Raum verstanden wird, "in dem die christliche Wahrheit zur Praxis werden soll" (GW 1,78).

Ihr Credo, das sie in der evangelischen Antoniterkirche verlas, erschien nicht nur evangelikalen Christen, sondern auch dem damaligen Präses der Rheinischen Kirche blasphemisch. Sölles Verbindung von radikaler Theismuskritik und marxistischer Gesellschaftskritik waren theologisch wie kirchenpolitisch eine Provokation für die Mehrheit der Kirchenmitglieder:

"Ich glaube an gott / der die welt nicht fertig geschaffen hat / wie ein ding das immer so bleiben muss / der nicht nach ewigen gesetzen regiert / die unabänderlich gelten (...)/ ich glaube an gott / der den widerspruch des lebendigen will /und die veränderung aller zustände / durch unsere arbeit /durch unsere politik".


Sölle betreibt politische Theologie, weil für sie die Herausforderung, Gott und Menschen zusammen zu denken, indem sie die gegenwärtige Welt genau und realistisch, aber nie resignativ oder zynisch wahrnimmt, eine öffentliche Aufgabe darstellt. Im Unterschied zu Jürgen Moltmann oder auch zu Johann Baptist Metz verkörpert Sölle durch ihr politisches Handeln, was sie theologisch erörtert. Anders auch als die männlichen Vertreter der Politischen Theologie erhält Dorothee Sölle nie eine Professur an einer deutschen Universität. Die Gründe dafür sind vielfältig: Ihre charakteristische Arbeitsweise der Verbindung von Theologie und Literaturwissenschaft fügt sich nicht in die klassischen Fächergrenzen der theologischen Wissenschaft. Zudem bleibt Sölle nicht bei der theoretischen Reflexion, sondern positioniert sich einseitig und provokativ durch ihr (kirchen-)politisches und gesellschaftliches Engagement wie keiner ihrer männlichen theologischen Kollegen.

Als Sölle dann noch den ehemaligen Benediktinerpater Fulbert Steffensky heiratet, hat sie auch privat die Anstandsgrenzen des männlichen Establishments durchbrochen. Die Kränkung, für einen deutschen Lehrstuhl nicht "professorabel" zu sein, erweist sich im Rückblick als Freiheitsgewinn für die theologische Schriftstellerin. Sie bleibt nicht im Raum der wissenschaftlichen Theologie, sondern begibt sich von der Akademie hinaus auf die Agora. Dort werden ihre theologischen Texte, Predigten, Gedichte für viele Menschen, die sich in der traditionellen Kirche, ihrer Theologie und Sprache nicht mehr zuhause fühlen, zur Quelle und zum Wegweiser eines neuen theologischen Denkens, Sprechens und Betens.


Arbeit an einer Theologie der Befreiung für Europa

Die Stationen ihres politischen Engagements lauten Vietnam, Chile, Nicaragua, Friedensbewegung, kirchliche Basisgruppen und ökumenische Bewegung. Den Vietnamkrieg bezeichnet Sölle selbst als entscheidende Station ihrer politischen Entwicklung vom liberalem hin zum radikal-demokratischen Sozialismus. 1975 wird ihr vom liberalen Union Theological Seminary in New York die Professur angeboten, die einst Paul Tillich innehatte. Die Aufenthalte in New York und die Begegnungen mit den USA haben Sölles Theologie tief beeinflusst und verändert. Dort begegnet Sölle der Feministischen Theologie; Beverly Harrison, Professorin für Sozialethik und einer der "Mütter der Feministischen Theologie", wird ihre Kollegin und öffnet Sölles Blick für den Zusammenhang zwischen Theologie und Frausein. Sölle integriert nun Feminismus und feministische Theologie in ihr Denken und Arbeiten als Teil des herrschaftskritischen, gegenkulturellen Befreiungsprojektes, das für sie das Zentrum ihres theologischen Arbeitens darstellt.

Die Begegnung mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie verändert Sölles von der europäischen Aufklärung und der deutschen Geschichte geprägte politische Theologie auf so entscheidende Weise, dass sie nun selbst ihren theologischen Ansatz als befreiungstheologischen versteht: Zum einen entdeckt sie dadurch eine neue, erfahrungs- und kontextbezogene Lektüre der Bibel, die sich besonders in ihren Bibelarbeiten beispielsweise gemeinsam mit Luise Schottroff auf den Evangelischen Kirchentagen zeigt. Zum anderen versteht sie nun ihre theologische Arbeit als Arbeit an einer Theologie der Befreiung für Europa, die sie im Kontext der europäischen Friedensbewegung und der Ökologie- und Frauenbewegung ansiedelt und mit der globalen Perspektive verbindet. Ihre Theologie wird "geerdet" durch die erfahrungsgesättigte Relecture biblischer Texte und zugleich geweitet durch die globale Perspektive und die Verbindung mit all denen, die weltweit für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung eintreten.


Gott denken

Dorothee Sölle wird so zur einer der wichtigsten und bekanntesten Stimmen einer christlichen europäischen Minderheit, die Kirchen- und Gesellschaftskritik als Arbeit der Befreiung in der Nachfolge Christi versteht und konkret gestaltet. Im Rückblick erscheint es nicht überraschend, sondern vielmehr folgerichtig, dass das letzte Buch, das Sölle abgeschlossen hat, eines ist, in dem es ihr um die Entdeckung und Aneignung der mystischen Traditionen geht: das 1998 erschiene Buch "Mystik und Widerstand". Gemeinsam mit dem 1973 erschienen Buch "Leiden" gehört es zu den wichtigsten und eindrucksvollsten ihrer Bücher. Sölle versammelt in diesem Buch viele ihrer theologischen Lebensthemen und bündelt sie in ihrer Aneignung der mystischen Traditionen. Mystik im Zeichen des Widerstandes ist Möglichkeit der "vermittelten Unmittelbarkeit" Gottes und nach dem Tod des allmächtigen Vatergottes die unverzichtbare spirituelle Grundlage für die Arbeit der Befreiung.


Sölles theologisches Lebensthema war im Grunde das Projekt "Gott denken". Darin setzte sie das Projekt der neuzeitlichen europäischen Theologie fort, die Hoffnung des christlichen Glaubens im Horizont der Aufklärung formulieren, intellektuell redlich, in der Achtung vor der menschlichen Freiheit und Verantwortlichkeit. Sölles genuiner Beitrag zu diesem Projekt liegt darin, dass sie die moderne Kritik am metaphysischen Gottesbegriff unbestechlich aufgenommen und die geschichtliche Erfahrung des Versagens der bürgerlichen Theologie und Kirche im Dritten Reich als Kritik am Theismus verarbeitet hat.

Zugang zu einem christlichen Glauben nach dem Tod Gottes gibt es für sie über die Gestalt Jesu Christi, der nun nicht nur der Stellvertreter und Anwalt der Menschen vor Gott ist, sondern in gleicher Weise auch Gottes Stellvertreter bei den Menschen, die an den gütigen Vatergott nicht mehr glauben können. Die Kritik am allmächtigen Vatergott führte Sölle jedoch nicht zum Verzicht auf jede Transzendenzbewegung. Vielmehr will sie im theologischen Sprechen und Schreiben den Horizont offenhalten für die Bewegung, die den Status quo nicht als Grenze akzeptiert, sondern das "Mehr als alles" sucht und zugleich dem Hier und Jetzt die ganze Aufmerksamkeit schenkt. Die abstrakte Begriffssprache der theologischen Dogmatik ist nach Ansicht Sölle dazu unfähig.

Theologie treiben ist für Sölle eine dialektische Bewegung, die mehr umfasst als den rein kognitiven Vorgang. Die Klarheit und Präzision des Denkens ist verknüpft mit Leidenschaft, Sehnsucht und Hoffnung, die über die Wirklichkeit, wie sie sich darstellt, hinausweisen. Darum verweigert sich Sölle der Flucht in die apathischen Sicherheiten von Abstraktion und Metaphysik und bleibt bei den schmerzhaften, Angst einflößenden Widersprüchen und der Veränderlichkeit des Lebens. Schmerz und Angst zu thematisieren, ist bei ihr nicht Ausdruck protestantischer Lebensfeindlichkeit. Vielmehr gehören Angst und Schmerz zur menschlichen Freiheit. Sie sind angesichts von Ungerechtigkeit, Tod und Zerstörung unverzichtbar, um Lebendigkeit und Glück nicht zu verlieren.

Die Suche nach einer Sprache, die dafür Raum gibt, ist Teil ihrer theologischen Arbeit. Diese Sprache hat Raum für das Gebet und erzählt von der Entdeckung Gottes im alltäglichen Widerstand. Später wird sie dies als "Einübung in die Sichtweise Gottes" (GW 6,367) bezeichnen. In einigen ihrer Gebete und Gedichte ist ihr genau dies gelungen.


Dr. Elisabeth Hartlieb (geb. 1959) ist Privatdozentin für Systematische Theologie an der Universität Marburg mit den Schwerpunkten Feministische Theologie und Genderstudien, Hermeneutik, Christologie und Gotteslehre. Sie arbeitet als Krankenhausseelsorgerin in Donaueschingen.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 6, Juni 2011, S. 299-303
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2011