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BILDUNG/003: Überlegungen zur interreligiösen Kompetenz (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 1/2014

Nachholbedarf im Umgang mit Fremden
Überlegungen zur interreligiösen Kompetenz

Von Mirjam Schambeck



Angesichts des problematischen Umgangs mit Fremden in Europa ist religiöse Bildung besonders herausgefordert. Es geht um die Frage, was Menschen können müssen und was sie lernen sollen, um Andersgläubige zu achten, friedlich mit ihnen zu leben und im besten Falle von ihnen für das eigene Leben und Religionsverständnis zu lernen.


Der beschämende, ja himmelschreiende Umgang des reichen Europa mit den bestenfalls auf Lampedusa gestrandeten, schlimmstenfalls vor der italienischen Insel havarierten afrikanischen Flüchtlingen ist nicht zuletzt von wirtschaftlichem Kalkül geschürten Ängsten und nationalideologisch geprägten Einflüsterungen zu zollen. Ihre Warnrufe vor "Überfremdung" und kassandraartigen Prophezeiungen, des Eigenen angesichts von Multikulturalität und Multireligiosität verlustig zu gehen, tragen dazu bei, Menschen zu kriminalisieren, die auf der Flucht sind und ihre Heimat unfreiwillig verlassen müssen, weil sie dort verfolgt und geschunden werden oder dem Hunger entkommen wollen.

Im reichen Europa, in dem es Millionen Millionäre gibt, Berge von Lebensmitteln im Müll verschwinden, der Durchschnittsbürger eine Lebenserwartung von über 80 Jahren hat, geht die Angst um, mit Menschen teilen zu müssen, die schlechter dran sind als wir. Das verblüfft. Das erschreckt. Europa hat Angst vor den Fremden und wird sich dadurch selbst immer fremder.


Die Katastrophen, die sich an den Außengrenzen Europas tagtäglich ereignen, weil Menschen die Strapazen der Flucht nicht mehr ertragen, mussten erst durch das Desaster vor Lampedusa am 3. Oktober 2013 getoppt werden, um in der Öffentlichkeit Aufsehen zu erregen. Und die Frage steht nach wie vor offen, ob es bei symbolischen Gesten wie dem Staatsbegräbnis für die Ertrunkenen bei gleichzeitiger Initiierung von Verfahren wegen Verstoßes gegen das Migrationsgesetz gegen die Überlebenden von Lampedusa bleibt oder ob die unsäglichen Ereignisse die europäische Flüchtlingspolitik nachhaltig verbessern.

Die Werte der Humanität, auf die sich Europa gründet, müssen konkret erfahrbar werden, oder sie existieren nicht. Die vielen Ertrunkenen vor Lampedusa jedenfalls sind Beweis genug, die Glaubwürdigkeit Europas und die Wirkmächtigkeit einer von jüdisch-christlichen Werten geprägten Kultur massiv anzufragen. Das beschämt und ist eine Schande, wie Papst Franziskus treffsicher formuliert.

Warum Europa und hier insbesondere Deutschland so sehr auf Abschottung gegenüber den Flüchtlingen setzen, statt die eigenen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung in die Debatten um Einwanderung und Asylpolitik einzubringen und in konkrete Hilfsmaßnahmen umzumünzen, bleibt unverständlich.

Noch mehr: Dieser auf Abgrenzung bedachte Verfahrensstil deckt auf, wie wenig Europa und Deutschland mit ihm darauf vorbereitet sind, mit Fremden umzugehen. Das gilt für Menschen aus fremden Kulturen, mit anderen Lebensdeutungen und für Menschen, die anderen Religionen als dem Christentum angehören.

Dass auch Deutschland ein Einwanderungsland ist, das Sorge zu tragen hat für ein gutes Zusammenleben von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen wie Religionen und Wohlstand nicht einfach den Industrienationen vorbehalten bleiben kann: Dies sind Einsichten, die nicht einer rosaroten Weltsicht geschuldet sind, sondern sich als Schicksalsfragen postmoderner Gesellschaften entpuppen. Auch von daher ist es höchste Zeit, tragfähige Konzepte für das gelingende Zusammenleben von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und verschiedenen Religionen zu entwickeln und gehbare Wege für alle zu beschreiten.

So sehr der gute Umgang mit Fremden eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellt, so deutlich sind hier vor allem Bildungsinstitutionen wie die Schule, die Kirchen und insbesondere der Religionsunterricht als gemeinsame Angelegenheit von Staat und Religionsgemeinschaften gefragt. Als verantwortliche Instanzen, Kinder und Jugendliche auf die Aufgaben des Heute und Morgen vorzubereiten, müssen sie Wege finden, Vor-Urteile gegen Fremde sowie Ängste vor dem Fremden abzubauen, und zwar ohne dass Gesellschaften in ein beziehungsloses Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen und Religionen abdriften oder das Eigene zugunsten des Fremden aufgeben. Lampedusa ist insofern auch ein religionspädagogisches Lehrstück, und noch dazu ein besonders brisantes.


Die Liebe als Grund von Eigenem und Fremdem

Vor diesem Hintergrund stehen Auseinandersetzungen darüber an, wie die Beziehung von Eigenem und Anderem zu klären ist. Das gilt für kulturelle Differenz und das wird dort noch dringlicher, wo es um den Religionsplural geht; denn Religion prägt den Menschen nicht nur in seinen Einstellungen, Denk- und Verhaltensweisen, wie das die Kultur tut, sondern reicht aufgrund ihres Transzendenzaufweises und Ganzheitlichkeitsanspruches in das Innerste des Menschen hinein. Dort kann sie die Kräfte des Menschen auf das Gute hin ausrichten - was das eigentliche Ziel von Religion ist; dort hat sie aber auch die Macht, den Menschen in das Widermenschliche und Böse hinein zu verkehren, wenn sie zum totalitären System mutiert.

Insofern ist angesichts des katastrophalen Umgangs Europas mit Fremden religiöse Bildung besonders herausgefordert. Es geht um die Frage, was Menschen können müssen und was sie lernen sollen, um Andersgläubige zu achten, friedlich mit ihnen zu leben und im besten Falle von ihnen für das eigene Leben und Religionsverständnis zu lernen.


Um die Frage nach der Beziehung von eigener und fremder Religion zu klären, ist ein theologisches Differenzmodell hilfreich, das durch den christlichen Glauben motiviert ist und vom Gottesgedanken der christlichen Tradition ausgeht. Das mag seine Grenze sein. Die Gesprächspartner und -partnerinnen müssen sich zumindest darauf einlassen, theologischen Überlegungen nicht von vornherein Plausibilität und Überzeugungskraft abzusprechen. Zugleich vermag dieses theologische Differenzmodell Eigenes und Fremdes von einem Blickwinkel aus zu beleuchten, der eher ungewohnt, wenn auch nicht abwegig ist, ideal, wenn auch nicht praxisfern, einfach, wenn auch nicht unterkomplex verläuft und insofern den philosophischen Diskurs zu erweitern hilft (vgl. Mirjam Schambeck, Interreligiöse Kompetenz, Göttingen 2013, 111-158).


Eine der Hauptschwierigkeiten im Differenzdenken stellt die "Versuchung" einer universellen Hermeneutik dar. Diese versucht, von einem quasi a-geschichtlichen Metapunkt aus die Welt zu vermessen und Eigenes und Fremdes zu bestimmen. Partikularität, Geschichte und Kontextualität werden hier verdächtig. A-weltliche Positionen, die nicht selten die Wertpräferenzen der eigenen Kultur und Religion widerspiegeln, werden absolut gesetzt.

Um diese Gefahr zu vermeiden, setzt das Denkmodell, das in der Liebe den Grund und die Vermittlung von Eigenem und Fremdem entdeckt, auf partikulare religiöse Traditionen als Ausgangspunkt. Damit wird die kulturelle Bedingtheit des Denkens und insofern auch der eigenen Perspektive ernst genommen. Was als Eigenes und Fremdes gilt, kann nicht objektiv und total bestimmt werden. Diese Beschreibung ergibt sich vielmehr angesichts der eigenen Perspektive und erfährt ihre Bedeutung zunächst nur in Bezug auf diese eigene Perspektive.

Das heißt freilich nicht, dass das Eigene nicht für das Fremde fruchtbar werden könnte und umgekehrt. Das bedeutet auch nicht, dass die unterschiedlichen religiösen Traditionen nicht zueinander sprechen könnten, weil sie keine gemeinsamen Verständigungsweisen mehr kennen würden. Es wird aber deutlich, dass die Beziehung von eigener Religion und fremder Religion nicht einfach an sich und ungebrochen geklärt werden kann. Es bedarf vielmehr der Übersetzungs- und Vermittlungsprozesse, die das Selbstüberschreitungspotenzial der Religionen - nämlich die Frage nach dem Wahren, dem Guten und Schönen, nach Heil und Liebe - thematisieren, im Klangraum des Eigenen erörtern und von da aus vom Klangraum des Anderen her durchwirken lassen.

Konkret heißt das, nach religiösen Überschneidungssituationen Ausschau zu halten - wie die Frage, was bedeutet Barmherzigkeit, was bedeutet Teilen, was heißt Gastfreundschaft -, diese von der je eigenen religiösen Tradition her zu erläutern und in einen kritischen Diskurs mit anderen religiösen Traditionen zu bringen. Damit kommt dem Eigenen das Prae vor dem Fremden zu.

Dies darf aber nicht - und hier spielt die theologische Verankerung des Differenzmodells eine Rolle - als Herrschaftsposition missverstanden werden. Sie ist vielmehr einerseits motiviert durch den Gottesgedanken, der das Zuerst des Eigenen als sich verschenkendes Zuerst einlöst und nicht als unterdrückendes oder das Andere auf einen nachrangigeren Platz verweisendes. Andererseits ist die Vorrangigkeit des Eigenen der Begrenztheit menschlicher Existenz geschuldet.

Zugleich ist das Eigene gegenüber dem Anderen nicht als isolierte Entität zu denken. Auch hier spielt die theologische Fundierung des Differenzmodells eine Rolle. Weil das Eigene nicht etwas ist, das selbst erschaffen, selbst geleistet wurde, sondern zur Existenz kam, indem ein anderer - Gott - sich an das andere seiner selbst verschenkte, wohnt ihm, und zwar jedem Geschaffenen, dem Ich wie dem Du, dem Eigenen wie dem Anderen, dem Vertrauten wie dem Fremden, die Signatur der Liebe inne; denn die Liebe ist die Weise, wie Gott schafft.

Eigenes und Anderes zeigen sich von daher nicht mehr als totale Differenz. Eigenes und Fremdes werden vielmehr als Größen sichtbar, die einander nicht mehr ausschließen, sondern sich als je spezifischer und unterschiedlicher Ausdruck der zugrundeliegenden Einheit erweisen. Differenz ist insofern keine Bedrohung mehr von Einheit. Sie zeugt vielmehr von der Freiheit Gottes, sich auszusagen - theologisch formuliert, sich zu entäußern an das andere seiner selbst, und zwar ohne sich zu verlieren.


Die Liebe, die dem Eigenen wie dem Anderen eingestiftet ist, wird von daher auch zum tragenden Grund, das Fremde nicht mehr als auszulöschendes Anderes werten zu müssen. Die Angst vor dem Fremden und den Fremden könnte angesichts eines solchen Denkangebots als vorreflexive Unaufgeklärtheit offengelegt - beziehungsweise als haltlos identifiziert werden. Das soll nicht heißen, bestehende Ängste vor dem Fremden zu übertünchen. Es geht vielmehr darum, diese Mechanismen nicht zum Motor des Handelns werden zu lassen. Damit das nicht geschieht, tut Aufklärung Not und ist Bildung gefragt. Das hermeneutische Modell "die Liebe als Grund von Eigenem und Fremdem" zu verstehen, kann vor diesem Hintergrund in religiösen Bildungsprozessen furchtbar gemacht und für die Beschreibung interreligiöser Kompetenz weitergedacht werden.


Eine Beschreibung interreligiöser Kompetenz

In unterschiedlichen Studien empirischen Zuschnitts wie hermeneutischer Provenienz konnte als erste fundamentale Bestimmung interreligiöser Kompetenz ausgewiesen werden, dass jemand, der mit dem Religionsplural angemessen gut umgehen kann, die Fähigkeit hat, Eigenes und Fremdes zu unterscheiden (Diversifikationskompetenz) und zugleich Eigenes und Fremdes miteinander in Beziehung zu setzen (Relationskompetenz).

Das heißt, dass es in interreligiösen Lern- und Bildungsprozessen darum geht, dass sich die Lernenden des Eigenen bewusst werden, dass sie auskunftsfähig darüber sind, was das Eigene ausmacht, was es bedeutet und wie es sich in der Lebenswelt konkretisiert. Symboliken des Christentums wie das Kreuz identifizieren zu können oder zu wissen, welche Bedeutung Jesus von Nazareth im christlichen Glauben zukommt, wären solche erste elementare Lernschritte. Dabei bleibt es aber nicht. Interreligiöse Kompetenz erfordert sodann die Fähigkeit, den Religionsplural explizit in die eigene Positionierung zu Religion einzubeziehen.

Um im gerade genannten Beispiel zu bleiben, müsste die Bedeutung Jesu ins Gespräch gebracht werden, zum Beispiel mit dem Verständnis Jesu im Islam beziehungsweise noch grundlegender mit dem Verständnis, wie sich Gott (oder das Endgültige) in dieser Welt zeigt und wie dies in anderen Religionen gedacht und geglaubt wird.

Damit wird eine zweite grundlegende Bestimmung interreligiöser Kompetenz deutlich. Als Unterscheidungs- und Inbeziehungssetzungs-Fähigkeit umfasst sie drei Bereiche. Sie schließt erstens einen ästhetischen Kompetenzbereich ein, in dem es darum geht, die unterschiedlichen Formen der eigenen und anderen Religion wahrnehmen zu können. Zweitens entwickelt sich interreligiöse Kompetenz als hermeneutisch-reflexive und -kommunikative Kompetenz, insofern es darum geht, die Traditionen der eigenen Religion im Angesicht der anderen Religion verstehen und ausdrücken zu lernen.

Drittens schließlich umfasst sie einen praktischen Kompetenzbereich, der sich zum einen als praktische Reflexionsfähigkeit erweist, also als Fähigkeit, die durch den Religionsplural hervorgerufenen Fragen überhaupt ausmachen und einer Entscheidung zuführen zu können. Zum anderen lässt sich der praktische Kompetenzbereich als Vollzugs- oder Teilhabefähigkeit verstehen. Damit ist gemeint, dass die Lernenden fähig werden, sich in der eigenen Religion begründet zu verhalten und verantwortet zu handeln, und zwar angesichts des Religionsplurals.


Interreligiöse Kompetenz zu erwerben, zeigt sich so als komplexer, vieldimensionaler und anspruchsvoller Lernprozess. Dazu braucht es zudem Menschen, die es verstehen, Religion authentisch auszusagen. Es reicht also nicht, Religion in der Beobachterperspektive als interessantes Phänomen zu erkunden. Hier würde die Erfahrungsdimension, die Religion fundamental ausmacht, unter den Tisch fallen. Religion würde reduziert auf ein Diskurssystem, eine Ansammlung von Ritualen und Praktiken oder ästhetischen Ausdrucksformen. Soll diese "Halbbildung" (Theodor W. Adorno) vermieden werden, braucht es ein Thematisieren von Religion in der Teilhaberperspektive oder, wie Ingolf U. Dalferth formuliert, von der "Erste-Person-Perspektive der Beteiligten" aus.

Erst dann, wenn Religion in all ihren Dimensionen, in der Erfahrungsdimension genauso wie in der Ausdrucksdimension als Ästhetik, Kognition und Praxis zum Tragen kommt, haben Lernende die Chance, ihre eigene, begründete Position zu Religion auch dem Gegenstand gegenüber angemessen zu erarbeiten. Das bedeutet nicht, dass die Lernenden selbst Gläubige sein müssen. Das heißt vielmehr, dass Religion von Lehrenden ins Spiel zu bringen ist, die sich selbst in einer Religion verortet haben und sie insofern auch in ihrer Vieldimensionalität und in ihrem substanziellen Gehalt aussagen können - zweifelnd, gebrochen, kritisch, aber in all dem so, dass Religion auch in der Tiefe des Sprechenden wurzelt.


Was es braucht, um interreligiöse Kompetenz anzueignen

Damit stellt sich die Frage, wie Lern- und Bildungsprozesse aussehen müssen, damit Lernende überhaupt die Chance haben, sich interreligiöse Kompetenz anzueignen. Zumindest einige Bedingungen interreligiöser Lernangebote sollen im Folgenden skizziert werden.

Interreligiöse Kompetenz entwickelt sich durch Interaktionen von Menschen, die unterschiedliche religiöse Traditionen zur Geltung bringen. Das hat zum einen damit zu tun, dass der Kompetenzbegriff von sich aus Fähigkeiten und Fertigkeiten von Menschen bezeichnet und damit als personale Eigenschaft verstehbar wird. Das trifft sich zum anderen mit der Erkenntnis, dass Religionen nicht nur als Diskurssysteme zu beschreiben sind, sondern als Interaktionen von Menschen untereinander, und zum Endgültigen hin verstehbar werden. Interreligiöse Kompetenz kann deshalb dort am besten erworben werden, wo sich Lernen von Religion angesichts des Religionsplurals als Lernen von Menschen ereignet, die unterschiedlichen religiösen Traditionen angehören.


Interreligiöse Kompetenz zu erwerben, erfolgt nicht im luftleeren Raum, sondern geht vom Eigenen aus. Erst von da aus wird das Andere, Fremde ansichtig. Interreligiöse Lern- und Bildungsprozesse müssen deshalb die eigene religiöse Tradition als Folie ansichtig machen, von der aus das Andere, Fremde ins Spiel kommt. Das heißt nicht, dass alle Lernenden sich dieser eigenen religiösen Tradition im Sinne einer Religionsmitgliedschaft verschrieben haben müssen. Angesichts der zunehmenden Entkonfessionalisierung und Enttraditionalisierung postmoderner Gesellschaften kann als "eigene religiöse Tradition" vielmehr diejenige gelten, die zumindest kulturell näher ist oder die früheren Generationen als eigene galt. Hier geht es darum, den Interaktionsraum einer religiösen Tradition, verstanden als ihre soziokulturelle Gestalt, als Denk- und Deutungsfolie anzuerkennen. Von da aus erfolgt das Fragen in Bezug auf die anderen religiösen Traditionen.


Interreligiöse Kompetenz setzt interreligiöse Lern- und Bildungsprozesse voraus, die Religion angemessen zur Sprache bringen. Das heißt einerseits, Religion als vielgestaltiges Phänomen ernst zu nehmen. Das heißt andererseits, wie oben angedeutet wurde, dass Religionen nicht nur in der Beobachter- und Außenperspektive, sondern in authentischen Sprechsituationen zur Geltung kommen müssen.

Insofern interreligiöse Kompetenz Fähigkeiten und Fertigkeiten, Einstellungen und Haltungen meint, eigene Religion und andere Religionen zu unterscheiden wie auch in Beziehung zu setzen, muss in interreligiösen Lern- und Bildungsprozessen darauf geachtet werden, dass die Differenz von Eigenem und Fremdem produktiv angespielt wird. Die Überlegungen zum Differenzdenken sowie das Modell, das in der Liebe den Grund für Eigenes und Anderes erkennt, können dazu hilfreich sein. Insbesondere die Haltungen der Demut und Nüchternheit, der Offenheit und Aufgeschlossenheit, des Wohlwollens, der Anerkenntnis und Wertschätzung, der Bereitschaft, sich verändern zu lassen, und der Freundschaft können dazu helfen.

Die Beschreibung interreligiöser Kompetenz zielt also letztlich auf einen bestimmten normativen Horizont, der sich nicht aus der Bestimmung interreligiöser Kompetenz selbst ergibt. Dieser normative Horizont ermöglicht es vielmehr erst, interreligiöse Kompetenz auszurichten und damit zu konkretisieren, um den Religionsplural angemessen anzuspielen und mit Differenz produktiv umzugehen. Was angemessen und produktiv ist, hat mit den Zielen zu tun, wegen derer interreligiöse Kompetenz relevant wird.

Und hier kommt wieder Lampedusa ins Spiel: Am Anderen gut zu handeln, Fremde aufzunehmen, bedürftigen und in Not geratenen Menschen zu helfen, das gebietet allein schon die Menschlichkeit und ist nicht nur einem christlichen Ethos vorbehalten. Eine Konzeptualisierung interreligiöser Kompetenz und vor allem die Implementierung interreligiöser Lern- und Bildungsprozesse in Schulen könnten helfen, dass dieser barmherzige Umgang mit Fremden nicht nur als Spezialfall besonders altruistisch veranlagter Menschen oder Hilfsorganisationen goutiert, letztlich aber in seinem allgemein verpflichtenden Anspruch nivelliert wird. Interreligiöse Kompetenz als Bildungsziel quer durch die Schularten und Jahrgangsstufen verbindlich anzustreben und nicht nur den Sonntagsreden zu überlassen, könnte ein Beitrag dazu sein, Multikulturalität und Multireligiosität endlich als gesamtgesellschaftliche Phänomene und von allen anzugehende Aufgabe anzuerkennen.

Dann müssten Grenzen nicht befestigt werden. Dann könnten Gelder für Frontex in konkrete Hilfsmaßnahmen für Flüchtlinge umgewandelt werden. Dann könnten bestenfalls euphemistische, im Grunde aber zynische Formulierungen europäischer Regierungen, wie die "Sorge um ein sicheres Meer", hinter denen sich insbesondere Überwachungsmaßnahmen verbergen, getrost dem Kuriositätenkabinett politischer Täuschungsmanöver anheimgegeben werden. Denn was mit Fremden passiert, würde so sehr schnell als Frage entziffert werden, worauf eine Gesellschaft wirklich setzt: auf die Märkte oder die Menschen.


Mirjam Schambeck (geb. 1966), Dr. theol. habil. Seit 2006 ist die Franziskanerin (societas francisci) Professorin für Religionspädagogik, seit 2012 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich Interreligiöse Bildung, Gottesfrage und biblisches Lernen; zuletzt: Interreligiöse Kompetenz. Basiswissen für Studium, Ausbildung und Beruf (= UTB M 3856), Göttingen 2013.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
68. Jahrgang, Heft 1, Januar 2014, S. 28-32
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juli 2014