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FORSCHUNG/030: Jüngstes Gericht im Horizont von Gerechtigkeit, Liebe ... (Bibel und Kirche)


Bibel und Kirche 4/2008 - Organ der Katholischen Bibelwerke
in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Das Jüngste Gericht im Horizont von Gerechtigkeit, Liebe und Solidarität(1)
Mt 25,31-46 von seinen alttestamentlichen Bezugstexten her gelesen

Von Bettina Eltrop


Viele tun sich schwer mit den Texten des Alten Testaments. Dessen Gottesbild sei angeblich von Gewalt und Rache geprägt, wohingegen der Gott des Neuen Testaments ein Gott der Liebe sei. Doch auch das Neue Testament präsentiert die "unbequemen" Seiten des biblischen Gottes, vor allem in Gleichnis- und Gerichtstexten. Die Rede vom Weltgericht (Mt 25,31-46) scheint solch ein neutestamentlicher "Drohbotschaftstext" zu sein. Doch in seiner Verankerung in der alttestamentlich-jüdischen Tradition und der biblischen Gottesrede kann er neu als Frohbotschaft und konsequente Fortsetzung der biblische Rede von Gottes Gerechtigkeit und Liebe entdeckt werden.


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Die Gleichnisrede Mt 25,31-46 ist die einzige Schilderung des Endgerichts in den synoptischen Evangelien. Sie steht am Ende der fünften großen Jesusrede im Matthäusevangelium(2) und beendet diese mit einer ausführlichen Unterweisung über das Weltgericht. Sie ist zugleich der letzte Text vor dem Beginn der Passionserzählung. Die vorgestellte Redesituation ist damit folgende: Jesus spricht vor seiner Passion über die Endzeit und vom Weltgericht. Es wird durchgeführt durch den Menschensohn, dem nach Dan 7 von Gott das Endgericht übertragen wird und der als himmlisch-menschliche Richtergestalt auftritt. Diese endzeitliche Richtergestalt ist - obwohl im Text der Name Jesus und der Titel Christus/Messias vermieden wird - durch den Textkontext im Matthäusevangelium eindeutig mit dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus identisch.


Beobachtungen zu Textstruktur und sprachlichen Gewichtungen

Die Verse 31-33 bilden die Einleitung und schildern die Gerichtsszenerie: der Menschensohn-Richter sitzt umgeben von seinen Engeln auf dem königlichen Thron. Die Verse 34-40 und 41-45 enthalten zwei Dialoge zwischen den gerichteten Menschen / Völkern(3) und dem Weltenrichter. Darin werden viermal sechs gute Taten an Bedürftigen aufgezählt und als thematischer Schwerpunkt des Textes sichtbar: Hungrige speisen, Nackte bekleiden, Durstigen zu trinken geben, Fremde aufnehmen, Kranke und Gefangene besuchen. Zweimal nennt sie der Menschensohn-Richter als Kriterium für seine Urteile, danach wiederholen die angesprochenen Gruppierungen offenbar überrascht diese Aufzählung als Frage. Jeder Dialog wird mit einem feierlichen Amenwort des Weltenrichters beendet.


Ein klares Urteil

Das Gerichtsverfahren erscheint zwar dialogisch, bei genauerem Hinsehen wird jedoch die Souveränität und das fest stehende Urteil der richterlichen Gestalt sichtbar: Ohne vorherige Verhandlung fällt sie ihr Urteil, scheidet die vor ihr stehenden Menschen in die Gruppen zur Rechten und zur Linken. Erst in einem zweiten Schritt folgen die Begründung des Urteils und die Möglichkeit zur Rückfrage oder Verteidigung der Angesprochenen.

Schon die scheinbar willkürliche Einteilung der Menschheit in zwei Gruppen ist vielen BibelleserInnen ein Ärgernis und benötigt unsere genauere Aufmerksamkeit. Auch in der Exegese ist umstritten, was es zu bedeuten habe, dass die richterliche Gestalt die Menschen bzw. Völker scheidet wie ein Hirt die Schafe und Böcke.(4) Hier hilft uns erstmals der Bezug zum AT: Ein prophetischer Text wird eingespielt, den die jüdisch geprägte Gemeinde, in der das Matthäusevangelium entstand, sicher sofort parat hatte, und der von den ersten Hörerinnen und Hörern sozusagen automatisch assoziiert wurde: Ez 34.


Der Texthintergrund Ez 34

Das 34. Kapitel des Ezechielbuches wird die große Hirtenrede genannt. Das Bild des Hirten ist im Alten Orient und in der Bibel ein Bild für den politisch-irdischen Führungsanspruch von Königen oder Fürsten und für den himmlischen König, also für Gott selbst.

Das Bild des Hirten wird im Ezechielbuch in dieser Zweibedeutsamkeit benutzt: Der Priester Ezechiel, der die Katastrophe der Eroberung Jerusalems und Judas durch die damalige Weltmacht Babylon erlebte und als Angehöriger der Oberschicht nach Babylon deportiert wurde, rechnet in Ez 34 als Sprachrohr Gottes mit den schlechten Hirten Israels - der führenden Oberschicht - ab: Auf Kosten des Volkes hatten sie sich bereichert, gelebt wie die Maden im Speck, nichts hatte ihnen gefehlt. Dass es Erschöpfte, Ausgebeutete, Kranke, Verlierer im eigenen Volk gab, kümmerte sie nicht. Eroberung und Zerstreuung des Volkes sind die Folge. Dieser Entsolidarisierung schaut Gott im Folgenden nicht länger tatenlos zu. Darum nimmt Gott selbst das Hirtenamt wahr:

Ihr aber, meine Herde - so spricht Gott, der Herr -, ich sorge für Recht zwischen Schafen und Schafen, zwischen Widdern und Böcken. War es euch nicht genug, auf der besten Weide zu weiden? Musstet ihr auch noch euer übriges Weideland mit euren Füßen zertrampeln? War es euch nicht genug, das klare Wasser zu trinken? Musstet ihr den Rest des Wassers mit euren Füßen verschmutzen? Meine Schafe mussten abweiden, was eure Füße zertrampelt hatten, und trinken, was eure Füße verschmutzt hatten.

Darum - so spricht Gott, der Herr, zu euch: Ich selbst sorge für Recht zwischen den fetten und den mageren Schafen. Weil ihr mit eurem breiten Körper und eurer Schulter alle schwachen Tiere zur Seite gedrängt und weil ihr sie mit euren Hörnern weggestoßen habt, bis ihr sie weggetrieben hattet, deshalb will ich meinen Schafen zu Hilfe kommen. Sie sollen nicht länger eure Beute sein; denn ich werde für Recht sorgen zwischen Schafen und Schafen.
(Ez 34,17-22)

Ez 34 gibt uns die Erklärung für das Handeln des Menschensohns in Mt 25,31ff: Vor der weltenrichterlichen Gestalt, die wie ein Hirte die Schafe und Böcke voneinander trennt, steht die Menschheit in ihrer Aufspaltung in Täter und Opfer, in rücksichtslose Nutznießer und ausgebeutete Menschen, ja sogar in Imperialmächte und erbeutete Völker.

Fast ungebrochen kann der Ezechieltext von der Matthäusgemeinde auf die eigene geschichtliche Situation in neutestamentlicher Zeit übertragen werden.(5) Das jüdische Volk war wieder Beute einer Imperialmacht geworden, es war von den Römern 70 n. Chr. besiegt, aus Jerusalem vertrieben und versprengt worden - und nicht nur das, auch die Solidarität der Menschen im eigenen Volk war zerbrochen. Die eigene Führerschaft hatte Rom gegenüber nicht mehr die Ärmsten und Schwächsten geschützt, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre, sondern sie hatte zugesehen und sich sogar daran beteiligt, dass das Volk durch Zölle und Abgaben immer mehr verarmte und den Vorschriften und Praktiken des übergeordneten römischen Patriarchats gehorchen musste.

Doch mit Ez 34 und der Rede vom Weltgericht Mt 25,31ff erinnert die Matthäusgemeinde daran, dass Gott und mit und für Gott die königliche Gestalt des Weltenrichters Recht schaffen werden zwischen schwachen und starken Menschen und Völkern.


Die Vollendung der wartenden Schöpfung

Überhaupt ist Mt 25,3 1-46 ein Text, den man sehr genau und langsam lesen muss, um die "frohe Botschaft" nicht zu überhören. In V. 34 wird sie gleich zu Beginn vom königlichen Weltenrichter verkündet. Er spricht die Gruppe zu seiner Rechten an als "Gesegnete Gottes" und vermacht ihr als Erbbesitz "das Reich, das seit der Erschaffung der Welt für euch bereitet ist." Es geht offensichtlich beim Gericht zuallererst um die Vollendung der von Gott bereiteten und wartenden guten Schöpfung. Das erste Urteil des Weltenrichters besagt damit, dass das Ende der Geschichte kein absurdes Scheitern sein wird. Vielmehr soll alles, was von Gott her gut angelegt ist, alles das, was gut war, ist und gut werden will, verwandelt und vollendet werden. Es lohnt sich, bei dieser Zusage, die wir allzu oft überlesen, zu verweilen, sie auszukosten und die paradiesischen Bilder kommen zu lassen, die sich bei dem Stichwort der bereiten und auf Vollendung wartenden Schöpfung einstellen.


Werke der Liebe

Als Begründung und Maßstab für ihr Urteil nennt die richterliche Gestalt sechs "gute Taten", die an den Ärmsten verübt wurden: Hungrigen Essen, Durstigen Wasser und Armen ein Dach über den Kopf und Kleidung geben, Kranke pflegen, Gefangene besuchen. Luise Schottroff hat darauf hingewiesen, dass es sich bei diesen aufgezählten Taten um die so genannten "Liebeswerke" handelt, wie im jüdischen Sprachgebrauch wohltätiges Tun bezeichnet wurde, das vor allem für jüdische Frauen selbstverständlich zu ihrem Alltag gehörte.(6) Die hohe Einschätzung der Liebeswerke zeigen die rabbinischen Schriften. Nach Abot 1,2 ruht die Welt auf der Tora, dem Kult und den Liebeswerken. Sie getan zu haben kann im Gericht entscheidend sein (vgl. bNed 40a).

Die Aufforderung zum Tun der Werke der Liebe finden wir auch in der prophetischen und in der Weisheitsliteratur des AT: Speisung von Hungrigen und Bekleidung von Nackten in Jes 58,7.10; Ez 18,7.16; Besuch von Kranken (Sir 7,35); Tränkung von Durstigen (Ijob 22,7); Aufnahme von Obdachlosen (Jes 58,7). Daneben kennt die Bibel noch andere Werke der Liebe und Barmherzigkeit, z.B. Sklaven freilassen (Jes 58,6), Trauernde trösten (Sir 7,33f). Es handelt sich im Matthäustext so nicht um eine abgeschlossene, sondern um eine beispielhafte, offene, ergänzbare Aufzählung der Liebeswerke mit der Botschaft: Wo immer mit Armen, an den Rand Gedrängten und Leidenden Solidarität geübt wird, wo ihre Wunden wahrgenommen werden und konkrete Schritte zur Heilung geschehen, bricht sich die Liebe Bahn, dort verwandelt sich die Welt. Liebe ist dabei nicht auf ein sentimentales Gefühl zu reduzieren, sondern äußert sich für jüdisches Denken immer in konkreten Handlungen. Darum sind die Liebeswerke der prophetischen Verkündigung sozusagen der verlängerte Arm der Tora - und sie sind Praxis Jesu, der mit Hungernden aß, Kranke heilte, Hoffnungslose aufrichtete.


Aus der Perspektive der Opfer

Doch die menschlich-königliche Richtergestalt erklärt nicht nur die Taten der Liebe als das entscheidende Kriterium für das Endgericht, sondern auch, dass diese Werke der Liebe an ihr selbst verübt worden seien. Auch dieser Gedanke lässt sich auf alttestamentliche Stellen zurückführen: "Wer den Geringen bedrückt, schmäht dessen Schöpfer, ihn ehrt, wer Erbarmen hat mit dem Bedürftigen" (Spr 14,31); oder "Wer Erbarmen hat mit dem Elenden, leiht dem Herrn; er wird ihm seine Wohltat vergelten" (Spr 19,17).

In diesen Stellen wie in Mt 25,31ff wird die radikale Parteilichkeit des biblischen Gottes für die Armen, Schwachen und Kleinen in der Identifizierung Gottes oder Jesu mit ihnen sichtbar: Jesus / Gott ist in den leidenden Menschen unter uns anwesend! Mit den Notleidenden und Armen erklärt sich der Weltenrichter solidarisch und gibt ihnen so Anteil an seiner königlichen Würde.

Und tatsächlich geht Jesus im Erzählgang des Matthäusevangeliums nach Abschluss dieser Rede auf Foltertod und Entrechtung zu (Mt 26,1-4). Er ist kein Messias, der mit Gewalt die Unterdrückung Israels beenden wird, sondern der selbst Opfer der Gewalt wird. Als Auferstandener und wiederkommender Weltenrichter repräsentiert er im Matthäusevangelium allerdings nicht nur Gottes Macht über den Tod, sondern auch Gottes Macht über die Ungerechtigkeit der Welt, die solche Opfer hervorbringt.

Zur Rechten stehen in Mt 25,31ff zusammen mit den Schwachen und den Opfern die, die sich von der Not betreffen lassen, die mitleiden (wie der barmherzige Samariter in Lk 10,33 oder Gott selbst in Hos 11). Sie sind aktiv, schöpferisch tätig und unternehmen Schritte zur Linderung des Leids und Heilung der Bedürftigen. Zusammen mit den Opfern bilden sie die solidarische Menschen-Gemeinschaft, die in ihrer Com-passion gemeinsam in Richtung Heilung und Vollendung der wartenden Schöpfung voranschreitet.


Zur Linken die Feuerhölle

Auch der zweite Gerichtsdialog beginnt mit einem Urteil: Die zur Linken sind "fern von Gott", ihr künftiger Ort wird das "endlose Feuer" sein. Anders als im Dialog zuvor heißt es aber nicht "für euch bereitet" und auch nicht "von Anbeginn der Welt". Das ewige Feuer ist nach dem Text sogar eigentlich nicht für Menschen bestimmt, sondern "für den Teufel und seine Engel" vorgesehen. Von Gott her ist für die Menschen eindeutig die wartende Schöpfung, das Heil bereitet und nicht das Unheil.

Ob die Feuerhölle leer oder wie voll sie sein wird, hängt also nicht von Gott, sondern von den Menschen ab, denn sie haben die Freiheit, sich nah zu Gott / Jesus in den Leidenden oder fern von ihm und diesen aufzustellen. Die unterlassenen Taten der Liebe werden diesen Menschen zum Gericht, sagt der Text. Viele reagieren an dieser Stelle verständnislos: Sollen das die Kriterien im Endgericht sein, können wir diesen Text wirklich ernst nehmen? Geht es hier nicht um Marginalien? Wo bleiben die großen Verbrechen, Mord und Totschlag, die Sünde, die Verfehlung und Verkehrung des Gotteswillens?

Die lateinamerikanische Theologin Ivone Gebara hat versucht, aus Frauenperspektive die Rede über das Böse neu zu fassen.(7) Sie definiert das Böse relational, als gestörte Beziehung zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Natur. Im Alltag der Frauen in Lateinamerika, von dem sie ausgeht, zeige sich fast durchgängig diese Erfahrung des Bösen, das nur selten und daher fast unwirklich von Erfahrungen des Heilwerdens unterbrochen werde. Die Frauen erleben das Böse übermächtig und das Gute darin wie eine Oase in der Wüste. Ivone Gebara beschreibt dabei die Frauen als Opfer und Täterinnen zugleich.

Von gestörten und zerbrochenen Beziehungen zwischen Menschen handelt der zweite Gerichtsdialog. Die Entsolidarisierung ist so weit fortgeschritten, dass die Gerichteten die Opfer gar nicht mehr wahrnehmen. Nur noch hastig spult die zweite Gruppe die Themen ab, fasst die Nöte der Menschen möglichst kurz und pauschal zusammen (V. 44b).

Das Böse in Form gestörter oder zerstörter Beziehungen zwischen Menschen und Völkern dieser Erde wird im Neuen Testament oft mit der widergöttlichen Gestalt des diabolos, des Durcheinanderwerfers, Verfeinders und Verleumders in Zusammenhang gebracht, wie in neutestamentlicher Zeit das Böse in personifizierter Form dargestellt wird. So auch hier: Alle widergöttlichen Kräfte (diabolos und seine Engel, Dämonen), alles, was im Dienste der Entzweiung arbeitet, wird im endlosen Feuer landen und durchdringend und endgültig vernichtet werden. Die Zerstörung der Beziehungen wird nicht bleiben, das ist die zweite große Hoffnungsbotschaft des Weltenrichters. Allerdings erinnert die Rede vom endlosen Feuer, das nicht für die Menschen bestimmt ist, in dem sie aber landen können, daran, dass Gerechtigkeit und die Rehabilitierung der Opfer nicht billig zu haben sind.


Wie individualistisch dürfen wir diese Texte lesen?

Wenn wir ins AT, aber auch ins NT schauen, so ist erstaunlich, wie wenig sich Israel mit dem Problem des Todes und allem, was danach kommt, auseinandersetzt. Aber gewaltigen Raum nehmen die Texte ein, in denen über den Skandal der Ungerechtigkeit diskutiert wird - im Alten wie im Neuen Testament. In unserer heutigen individualisierten Welt liegen die Verhältnisse genau anders herum: Ausgleich und gerechte Verteilung zwischen allen Menschen erscheinen nicht möglich oder interessieren viele nicht (mehr).(8) Umso mehr stehen die Fragen des eigenen persönlichen Lebens im Vordergrund: Liebe, Karriere, eigenes Glück. Und wie gern würden wir auch noch erfahren, was uns nach dem Tod genau erwartet. Doch diese Fragen beantwortet der matthäische Gerichtstext nicht. Er interessiert sich nicht für das "Jenseits" im Sinne von individualisierten Leben-nach-dem-Tod-Spekulationen. Der Text betont die Gemeinschaftsbezogenheit der Menschen. Er hat große, kollektive Visionen: er lässt alle Völker (panta to ethne, V. 32) um den Thron des Weltenrichters antreten und unterzieht dann die Menschheit dem Ereignis des sich endgültig durchsetzenden Gotteswillens.


Was schlussendlich gültig sein wird

Im apokalyptischen Denken, von dem das frühe Christentum und natürlich mit ihm auch das Matthäusevangelium geprägt ist, und in den eschatologischen Aussagen geht es um Gott selbst. Es geht darum, dass Gott offenbar wird, Gottes Gerechtigkeit und Macht sich durchsetzen. Die letzten Worte Jesu vor seiner Passion wollen nicht in erster Linie einen Platz im Himmel garantieren, sondern unsere Hoffnung stärken auf die endgültige Durchsetzung des guten Gotteswillens, den end-gültigen Sieg der Liebe und Gerechtigkeit über das Unrecht in einer Welt, die Leid und Opfer hervorbringt. Die Zukunft, die die Gerichtstexte beschreiben, ist daher nicht der Zeitplan des jeweils menschlichen individuellen und biologischen Endes oder des Vergehens der Welt, sondern die Zukunft der Gottesbeziehung der Menschen und die Vollendung der gerechten Welt Gottes.

Die Gerichtstexte im NT sind sensibel dafür, dass diese Welt Gottes nicht beginnen kann und wird, wenn das Alte und vor allem die Beschädigungen und das Unrecht nicht aufgedeckt sind und einem Ausgleich zugeführt werden. An den Opfern unserer Erde vorbei ist die Vollendung der wartenden Schöpfung nicht zu haben. Und darum bedeutet Gericht für die einen Schrecken, für andere aber Hoffnung auf Heilung der Beschädigungen und Wiederherstellung der Würde aller.

Wie andere neutestamentliche Texte macht Mt 25,31ff damit auf den Zusammenhang zwischen dem Leben jetzt und seiner Vollendung bei Gott aufmerksam. Mit der Benennung konkreter Leidenssituationen von Menschen, die im Text viermal genannt werden und damit klar im Zentrum stehen, richtet dieser Endgerichtstext unseren Blick auf unsere eigene Gegenwart, auf unsere Verantwortung zur Gestaltung, Erneuerung und Heilung unserer Beziehungen auf dieser Erde: In der Rede über "die letzten Dinge" werden wir also mitten hinein in unsere Geschichte und Geschichten geworfen. In unserer globalisierten Welt werden da sicher die Herausforderungen, aber auch die Möglichkeiten zu helfen, immer größer: für die Lebensbedingungen vom Menschen und künftigen Generationen in der globalisierten Welt Sorge zu tragen, uns für die Bewahrung dieser Erde einzusetzen, nach Wegen gegen Gewalt und für mehr Frieden zu suchen, der zunehmenden Verwahrlosung von Menschen und Kindern und der fehlenden Achtsamkeit und Anwaltschaft für sie entgegen zu treten.


Doch eher Droh- als Frohbotschaft?

Mt 25 als Frohbotschaft zu hören ist für viele, die diesen oder ähnliche Texte eher als Drohbotschaft kennen gelernt haben, schwierig. Statt als Hoffnungstext für die Kleinen, die Opfer, und als Aufforderung zu einem Tun, das aus der Liebe geleitet ist, haben viele diesen Text als Drohbotschaft von der kommenden Abrechnung verinnerlicht.

Doch wie gezeigt geht es im Text wesentlich um die Hoffnung für die Menschheit vor dem solidarischen Menschensohn Jesus Christus in der Anknüpfung an alttestamentliche Erfahrungen des schöpferischen und zugleich parteilich an der Seite der Armen und Kleinen stehenden Gottes Israels. Dieser frohbotschaftliche Inhalt wird nochmals stärker sichtbar, wenn wir abschließend in die unmittelbare Textvorlage für den Endgerichtstext, in das Jesajabuch im 58. Kapitel schauen:

Ist das ein Fasten, wie ich es liebe, ein Tag, an dem man sich der Buße unterzieht: wenn man den Kopf hängen lässt, so wie eine Binse sich neigt, wenn man sich mit Sack und Asche bedeckt? Nennst du das ein Fasten und einen Tag, der dem Herrn gefällt?

Nein, das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen, an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden und dich deinen Verwandten nicht zu entziehen.

Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte und deine Wunden werden schnell vernarben. Deine Gerechtigkeit geht dir voran, die Herrlichkeit des Herrn folgt dir nach. Wenn du dann rufst, wird der Herr dir Antwort geben, und wenn du um Hilfe schreist, wird er sagen: Hier bin ich. Wenn du der Unterdrückung bei dir ein Ende machst, auf keinen mit dem Finger zeigst und niemand verleumdest, dem Hungrigen dein Brot reichst und den Darbenden satt machst, dann geht im Dunkel dein Licht auf und deine Finsternis wird hell wie der Mittag. Der Herr wird dich immer führen, auch im dürren Land macht er dich satt und stärkt deine Glieder. Du gleichst einem bewässerten Garten, einer Quelle, deren Wasser niemals versiegt. Deine Leute bauen die uralten Trümmerstätten wieder auf, die Grundmauern aus der Zeit vergangener Generationen stellst du wieder her. Man nennt dich den Maurer, der die Risse ausbessert, den, der die Ruinen wieder bewohnbar macht.
(Jes 58,5-12)

Im Buch Jesaja spricht dieser Text in der Zeit nach dem babylonischen Exil in eine Situation der Entsolidarisierung des judäischen Volkes hinein, eine Zeit des Streits um die Verteilung des Landes und der Ressourcen zum Leben. In dieser Zeit der Entsolidarisierung, in der die Schere zwischen Besitzenden und Besitzlosen, zwischen Armen und Reichen, zwischen im Land Gebliebenen und Rückkehrern immer mehr klaffte, fordert er auf, durch die Liebeswerke zu Solidarität und Gerechtigkeit zurückzukehren. Und dabei geschieht Unglaubliches: das Volk wird selbst zum bewässerten Paradiesgarten, seine eigenen Wunden dürfen heilen, neues Licht und Hoffnung brechen in dunkler Zeit auf.

Das Reich Gottes, das heißt die Welt, wie sie von Gott her gedacht ist, ist also ein erneuertes Leben in Gerechtigkeit, Liebe und Solidarität aller.

Diese Hoffnungsbotschaft der Rede vom Endgericht müssen wir mehr denn je unter uns Christinnen und Christen erneuern. Und wir müssen lernen, sie als Hoffnung und nicht als Drohung aus den biblischen Texten herauszulesen.


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Zusammenfassung

Der Gott des Alten Testaments ist der Gott des Neuen Testaments und der Gott Jesu: ein Gott der Liebe, der gegen Unterdrückung, Lebensverachtung und todbringende Mächte und damit für gelingendes Leben für alle steht.

Von seinen atl. Wurzeln her gelesen geht es in Mt 25,31-46 um die Hoffnung auf Gottes Gerechtigkeit, die nichts anderes ist als das Offenbarwerden Gottes selbst und die Vollendung seines guten Willens für die gesamte Schöpfung.


Literatur
Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht
(Bibel heute 4/2005)
Gottes Reich (BiKi 2/2007)
Ottmar Fuchs, Das Jüngste Gericht. Hoffnung auf Gerechtigkeit, Regensburg 2007

Dr. Bettina Eltrop ist wissenschaftliche Referentin im Katholischen Bibelwerk e.V. in Stuttgart.
E-Mail: eltrop@bibelwerk.de


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Anmerkungen

(1) Gekürzte und bearbeitete Fassung eines Vortrags auf dem Evangelischen Kirchentag 2007 "Lebendig, kräftig und schärfer" in Köln.

(2) Sie ist überdies nur von Matthäus überliefert, gehört also zum matthäischen Sondergut.

(3) Es wird in der Forschung diskutiert, ob der Text universal zu verstehen sei (alle Menschen werden nach ihrer Liebe zu den Nächsten, besonders den Bedürftigsten, gerichtet( oder ob es um ein Gericht nur über die Heidenvölker geht, da der Terminus ethnos bei Matthäus und in der LXX nur für nichtjüdische Völker verwendet werde. Eine dritte Lesart dieses Textes bezieht diesen Text eng auf die matthäische Gemeinde und macht dies außer an der Bedeutung des Wortes ethnos noch am Wort adelphoi / Brüder in Mt 25,40 fest, das im Matthäusevangelium fast immer Menschen bezeichnet, die an Jesus Christus glauben und die zur Gemeinde gehören.

M.E. spricht für die universelle Auslegung des Textes die ebensolche Ausrichtung des MtEv als Anspruch und Heilsbotschaft für Juden und Heiden (vgl. nur den Beginn Mt 1-2 oder den Schluss 28,16-20), sodass hier eine "Tora für die Völker", die universale Gültigkeit beansprucht, verkündet wird (vgl. Hubert Frankemölle, Jüdische Wurzeln christlicher Theologie (BBB 116), Bonn 1998, 281).

(4) Vgl. die Diskussion, die ausführlich bei Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18-25), EKK 1/3, Benzinger und Neukirchener Verlag, Zürich/Düsseldorf 1997, 533f, dargestellt ist.

(5) Wenn wir den bildreichen Ezechieltext lesen, fallen uns auch heute in der Zeit der Globalisierung sofort zahlreiche Beispiele ein, in denen Reiche auf Kosten der Armen leben, z.B. ungerechte Weltwirtschaftsbedingungen, die Ausbeutung von Menschen und Ressourcen u.a.

(6) Vgl. dies., Lydias ungeduldige Schwestern, Gütersloh 1994, 306f.

(7) Vgl. die Darlegungen bei Christine Globig, Die Sünde, das Böse: neue Aspekte feministischer Forschung, in: Evangelische Theologie 5/2503, 343f.

(8) Im Gegensatz zu den großen Basisbewegungen der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts.


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Quelle:
Bibel und Kirche - Organ der Katholischen Bibelwerke in Deutschland,
Österreich und der Schweiz, 63. Jahrgang, 4. Quartal 2008, 4/2008, Seite 219-225
Herausgeber: Dr. Franz-Josef Ortkemper, Dipl.-Theol. Dieter Bauer,
Österr. Kath. Bibelwerk Klosterneuburg
Redaktion: Dr. Bettina Eltrop, (eltrop@bibelwerk.de)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2009