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FRAGEN/024: Reformationshistoriker Volker Leppin - "Im Blick auf das Gemeinsame" (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 5/2012

"Im Blick auf das Gemeinsame"
Ein Gespräch mit dem Reformationshistoriker Volker Leppin

Die Fragen stellte Ulrich Ruh



Die Reformation war eine Zäsur in der Geschichte des abendländischen Christentums. Was bedeutet sie heute für die Kirchen, die sich auf sie berufen? Und inwiefern hält die Reformation auch ökumenisches Potenzial bereit? Darüber sprachen wir mit dem Tübinger evangelischen Kirchengeschichtler Volker Leppin.


HK: Herr Professor Leppin, die Vorbereitungen auf das große Reformationsjubiläum im Jahr 2017 laufen schon auf Hochtouren. Was gibt es bei diesem Anlass aus Ihrer Sicht als Reformationshistoriker eigentlich zu feiern?

Leppin: Es ist vor allem zu feiern, dass die Reformation einen eigenen Akzent für die Verkündigung des Evangeliums gebracht hat - damit steht auch das Gemeinsame der Konfessionen im Vordergrund. Gleichzeitig stehen wir konfessionell vor gewissen Schwierigkeiten. Ins katholische Gedächtnis hat sich ja ganz stark das Bewusstsein eingegraben, dass mit der Reformation die Spaltung der Kirche verbunden ist. Das kann für keine Seite ein Anlass zum Feiern sein, wohl aber die Tatsache, dass jemand neu auf das Evangelium hingewiesen und dabei Potenziale dieses Evangeliums entdeckt hat, die später auch von der katholischen Kirche und Theologie aufgenommen werden konnten.

HK: Das Reformationsjubiläum macht sich am Thesenanschlag in Wittenberg fest. Damit richtet sich der Blick auf Martin Luther und auch auf seine zentrale Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Glauben. Inwiefern ist sie das wichtigste Erbe der Reformation?

Leppin: Nach evangelischem Verständnis liegt hier ihr Zentrum, aber nicht in abschließendem Sinne: Wir können und müssen hier gleichzeitig nach Öffnungsmöglichkeiten suchen. Bei den Ablassthesen Luthers geht es ja zunächst um eine neue Sicht der Buße als Haltung, die das ganze Leben prägen soll. Das lässt sich heute von Katholiken und Protestanten gemeinsam theologisch aussprechen. Und beim Thema Rechtfertigung können wir seit der Gemeinsamen Erklärung von 1999 jedenfalls das "Allein aus Gnade" gemeinsam sagen. Es gibt nach wie vor noch Unterschiede im Blick auf die Implikationen dieser Grundaussage; aber es besteht eine gemeinsame Basis, auf der sie behandelt werden können.

HK: An welchem Punkt gingen rückblickend betrachtet denn die Wege während der Reformationszeit definitiv auseinander, trotz aller Versuche einer Verständigung? Warum wurde die Trennung der Kirche unausweichlich?

Leppin: Man kann nicht einen einzigen Punkt angeben; es handelte sich eher um verschiedene Etappen. Die erste Etappe war das Räderwerk, in das Luther mit seinen Thesen geraten ist. Er hatte es mit Positionen zu tun, die extrem papstorientiert waren. Als dann Johannes Eck in der Leipziger Disputation von 1519 Luther zu der Aussage brachte, nicht nur der Papst, sondern auch Konzilien könnten irren, war der Punkt erreicht, an dem Luther ein neues Kirchenverständnis beziehungsweise eine neue Kriterienbestimmung von Theologie brauchte. Die nächste Etappe war dann mit dem Bann gegen Luther erreicht. Er galt jetzt offiziell als Ketzer, verschwand aber nicht wie andere Häretiker in der Versenkung, sondern bekam Unterstützung durch Reichsstände. Damit erhielt die ganze Sache eine politische Dimension. Die danach noch unternommenen Bemühungen um eine Verständigung vor allem in den Religionsgesprächen der Jahre nach 1540 scheiterten, weil ihre Protagonisten auf beiden Seiten nicht die Hauptströmung repräsentierten.


HK: Zur Entstehung einer neuen Kirche beziehungsweise Konfession konnte es eigentlich nur kommen, weil Reichsstädte und Reichsfürsten sich die reformatorischen Forderungen zueigen machten und damit auch eigene politische Interessen verfolgten. Zeigt sich darin nicht ein Grundproblem der Reformation?

Leppin: Im Grunde genommen entstand die neue Kirche dadurch, dass die bischöfliche Jurisdiktion nicht mehr anerkannt wurde. Das war 1523 bei der Zürcher Disputation der Fall und dann ab 1526 in Hessen und in Sachsen, wo die Landesherren selber Visitationen durchgeführt haben. Die von Ihnen angedeuteten Probleme sind in meinen Augen weniger ein Problem der Reformation selbst als bestimmter längerfristiger Entwicklungen. Unbestreitbar gab es im Protestantismus immer wieder die Neigung zu einer gewissen Obrigkeitshörigkeit. Das lässt sich noch an den Auseinandersetzungen der Bismarckzeit zeigen, als die protestantische Seite am Kaiserreich orientiert war, während man der katholischen Seite vorhielt, sie sei "ultramontan". Das war aber in der Reformationszeit so nicht beabsichtigt oder absehbar und in den damaligen Strukturen auch nicht angelegt. Damals ging es bei der Übertragung bischöflicher Verantwortung an die Landesherren, wie noch die Confessio Augustana von 1530 zeigt, um eine Art Notkonstruktion, die sich dann allerdings verfestigt hat.

HK: Die Reformation war insgesamt ein sehr vielfältiger Aufbruch. Von Anfang an bestanden zwischen einzelnen Gruppen und Exponenten erhebliche Spannungen; man bekämpfte sich sozusagen bis aufs Messer. Wie verhält sich dieser unkontrollierte Aufbruch zu dem, was später als Konfessionskirchen entstanden ist?

Leppin: Es gab zweifellos Disziplinierungs- und Ausschlussprozesse, in denen etwa auch Luthers Linie mit Hilfe der Obrigkeit durchgesetzt wurde. Denken Sie daran, dass Luther 1523 schrieb, die Gemeinde habe das Recht, über die Lehre zu entscheiden und die Pfarrer zu wählen, und dass aber dann nach 1526 in Sachsen die Visitation der Gemeinden obrigkeitlich geregelt wurde. Gestalten wie Andreas Karlstadt und Thomas Müntzer wurden ausgegrenzt, wobei das im Fall von Müntzer eher nachzuvollziehen ist, weil seine Predigt zu Gewalt geführt hat. Demgegenüber war Karlstadt vielleicht so etwas wie ein Utopist, aber nicht in dem Sinn gewaltorientiert. Der frühere Leipziger Kirchenhistoriker Heinz Lau hat im Blick auf diese Phase vom Wildwuchs der Reformation gesprochen. Dieser Wildwuchs ist in der Folgezeit beschnitten worden.

HK: War denn die reformatorische Bewegung als Ganze genommen eine verständliche, notwendige oder sogar zwangsläufige Reaktion auf den Zustand von Kirche und Religion im Europa des späten Mittelalters, vollzog sie sich sozusagen in einer nachvollziehbaren historischen Logik?

Leppin: Die Kategorie "zwangsläufig" verbietet sich für einen Historiker. Das späte Mittelalter war eine Epoche enormer Spannungen. In der früheren Geschichtsschreibung herrschte das Bild vor, wonach alles immer schlimmer oder alles immer intensiver wurde, und dann im Kontrast dazu oder aber in Fortsetzung dieser Entwicklung Luther auf den Plan trat. Im Grunde genommen gilt weder das eine noch das andere Modell. In Wirklichkeit verhielt es sich so, dass es auf der einen Seite starke Tendenzen der Zentralisierung auf das Papsttum gab, auf der anderen Seite deutliche Tendenzen zur Dezentralisierung in der Kirche. Neben einer stark sakramentalen Ausrichtung der Frömmigkeit bestand eine sehr verinnerlichte Frömmigkeit. Diese Diskrepanzen des späten Mittelalters erhielten einen Schub, eine Zentrierung durch die Rechtfertigungslehre. Plötzlich wusste man, worum man sich nicht mehr dem Papst unterwerfen wollte, warum die innere Frömmigkeit entscheidend war. In Fortentwicklung bestimmter Strömungen des späten Mittelalters kam es dann in der Reformation zum Konflikt.


HK: Eine Kirche, die ihre Unterscheidungsmerkmale und damit ein Stück weit ihre Identität aus der Reformation gewinnt, kann sich aber schwer als Ergebnis einer kontingenten Entwicklung auf dem Hintergrund spätmittelalterlicher Spannungen verstehen, sondern braucht so etwas wie einen positiven Gründungsmythos. Ist Reformation als Mythos in diesem Sinn also zu vermeiden?

Leppin: Die evangelische Theologie hat sich seit dem 18. Jahrhundert so dezidiert auf die Seite der Aufklärung gestellt, dass wir heute an einem historisch korrekten Bild der Reformation arbeiten sollten und auch müssen. Dazu gehört die enorme Vielfalt der reformatorischen Entwicklung und ihres Hintergrunds. Innerhalb dieser Vielfalt hat es dann aber normative Prozesse gegeben, sind Bekenntnisschriften entstanden. Sie bleiben normativ; auf die Bekenntnisschriften werden evangelische Pfarrer und Pfarrerinnen auch heute ordiniert. Insofern kann man schon historische Rekonstruktion und normative Elemente unterscheiden.

HK: Und was ist dann mit dem Reformationsmythos?

Leppin: Den Reformationsmythos braucht man vielleicht für touristische Zwecke, vielleicht auch für medienwirksame Auftritte. Ich hoffe, wir brauchen keinen solchen Mythos für das Selbstverständnis der evangelischen Kirche. Aber dass Mythenbildungen sehr lebendig sind, hat vor einigen Jahren nicht zuletzt die Diskussion um den Thesenanschlag von 1517 gezeigt. Ich selbst bin der Auffassung, es spricht mehr dafür, dass der Thesenanschlag nicht stattgefunden hat. Aber es war doch überraschend, wie bis in die Leserbriefspalten der Tagespresse hinein der Mythos des Thesenanschlags als Tatsache verteidigt wurde.

HK: Dass es ohne Martin Luther die Reformation in Deutschland nicht gegeben hätte, ist wohl nicht zu bestreiten. Ein Teil der reformatorischen Kirche führt ihn sogar bewusst in ihrem Namen. Aber inwiefern war er wirklich die prägende Gestalt?

Leppin: In der Anfangszeit der Reformation sind Menschen, die ihre Reformanliegen zunächst eigenständig entwickelt haben, auf Luther gestoßen und haben dadurch Mut gefasst, etwa ihre Kirchenkritik schärfer zu formulieren. Insofern war er auch für solche Leute notwendig im Blick auf ihr Auftreten in der Öffentlichkeit. Theologisch prägend war er in seinem unmittelbaren Wirkungsbereich Sachsen und dann darüber hinaus in der Gemeinschaft, die sich im Zusammenhang mit dem Augsburger Reichstag von 1530 und dem späteren Schmalkaldischen Bund bildete. Allerdings sind neben ihn auch andere theologisch prägende Gestalten wie Philipp Melanchthon getreten. Eine lutherische Kirche, die sich allein auf Luther berufen wollte, würde auf jeden Fall weder der eigenen Tradition gerecht, noch dem Selbstverständnis Martin Luthers, der ja von sich gesagt hat, man solle sich nicht nach ihm benennen, er sei ein armer und stinkender Madensack.

HK: Martin Luther hat ja auch einige ziemlich problematische Züge, die heute auf keinen Fall mehr rezipiert werden können ...

Leppin: Sie denken vermutlich an seine Äußerungen über die Juden oder auch an seine Polemik gegen den Papst als Antichrist. Zum Glück gibt es im Blick auf die Judenschriften klare theologische und kirchliche Stellungnahmen, dass man hier auf keinen Fall Luther folgen darf. Beim Thema Papst als Antichrist sind die Äußerungen leider nicht alle so klar, wie ich es mir wünschen würde, sondern es werden verschiedene Positionen vertreten. Ich bin dezidiert der Überzeugung, dass es aus inhaltlichen Gründen nicht angeht, den Papst als Antichrist zu bezeichnen, obwohl diese Bezeichnung in einer Bekenntnisschrift steht. Sich nicht davon zu distanzieren, stünde in Spannung zum erreichten Stand der ökumenischen Annäherung. Die Kritik an bestimmten Formen des Papstamts ist in den evangelischen Kirchen allerdings geblieben und hat an bestimmten Stellen durch die Entwicklung des Papsttums nach der Reformation auch noch Nahrung bekommen. Nicht zuletzt das Unfehlbarkeitsdogma des Ersten Vatikanums ist auf evangelischer Seite in keiner Weise akzeptabel; aber die Vorstellung vom Papst als Antichrist kann auf keinen Fall fortgeführt werden, erst recht nicht Luthers Äußerungen über die Juden.

"Das Schriftprinzip ist in Bewegung geraten"

HK: Sie erwähnten schon die Zäsur der Aufklärung. Ernst Troeltsch hat seinerzeit scharf zwischen Protestantismus nach der Aufklärung als dem Neuprotestantismus und dem Altprotestantismus unterschieden, wobei er letzteren in Kontinuität zur mittelalterlichen Ordnung von Kirche, Staat und Kultur sah. Stehen die reformatorischen Kirchen von heute überhaupt in substanzieller Kontinuität zum Erbe der Reformation?

Leppin: Wandlungen gibt es bei allen historischen Gebilden, nicht nur bei dem, was wir als reformatorisch oder protestantisch verstehen. Auch der Begriff des Katholischen hat sich ja in den vergangenen 2000 Jahren gewandelt, sogar der Begriff des Christlichen. In der Geschichte der reformatorischen Kirchen gibt es zweifellos eine deutliche Zäsur, die sich in erster Linie am Schriftverständnis festmachen lässt. Die Rechtfertigungslehre kann ohne Weiteres auch unter aufgeklärten Bedingungen fortgeführt werden. Dagegen ist das Schriftprinzip durch Einsichten, wie sie ja nicht zuletzt von einem Katholiken wie Richard Simon entwickelt wurden, in Bewegung geraten - die vor allem im reformatorischen Christentum hermeneutisch aufgearbeitet wurden.

HK: Wie einschneidend der Bruch der Aufklärung gewesen ist, lässt sich ja daran ablesen, dass vieles, was heute den Stolz des reformatorischen Christentums ausmacht, seien es die Lieder von Paul Gerhardt oder die Kirchenmusik von Johann Sebastian Bach, damals von der Bildfläche verschwunden war und erst wieder in einer Restaurationsbewegung angeeignet werden musste. Wird das genügend gesehen?

Leppin: Wiederentdeckung bedeutet ja, dass man dann doch eine Brücke über eine Zeit des Verlusts geschlagen hat. Das 19. Jahrhundert hat insgesamt eine starke Rückbesinnung auf konfessionelle Identitäten gebracht; umgekehrt gab es im 18. Jahrhundert den Versuch, das Erbe der Reformation unter den neuen Bedingungen der Aufklärung zu formulieren, es zu transformieren. Auch Lessing hat sich ja in seiner Auseinandersetzung mit dem Hauptpastor Goeze auf Luther berufen: Wie es seinerzeit jemanden gebraucht habe, der die Menschen vom Joch des Papstes befreit habe, so müsse jetzt einer kommen, der die Menschen vom Joch des Buchstabens erlöse.

HK: Die Jahre bis zum Reformationsjubiläum sind jeweils einem Element, der kulturellen Wirkungsgeschichte der Reformation, gewidmet. Wo ist ungeachtet aller Spannungen und Brüche das Erbe der Reformation noch am ehesten zu spüren?

Leppin: Hier wäre zunächst das neue Verständnis des Staates zu nennen. Die teilweise problematisch rezipierte Zwei-Reiche- beziehungsweise Zwei-Regimente-Lehre Luthers hat dazu geführt, dass weltliches Regiment von religiösen Vorgaben freigesetzt wurde. Das ist nach einer Brechung durch die Französische Revolution neu formuliert worden und gehört zu den Grundbestandteilen unseres heutigen Staatsverständnisses. Für den deutschen kulturellen Raum hat die Reformation auch daneben entscheidend dazu beigetragen, dass ein nicht von vornherein klerikaler Gelehrtenstand entstanden ist. Natürlich gibt es durch die Herkunft vieler Vertreter dieser Gruppe aus dem protestantischen Pfarrhaus eine soziologische Nähe zu einem eigenen geistlichen Stand. Aber das ändert nichts an der Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung eines verheirateten, bürgerlichen Gelehrtentums. Auch der von Ihnen erwähnte Johann Sebastian Bach gehört in dieses kulturelle Milieu.

HK: In Deutschland hat sich nach der Reformation auch ein im europäischen Vergleich sehr spezifisch geprägtes Nebeneinander der Konfessionen entwickelt ...

Leppin: Es ist eine indirekte Folge der Reformation, dass wir in Deutschland sehr schnell lernen mussten, damit umzugehen, dass man nicht unbedingt Nachbarn hat, die derselben Konfession angehören. In manchen Reichsstädten hatte man es nach dem Westfälischen Frieden offiziell sogar mit drei Konfessionen zu tun, Katholiken, Lutheranern und Reformierten. Man musste sich daran gewöhnen, dass diese Konfessionen unterschiedlich lebten und unterschiedlichen Normierungen verpflichtet waren.

"Man sollte Kirche der Freiheit nicht in einem ausschließlichen Sinn verstehen"

HK: Die katholische Kirche und die reformatorischen Kirchen bewerten konfessionelle Vielfalt nach wie vor unterschiedlich. Für die eine Seite sind die anderen Konfessionen letztlich zur katholischen Fülle unterwegs, die in der katholischen Kirche nach einer berühmt gewordenen Aussage des Zweiten Vatikanum subsistiert. Für die andere Seite sind die verschiedenen Konfessionen verschiedene Ausprägungen der Kirche Jesu Christi. Wie kommt man bei diesem ökumenischen Grundproblem weiter?

Leppin: Ich würde mir wünschen, dass wir im ökumenischen Bereich immer mehr dazu kommen, gegenseitig die Vielfalt auch als eine Bereicherung wahrzunehmen. Die katholische Kirche hat sich im Zweiten Vatikanischen Konzil bewusst für die Mitarbeit in der Ökumenischen Bewegung entschieden und von einer einfachen Gleichsetzung zwischen Kirche Jesu Christi und der römisch-katholischen Kirche Abschied genommen. Wenn man, anders als es in "Dominus Iesus" geschehen ist, dieses Potenzial als Entwicklungspotenzial aufnimmt, dann sind weitere ökumenische Schritte vorstellbar. Vieles von dem, was das Zweite Vatikanum formuliert hat, ist doch auch eine Spätfolge der Begegnung mit dem bereichernden Potenzial der Reformation.

HK: Nun hat die Evangelische Kirche in Deutschland ihren Reformprozess programmatisch mit "Kirche der Freiheit" überschrieben, was auf katholischer Seite teilweise mit Kopfschütteln kommentiert wurde, nach dem Motto: Auch wir sind eine Kirche der Freiheit. Ein Streit um Kaisers Bart?

Leppin: Das Entscheidende an der Reformation war das Bekenntnis zum Evangelium, und das Evangelium ist ein Evangelium der Freiheit. Das hat auch Konsequenzen für das Verständnis von Kirche. Man sollte aber Kirche der Freiheit nicht in einem ausschließenden Sinn verstehen. Insofern gilt diese Bezeichnung natürlich auch für die katholische Kirche.

HK: Aber gibt es nicht doch auch bleibende Herausforderungen der Reformation und der sich auf sie berufenden Kirchen an die katholische Kirche?

Leppin: Ich spreche lieber positiv über das, was evangelischen Glauben und evangelische Kirche ausmacht als über Defizite der römisch-katholischen Seite. Blickt man aber auf diese, so geht es hinsichtlich der Kirchenstruktur um die Umsetzung des allgemeinen Priestertums, beziehungsweise in katholischer Terminologie des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen. Für evangelische Christinnen und Christen ist schwer nachvollziehbar, in welcher Weise in der katholischen Kirche Entscheidungen gefällt werden. Zwar hat die evangelische Kirche von Ansätzen in der Reformationszeit abgesehen das synodale Prinzip erst im 19. Jahrhundert eingeführt. Aber es macht doch in gewisser Weise Ernst mit dem Gedanken, dass Kirche von den Gemeinden aus konstituiert wird, und das ist sicher ein Gewinn für die Kirche. Von der Gemeinde oder vom hierarchischen Amt her denken - das ist immer noch ein unbewältigter Differenzpunkt zwischen den Konfessionen.

HK: Wären die Vermittlungsversuche der Reformationszeit zwischen den gerade erst entstehenden Konfessionen so etwas wie ein Modell, das für das heutige ökumenische Gespräch Vorbildcharakter haben könnte?

Leppin: Sicher nur in sehr begrenztem Maß. Heute gibt es ja Selbstverständlichkeiten, die sich nicht allein aus dem 16. Jahrhundert erklären, die aber Teil der Realität sind. Ich denke dabei beispielsweise an die Ordination von Frauen in den reformatorischen Kirchen. Als evangelischer Christ kann ich mir beispielsweise keine ökumenische Verständigung vorstellen, die in irgendeiner Weise den Verzicht auf die Frauenordination verlangen würde.

HK: Es ist ja auch eine Frau zur "Lutherbotschafterin" für das Reformationsjubiläum und seine Vorbereitung ernannt worden. Besteht nicht doch die Gefahr, dass die evangelische Kirche 2017 vor allem sich selbst feiert und ihre reformatorische Identität so stark herausstellt, dass es ökumenisch eher problematisch wird?

Leppin: Diese Gefahr besteht durchaus, aber sie ist zum Glück auch erkannt. Frau Käßmann als Lutherbotschafterin verfügt über reiche ökumenische Erfahrungen und wird diese sicher auch in ihre neue Aufgabe einbringen. Es gibt ja durchaus Identitätsmomente, die wir als evangelische Christen fröhlich und selbstbewusst feiern können, so wie wir auch der katholischen Seite gönnen, dass sie 2013 an das 1563 zu Ende gegangene Konzil von Trient erinnert oder 2015 den Abschluss des Zweiten Vatikanums vor 50 Jahren feiert. Es braucht eben auch Gelegenheiten, an denen die jeweilige Kirche sich selbst vergewissert. Es kommt allerdings darauf an, dass solche Jubiläen im Blick auf das Gemeinsame wie auf die ökumenischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte begangen werden. Wenn wir uns auf Letzteres zubewegen, kann aus dem Reformationsjubiläum ein wirkliches Christenfest werden.

HK: Und wo sehen Sie die besondere Aufgabe Ihres Fachs, der Kirchengeschichte, im Zusammenhang mit dem Jubiläumsjahr 2017?

Leppin: Sie muss wachsam sein, damit man sich nicht in Mythen verliert, und sie kann daran erinnern, dass die Geschichte eine große Vielfalt an Möglichkeiten bereithält und dieses Potenzial fruchtbar zu machen versuchen. Natürlich lassen sich aus historischen Entwicklungen nicht direkt Normen ableiten. Aber der deutliche Hinweis auf der Vielfalt ist auch in ökumenischer Hinsicht wichtig.


Volker Leppin (geb. 1966) ist seit 2010 Professor für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Nach Promotion 1994 und Habilitation 1997 in Heidelberg war er von 2000 bis 2010 Professor für Kirchengeschichte in Jena. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Spätmittelalter und Reformation, beispielsweise: Martin Luther, Darmstadt 2006.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 5, Mai 2012, S. 231-235
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. August 2012