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FRAGEN/027: Leonardo Boff im Interview zu Papst Franziskus und dessen Zukunft (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 19. März 2013

Religion: 'Es geht nicht um Bergoglio und seine Vergangenheit, sondern um Franziskus und dessen Zukunft' - Leonardo Boff im Interview

von Fabiana Frayssinet


Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Leonardo Boff
Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Río de Janeiro, 19. März (IPS) - Für den brasilianischen Theologen Leonardo Boff ist Franziskus mehr als nur ein Name. Er stehe für ein Projekt der Kirche der Armen, die dem Volk nahe sei und die Natur liebe, die immer weiter zerstört werde, betont Boff im IPS-Interview. "Mit Papst Franziskus tritt die Kirche in das dritte Jahrtausend ein: weg von den Palästen und hin zum Volk."

Boff hält die Anschuldigungen gegen den zum neuen Papst gewählten Argentinier Jorge Bergoglio, dieser habe mit der argentinischen Junta der 70er und 80er Jahre zusammengearbeitet, für unglaubwürdig. Stattdessen beruft er sich auf Aussagen bekannter Menschenrechtler, die von Bergoglios Unschuld ausgehen.

Der Befreiungstheologe Boff ist zuversichtlich, dass Franziskus dem Jesuitenorden alle Ehre machen und sich "energisch und radikal" gegen die Pädophilie-Epidemie und die Korruption wenden wird, die zu einer Plage für die katholische Kirche geworden seien.

IPS: Im Zusammenhang mit der Papstwahl wird immer wieder von 'Dezentralisierung' gesprochen. Was ist damit gemeint?

Leonardo Boff: Die zentrale Katholische Kirche, also der Vatikan und die europäischen Kirchen, fühlen sich durch die Skandale in ihren eigenen Reihen gedemütigt. Deshalb haben sie jemanden von außerhalb gewählt, der einen anderen Geist vertritt und einen anderen Führungsstil hat.

In der sogenannten Dritten Welt leben 60 Prozent aller Katholiken. Es war an der Zeit, dass diese Kirchen endlich einmal Gehör fanden. Sie sind nicht mehr Spiegel der europäischen Kirchen, sondern haben ihr jeweils eigenes Gesicht gefunden.

Der Name Franziskus ist für mich mehr als nur ein Name. Er steht für ein Projekt der Kirche der Armen, die dem Volk nahe ist und die Natur liebt, die immer weiter zerstört wird. Sankt Franziskus ist ein Archetyp für diese Art der Kirche. Mit Papst Franziskus tritt die Kirche in das dritte Jahrtausend ein: weg von den Palästen und hin zum Volk.

IPS: Warum haben sich die Kardinäle für Bergoglio und nicht für den Brasilianer Odilo Scherer entschieden?

Boff: Scherer war der bevorzugte Kandidat des Vatikans. Er hat dort gearbeitet und sich dementsprechend Freunde gemacht. Aber er hat öffentlich die Römische Kurie verteidigt und die Vatikanbank. Besonders letztere ist schon länger in der Kritik, auch bei vielen Kardinälen. Das hat Scherer quasi disqualifiziert.

Er wäre auch nicht gut gewesen für die Kirche: Er ist konservativ und autoritär. Er wäre ein Benedikt XVII. geworden.

IPS: Insbesondere in Argentinien hat die Wahl Bergoglios eine heftige Kontroverse um seine Vergangenheit ausgelöst. Er soll in die Entführung zweier Priester während der argentinischen Militärdiktatur verwickelt gewesen sein.

Boff: Die Katholische Kirche kann leider nicht von sich behaupten, sich besonders gegen den Staatsterrorismus hervorgetan zu haben. Aber es gab unter den Kirchenfunktionären auch Kritiker des Regimes, darunter die Bischöfe Enrique Angelleli, der bei einem Unfall ums Leben gekommen ist, und Jorge Novak, Jaime De Nevares sowie Jerónimo Podestá.

Was Bergoglio angeht, da glaube ich dem Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel und Graciela Fernández Meijide, die der Nationalen Kommission zur Untersuchung der Fälle verschwundener Personen (Conadep) angehört hat. Ihnen zufolge ist der Name Bergoglio nie in irgendwelchen Anzeigen, Anklageschriften oder anderen Dokumenten aufgetaucht, die auf seine Komplizenschaft hingewiesen hätten.

Im Gegenteil: Er hat viele Weggefährten gerettet, indem er sie im 'Colegio Máximo de San Miguel' versteckt hat. Ich kann dies auch schon deshalb nicht glauben, weil es seinem Charakter widerspricht. Er ist stark und gleichzeitig zart. In den vergangenen Jahren hat er immer wieder die sozialen Ungerechtigkeiten in Argentinien verurteilt und auf Gerechtigkeit beharrt.

Letztendlich geht es nicht um Bergoglio und seine Vergangenheit, sondern um Franziskus und dessen Zukunft.

IPS: Warum haben Sie sich in ihren ersten öffentlichen Äußerungen zur Papstwahl nicht mit diesem Thema befasst?

Boff: Es wird viel geredet und es gibt viele unterschiedliche Versionen der Geschichte. Ich rede nicht gerne über Dinge, über die ich mir noch kein rechtes Bild gemacht habe. Stattdessen frage ich mich: Welche Interessen vertreten wohl die verschiedenen Akteure, die diese oder jene Version verbreiten? Warum sprechen sie darüber, aber nicht über die Krise der Kirche und die Krise der Menschheit insgesamt?

Sicherlich hätte die Kirche in Argentinien eine klare Position gegenüber der Militärdiktatur einnehmen sollen. Aber als Staatsreligion hatte sie es damit schwer.

IPS: Ich Auslassung nicht auch eine Sünde?

Boff: Es geht nicht um Sünde - das ist ein Thema der Religionswissenschaft. Aber wir stehen hier vor einer politischen Frage. Auf welcher Seite steht ein Mensch? Auf der Seite der Armen, die Ungerechtigkeiten erfahren? Oder auf der Seite des Status quo? 1990 gab es lediglich vier Prozent Armut in Argentinien. Heute sind es 33 Prozent. Bergoglio hat sich auf die Seite der Betroffenen gestellt und lebt dafür, die sozialen Ungerechtigkeiten anzuprangern.

Bergoglio verzichtet auf Machtsymbolik und Privilegien. Er zahlt seine Rechnungen im Hotel selbst, er fährt in einem normalen Auto und reist heimlich nach Rom, um seinen Freund, den Kardinal Jorge Mejía, zu besuchen, der krank im Bett liegt. Solche Gesten verstehen die Menschen.

So wie die Kirche jetzt ist, kann sie nicht bleiben. Was die Pädophilie in der Katholischen Kirche angeht, bin ich sicher, dass er sich eher wie ein Jesuit denn wie ein Franziskaner verhalten wird und sich energisch und radikal dagegen wenden wird.

IPS: Mit der argentinischen Regierung hat sich Bergoglio nicht besonders gut gestellt: In der Abschaffung der Strafe für Abtreibungen und dem Gesetz zur Homo-Ehe habe "der Teufel seine Hand im Spiel", ließ er verlauten. Wird er als Papst diese rigide Linie fortführen?

Boff: Diese Themen sind tabu im Vatikan. Allzu weit kann sich niemand von der offiziellen Linie entfernen. Ich hoffe, dass Franziskus eine Debatte über diese Themen anstößt, aber ich glaube nicht, dass die Kirche diesbezüglich ihre Position von Grund auf ändern wird. (Ende/IPS/jt/2013)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2013