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FRAGEN/028: Befreiungstheologe Frei Betto - "Die Katholische Kirche ist in Angst erstarrt" (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. Juli 2013

Brasilien:
"Die Katholische Kirche ist in Angst erstarrt" - Interview mit dem Befreiungstheologen Frei Betto

von Fabiola Ortiz


Bild: © Fabiola Ortiz/IPS

Der Befreiungstheologe Frei Betto
Bild: © Fabiola Ortiz/IPS

Rio de Janeiro, 4. Juli (IPS) - Nach Ansicht des brasilianischen Befreiungstheologen Frei Betto leidet die Katholische Kirche unter "Erstarrung" und der Angst, den Problemen des postmodernen Zeitalters ins Auge zu sehen. Jedoch traut er dem neuen Papst Franziskus, dem ersten Lateinamerikaner in diesem Amt, die Kraft und Fähigkeit zu, die Kirche zu erneuern.

Im Interview mit IPS äußerte Carlos Alberto Libânio Christo, wie Frei Betto eigentlich heißt, die Hoffnung, dass Franziskus bei seinem Brasilien-Besuch vom 22. bis 29. Juli die jungen Menschen dazu aufrufen wird, sich für die Gesellschaft einzusetzen und an Utopien zu glauben.

Jorge Maria Bergoglio war Erzbischof von Buenos Aires, bevor er im März zum katholischen Kirchenoberhaupt gewählt wurde. Auf seiner ersten Auslandsreise wird er am 28. Weltjugendtag vom 23. bis 28. Juli in Rio de Janeiro teilnehmen.

Der Dominikanerpater Frei Betto war Sonderberater des ehemaligen linken Staatspräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva in dessen ersten Amtsjahren ab 2003. Er forderte die brasilianischen Behörden damals auf, mit den sozialen Bewegungen im Land auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln. Der Theologe, der bereits mehr als 50 Bücher veröffentlicht und Preise erhalten hat, brachte kürzlich den Titel 'O que a vida me ensinou' (Was das Leben mich lehrte) auf den Markt. Es folgen Auszüge aus dem IPS-Gespräch.

IPS: Welche Rolle spielte Ihrer Ansicht nach die Befreiungstheologie für den Katholizismus in Lateinamerika?

Frei Betto: Ich denke nicht, dass man davon in der Vergangenheitsform sprechen sollte. Die Befreiungstheologie spielt immer noch eine wichtige Rolle in der lateinamerikanischen Katholischen Kirche, vor allem in den christlichen Basisgemeinden, in Bibelgruppen und bei der Nationalen Konferenz über Glauben und Politik in Brasilia, die im November in Brasilia stattfinden wird.

Außerdem glaube ich, dass diese Denkschule den päpstlichen Diskurs im Zusammenhang mit sozialen Fragen verändert hat. In der jüngeren Vergangenheit sind die Päpste in dieser Hinsicht energischer aufgetreten. Das zeigte sich an der Kritik, die Johannes Paul II. und Benedikt XVI. am Neoliberalismus übten und an ihren Reisen nach Kuba.

IPS: Wie deuten Sie Benedikts Rücktritt und die Wahl des ersten Lateinamerikaners in das Papstamt?

Frei Betto: Der Rücktritt von Benedikt XVI. war ein Akt evangelikaler Demut. Kein anderer Papst hat seit Jahrhunderten solch einen Schritt getan. Ich setze große Hoffnungen in das Pontifikat von Franziskus, weil er ein Lateinamerikaner ist. Er ist offen gegenüber sozialen Fragen und vor allem dazu entschlossen, die Rechte der Armen zu verteidigen.

Die Tatsache, dass er den Namen des Heiligen Franz von Assisi angenommen hat, sagt viel aus. Der beliebteste Heilige in der Geschichte des Christentums wurde für seine evangelikale Armut bewundert. Ich freue mich auf die Reden, die der Papst auf dem Weltjugendtag halten wird.

IPS: Meinen Sie, dass eine Reform der Katholischen Kirche möglich ist? Welches sind die größten Herausforderungen?

Frei Betto: Der Papst wird in der Katholischen Kirche eine Debatte über dringende Fragen und solche beginnen müssen, die lange auf Eis lagen: ein Ende des Zölibats, die Priesterweihe von Frauen, die Verwendung von Kondomen, Biogenetik und die Reform der Römischen Kurie.

IPS: Am Weltjugendtag tritt Franziskus zum ersten Mal international auf. Was erwarten Sie von dem Ereignis?

Frei Betto: Ich hoffe, dass der Jugendtag durch die Worte und Gesten des Papstes jungen Menschen Hoffnung bringen wird und sie dazu ermutigen wird, sich für eine gerechte, freie und friedvolle Welt einzusetzen. Je mehr sie Utopien anhängen, umso weniger werden sie Drogen verfallen, wie damals meine Generation in den sechziger Jahren. Je weniger Utopien in unserer 'global kolonisierten' Welt zählen, umso größer die Drogenprobleme. Junge Menschen haben heute keine Träume.

IPS: Wird der Weltjugendtag eine Aufforderung an die Kirche sein, sich selbst zu erneuern, um dem Verlust oder der Apathie der Gläubigen entgegenzuwirken?

Frei Betto: Die Katholische Kirche ist erstarrt, weil sie Angst davor hat, den Problemen des postmodernen Zeitalters ins Auge zu sehen. Etwa den Themen, die mit Glauben und Wissenschaft zusammenhängen, mit sozialer Ungleichheit, neuen sexuellen Orientierungen und den Beziehungen zwischen den Geschlechtern.

IPS: Sie standen Lula sehr nahe. Wie sehen Sie von diesem Standpunkt aus seine Nachfolgerin Dilma Rousseff? Hat die regierende Arbeitspartei PT ihre Richtung verändert?

Frei Betto: Ich bedauere es, dass die PT ihr Projekt für Brasilien in ein Projekt der Macht verwandelt hat. Dennoch bin ich überzeugt, dass die Regierungen von Lula und Dilma die besten sind, die wir seit Gründung der Republik gehabt haben. Notwendig sind Strukturreformen - wie eine Landreform und politische Reformen - sowie eine bessere Kommunikation mit der Basis der Partei, den sozialen Bewegungen.

IPS: Wie geht die Präsidentin Ihrer Ansicht nach mit den zahlreichen Konflikten und Sozialprotesten in den größten Städten um?

Frei Betto: Sie zeigt einen Mangel an Entschlusskraft, Scheu und eine Furcht, die erzreaktionären Mitglieder ihrer Partei und die Barone der Agrarwirtschaft zu verärgern. Die PT hat sich von ihrer sozialen Basis entfernt und läuft jetzt Gefahr, ihr zum Opfer zu fallen. Der einzige Ausweg für die Regierung besteht in einem Dialog auf Augenhöhe mit den Sozialbewegungen - ohne leere Versprechungen. Die derzeitigen Proteste bestätigen, dass unsere Regierung weit entfernt von den sozialen Bewegungen und der organisierten Jugend ist, vor allem in São Paulo. (Ende/IPS/ck/2013)


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http://www.ipsnews.net/2013/06/qa-pope-francis-will-have-to-open-up-church-debate-on-burning-issues/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juli 2013