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GESCHICHTE/025: Katholische Kirche im Dritten Reich (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion 1/2007

Kirche vor Gericht
Eine Bilanz zum Thema katholische Kirche im Dritten Reich

Von Karl-Joseph Hummel


Seit 1945 stellt sich innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche die Frage nach der Bewertung ihres Verhaltens im Dritten Reich. Dabei herrschte ein moralisch dominierter Diskurs vor, immer wieder wurde der Kirche öffentlichkeitswirksam Versagen gegenüber dem nationalsozialistischen Unrechtsregime vorgeworfen. Es lohnt sich, die verschiedenen Etappen dieses Prozesses nachzuzeichnen.


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Wie kann man erklären, dass der der katholischen Kirche zugemessene Schuldanteil am Dritten Reich seit 1945 stetig gewachsen ist? In der weltweiten Debatte konkurrieren zwei grundsätzlich verschiedene Zugangsweisen. Der Wissenschaftler, der der Vergangenheit zu ihrem Recht verhelfen und erforschen will, wie es tatsächlich gewesen ist, trifft auf die von geschichtspolitischen Interessen geleiteten Versuche, die Deutungshoheit über den Umgang mit dieser Vergangenheit zu erreichen. Die Feststellung, dass Forschungsergebnisse oft nur sehr zögerlich, nur teilweise und manchmal auch gar nicht im allgemeinen Geschichtsbild wiederkehren, kann vor diesem Hintergrund nicht überraschen.

Bereits für die Ausgangssituation 1945 kann die zeitgeschichtliche Forschung vier Thesen quellenmäßig belegen, die in das populäre Geschichtsbild keinen Eingang gefunden haben beziehungsweise hartnäckig bestritten werden.

Erstens: Es gab eine intensive interne katholische Schulddiskussion, die vereinzelt schon 1933/34 und 1938 geführt wurde und erst in den späten vierziger Jahren auslief. An dieser Debatte waren zahlreiche Bischöfe und Theologen, Politiker und Publizisten beteiligt.


Wie konnte es 1933 dazu kommen?

Zweitens: Die Fuldaer Bischofskonferenz hat auf ihrem ersten Nachkriegstreffen im August 1945 in Fulda ein Schuldbekenntnis abgegeben: "Wir beklagen es zutiefst: Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen, sind bei den Verbrechen gegen menschliche Freiheit und menschliche Würde gleichgültig geblieben; viele leisteten durch ihre Haltung den Verbrechen Vorschub, viele sind selber Verbrecher geworden."

Drittens: Die katholische Kirche hat sich an der so genannten Kollektivschulddebatte nicht beteiligt, um die deutschen Katholiken billig zu entschuldigen. Zu diesem Zeitpunkt gab es nämlich noch keine öffentlichen Vorwürfe, gegen die sie sich hätte verteidigen müssen. Die Kollektivschulddebatte galt dem deutschen Volk und den von Deutschen verübten Kriegsverbrechen, nicht den deutschen Katholiken, die sich selbst auf der Seite der Opfer und nicht der Täter sahen. Pius XII. und die deutschen Bischöfe bestanden aus theologischen Gründen in jedem Fall auf der individuellen Zurechnung möglicher Schuld.

Und viertens: Selbst wenn der Vorwurf der Kollektivschuld in keinem "offiziellen politischen" Dokument erhoben worden ist, war er keine "Erfindung" sondern ist in zahlreichen zeitgenössischen Quellen - Rundfunkpropaganda, Lageanalysen und Gesprächsprotokollen der Besatzungsbehörden beispielsweise - nachweisbar.

In der Frage nach den Ursachen der beispiellosen menschlichen und kulturellen Katastrophe des Nationalsozialismus hatte Pius XII. bereits 1941 ein klares Votum abgegeben. "Nein, das Christentum hat nicht versagt (...) Aber die Menschen haben sich gegen das wahre und christustreue Christentum und gegen seine Lehren gestellt. Wir können unsere Augen nicht verschließen vor dem traurigen Schauspiel einer fortschreitenden Entchristlichung."

Die angelsächsischen Alliierten, die sich von einer Neubelebung des Christentums in Deutschland eine unterstützende Wirkung für den demokratischen Neuanfang erhofft hatten, wurden ebenfalls enttäuscht. Die 1945 erwartete "Stunde des Christentums" währte nur eine kurze Weile. Deutschland entwickelte sich stattdessen zu einem "Missionsland".

Nach einigen Jahren des gesellschaftstherapeutisch hilfreichen "kollektiven Beschweigens" (Hermann Lübbe) sind es Ende der fünfziger Jahre Katholiken gewesen, die eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Gang brachten, um die junge Demokratie in der Bundesrepublik zu stabilisieren. Die meisten Wortführer der weltanschaulichen Diskussion nach 1945 - Stefan Andres, Werner Bergengruen, Gertrud von le Fort oder Reinhold Schneider beispielsweise - hatten inzwischen "ergreifenden Abschied" genommen. Im aktuellen Diskurs über den antidemokratischen Charakter des Dritten Reiches standen neben dem Juristen Ernst Wolfgang Böckenförde (geb. 1930) vor allem die Schriftsteller Carl Amery (1922-2005) und Heinrich Böll (1917-1985) im Mittelpunkt.

Zeitzeugen und Zeithistoriker fragten jetzt gemeinsam: Wie konnte es 1933 dazu kommen? Böckenförde schaltete sich 1960/61 durch einen Aufsatz, der die Anfangsjahre des "Dritten Reiches", den folgenreichen Meinungsumschwung der deutschen Bischöfe vom 28. März 1933, das Reichskonkordat und den Untergang des politischen Katholizismus in den Mittelpunkt rückte, in die Diskussion ein, die die kurz zuvor erschienene Aufsehen erregende Untersuchung von Rudolf Morsey über das Ende der Zentrumspartei ausgelöst hatte.

Böckenfördes Thesen von der religiös-weltanschaulichen Geschlossenheit des Katholizismus unter der politischen Führung des Episkopats und des Klerus einerseits und seiner inneren Distanz zu Staat und Gesellschaft der Moderne andererseits, die Feststellung eines tief verwurzelten Antiliberalismus und einer damit korrespondierenden Anfälligkeit für autoritäre Konzepte sowie die Diagnose eines auf den Kulturbereich reduzierten Politikverständnisses nahmen eine Analyse auf, die der Publizist Walter Dirks bereits 1931 in "Katholizismus und Nationalsozialismus" vorgenommen hatte.

Wie schwierig eine Antwort auf die gestellten Fragen sein konnte, zeigt das Beispiel von Walter Dirks und Eugen Kogon selbst, die nach 1945 zunächst ihre Anfangsbegeisterung von 1933/34 vergessen machen mussten. Dirks beispielsweise hatte damals die Jugend aufgefordert, "mit Leidenschaft die geschichtliche Aufgabe im Nationalsozialismus [zu erkennen], die mit der Überwindung von Liberalismus und parlamentarisch-liberaler Demokratie um eine Epoche näher gerückt ist", und das Reichskonkordat als Markstein der Entpolitisierung des Weimarer Katholizismus begrüßt, bei dem beide Partner Gewinner seien. "Dies Konkordat vollendet das, was mit der Liquidierung der katholischen Parteien begonnen hat."


Die "Kapitulation" vor dem Milieu

Amery bot in seinem Bestseller "Die Kapitulation - oder deutscher Katholizismus heute" (1963) eine alternative Begründung: Das vorherrschende kleinbürgerlich-bäuerliche Milieu des deutschen Katholizismus habe mit seinen Sekundärtugenden aus dem 15. Jahrhundert (Arbeitsamkeit, Sauberkeit, Pünktlichkeit) die wahre Botschaft des Christentums so überlagert, dass die Katholiken zu Mittätern geworden seien. Statt Widerstand zu leisten, als Menschenwürde und Menschenrechte verletzt wurden, habe der Katholizismus sich in reinem Milieuegoismus nur gewehrt, wenn kirchliche Machtpositionen in Gefahr gerieten. Amery war überzeugt: Unabhängig vom Verhalten der Bischöfe, des Vatikans und des Zentrums 1933: "Das Milieu hätte trotzdem kapituliert." Die Demokratie, die Juden, die Parteien und Männer der Linken - "sie hätte das Milieu niemals verteidigt".

Die linkskatholische Selbstkritik an der Vergangenheit verband sich in der Endphase der Adenauer-Zeit mit Forderungen nach einer grundlegenden Gesinnungsreform für eine Welt der Nächstenliebe, ohne Kapitalismus und ohne Waffen. Durch den weitgehenden Verzicht auf konfessionell abgrenzende Positionsbeschreibungen erreichte sie auch Zustimmung aus nicht-katholischen Kreisen. Für die Rezeption über die Grenzen Deutschlands hinaus sorgten Übersetzungen. Der wissenschaftliche Diskurs über die Vergangenheit und der moralische Diskurs über die Zukunft verstärkten sich gegenseitig und wurden zum Bestandteil damals aktueller politischer Auseinandersetzungen. Heinrich Böll ist dafür ein sehr gutes Beispiel.

"Der Stellvertreter" von Rolf Hochhuth hob das Thema "Katholische Kirche und Drittes Reich" am 20. Februar 1963 auf die Weltbühne. Ein literarisch mittelmäßiges Schauspiel eines jungen, bis dahin wenig erfolgreichen protestantischen Schriftstellers markierte einen neuen Fixpunkt in der Papstgeschichtsschreibung. Allen handwerklichen und historischen Fehlern zum Trotz formulierte dieses Trauerspiel offenbar ein moralisches Problem, das die Öffentlichkeit bewegte wie keine andere Frage zur NS-Herrschaft.

Hochhuth präsentierte in personalisierter Form einen Angriff auf die Institution mit der größtmöglichen moralischen Fallhöhe und berief sich dabei teils auf Dokumente, die ihm Bruno Wüstenberg, ein deutscher Vatikan-Prälat, zugespielt hatte, teils auf die Gestaltungsfreiheit des Theaterschriftstellers. Mit einer Verbindung von Dokumentation und Fiktion erreichte die erfundene Wirklichkeit des Theaters teilweise einen höheren Glaubwürdigkeitsgrad als die Realität.

Julius Kardinal Döpfner versuchte im Frühjahr 1965, die asymmetrische Medienberichterstattung über die Kirche zu einem öffentlichen Thema zu machen: "Wenn man bedenkt, dass alle Gruppen in den verschiedenen Bereichen der Konfessionen, der Politik, der Wirtschaft, der Justiz, der Hochschule, der Publizistik usw. damals gleichermaßen vor die Entscheidung zwischen Komplizentum und Widerstand gestellt waren, muss man sich wundern, dass sich der Lichtkegel des Interesses so einseitig auf den Katholizismus konzentriert. (...) Hier schlägt die Anziehung der Kirche in das Bedürfnis um, die Kirche zu entlarven."


Medien und Moral

Döpfner kritisierte auch den moralisierenden Impetus, der in den sechziger Jahren den Paradigmenwechsel vom Antitotalitarismus zum Antifaschismus, vom Antikommunismus zum Wandel durch Annäherung begleitete, und zeigte sich verwundert, dass manche, die sich nicht genug tun könnten in der dialogischen Würdigung des Kommunismus, die analoge Haltung der Kirche im NS-Staat mit ätzender Kritik verurteilten: "Was etwa heute die polnischen Bischöfe tun und was wir als durchaus richtiges Verhalten betrachten, die gleiche Verhaltensweise wird scharf kritisiert und verurteilt für die Kirche in der NS-Zeit."

Das Thema "Drittes Reich und Judenverfolgung" tauchte in der öffentlichen Diskussion erst spät und dann auch nur vorübergehend Ende der fünfziger Jahre auf, als nach einigen antisemitischen Zwischenfällen an Weihnachten 1959 die Kölner Synagoge geschändet worden war. Ausgangspunkt für den Beginn einer grundlegend neuen Phase der Beziehungen zwischen Katholiken und Juden wurde weltkirchlich erst die "Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen 'Nostra aetate'", die am 28. Oktober 1965 in der römischen Konzilsaula verabschiedet wurde: "Im Bewusstsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen irgendwelche Menschen verwirft, nicht aus politischen Gründen, sondern aus Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgendjemandem gegen die Juden gerichtet haben."

Zum Ausgangspunkt neuer Beziehungen im Verhältnis zu Polen wurde der Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe vom 18. November/ 5. Dezember 1965: Trotz der "fast hoffnungslos mit Vergangenheit belasteten Lage", schrieben die polnischen Bischöfe, "rufen wir Ihnen zu: Versuchen wir zu vergessen! (...) In diesem allerchristlichsten und zugleich sehr menschlichen Geist strecken wir unsere Hände zu Ihnen in den Bänken des zu Ende gehenden Konzils, gewähren Vergebung und bitten um Vergebung." Das Antwortschreiben der deutschen Bischöfe nahm im Wortlaut darauf Bezug: "So bitten auch wir zu vergessen, ja wir bitten zu verzeihen. (...) Mit brüderlicher Ehrfurcht ergreifen wir die dargebotenen Hände."


Die Fernsehserie "Holocaust" und die Folgen

Die geschichtspolitische Debatte hatte spätestens jetzt auch die Theologie erreicht und führte zehn Jahre später auf der Gemeinsamen Synode der Bistümer in Würzburg zu der Frage, ob durch gut gemeinte Selbstkritik möglicherweise historische Zusammenhänge verkürzt werden oder gar mit Mehrheitsbeschluss über Fakten geurteilt werde, die sinnvollerweise durch wissenschaftliche Forschung zu erheben wären. Die Haltung, das beabsichtigte Schuldeingeständnis durch Verweis auf historische Details abzuschwächen, stand gegen die Bereitschaft, das Versagen aus starker persönlicher Betroffenheit bewusst überzubetonen.

Schließlich verabschiedete die Synode einen allen Beschlüssen vorangestellten Leittext aus der Feder des Theologen Johann B. Metz: "Wir sind das Land, dessen jüngste politische Geschichte von dem Versuch verfinstert ist, das jüdische Volk systematisch auszurotten. Und wir waren in dieser Zeit des Nationalsozialismus, trotz beispielhaften Verhaltens einzelner Personen und Gruppen, aufs Ganze gesehen doch eine kirchliche Gemeinschaft, die zu sehr mit dem Rücken zum Schicksal dieses verfolgten jüdischen Volkes weiterlebte, deren Blick sich zu stark von der Bedrohung ihrer eigenen Institutionen fixieren ließ und die zu den an Juden und Judentum verübten Verbrechen geschwiegen hat."

Seit die Synode als Tatsache formuliert hatte, worüber es unter den Historikern sehr gegensätzliche Auffassungen gab, verschwanden so grundsätzliche Fragen wie: "Kann theologisch richtig sein, was historisch falsch ist? Kann moralisch richtig sein, was historisch nicht stimmt? Kann politisch notwendig sein, was wissenschaftlich falsch ist?" nicht mehr von der Tagesordnung der Theologen und der Historiker.

Die Anfang 1979 im deutschen Fernsehen ausgestrahlte amerikanische Holocaust-Serie machte das Thema "Drittes Reich und Judenverfolgung" dann zum Thema Nummer Eins in den Medien, bei Pädagogen, Therapeuten, Zeithistorikern und Theologen. Am 31. Januar 1979 griff die Deutsche Bischofskonferenz erstmals mit einer ausführlichen Erklärung in eine solche öffentliche Diskussion ein und hielt dort fest, "dass das Verhalten der Kirche gegenüber einzelnen Stufen der Judenverfolgung kritisch betrachtet werden muss". Es sei heute schwer zu begreifen, dass von kirchlicher Seite weder zum Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 noch zum Erlass der Nürnberger Rassengesetze 1935, noch am 9./10. November 1938 "eine genügend deutliche und aktuelle Stellungnahme erfolgt" sei.

Der "Bensberger Kreis" hielt diese Stellungnahme damals für "einseitig und erkennbar vom Willen der Selbstverteidigung geleitet" und setzte die aus der Böckenförde-Diskussion bekannten Argumente dagegen. Franz Alt sekundierte im SWF. Die Frankfurter Rundschau gab Karlheinz Deschner Gelegenheit, die katholische Kirche "weitgehender öffentlicher Irreführung und Unwahrhaftigkeit" zu beschuldigen: "Zu den Verbrechen von einst noch die Lüge von heute." Der WDR verbreitete in kollegialer Verbundenheit Deschners Pamphlet anschließend in der Reihe "Aktuelle Dokumente". Das gegenseitige Zitations- und Lobkartell der Kritiker funktionierte jahrelang reibungslos. Die moralische Selbstdemontage fast aller Beteiligten erfolgte erst später.

Solches Zusammenspiel war gemeint, wenn Konrad Repgen, der Vorsitzende der Kommission für Zeitgeschichte, 1983 an Kardinal Joseph Höffner schrieb, es gebe keine Erklärung dafür, "warum z. B. wichtige Teile der Massenmedien sich gegen die Anerkennung korrekt ermittelter und begründeter zeitgeschichtlicher Aussagen, wenn sie für die Kirche und besonders für die kirchliche Führung nach heutigen Maßstäben entlastend seien, nahezu sperren oder sogar das Argument verdrehen. Umgekehrt werden Aussagen, welche nach diesen heutigen Maßstäben für Kirchenführung und Kirche belastend wirken, gern vergröbernd und einseitig herausgestellt."


Reinigung des Gedächtnisses

In den achtziger und neunziger Jahren konzentrierte sich das Interesse in der öffentlichen Diskussion immer stärker auf die Frage des Holocaust und des Antisemitismus. Mit dieser neuen thematischen Fragestellung veränderten sich fast alle wesentlichen Koordinaten der geschichtspolitischen Auseinandersetzung. Zunächst nahmen die internationalen Aktivitäten deutlich zu. Der "Papst, der geschwiegen hat" und trotzdem selig gesprochen werden soll, beanspruchte die Aufmerksamkeit weltweit in einem Ausmaß, dass die kirchliche Zeitgeschichte gegenüber der allgemeinen Zeitgeschichte vorübergehend ins Hintertreffen geriet, weil sie sich primär in den "Pius Wars" festbiss.

In der bundesdeutschen Diskussion endete die Phase der unmittelbaren Instrumentalisierung unseres Themas für aktuelle innenpolitische Auseinandersetzungen. Die Diskussion differenzierte sich in verschiedene Paralleldispute, die mit zunehmender Schärfe, auch persönlichen Angriffen und Verletzungen geführt wurden, die die Öffentlichkeit aber nicht mehr wie früher erreichten. Beispiele dafür sind erbitterte Auseinandersetzungen unter katholischen Zeithistorikern, zunehmende konfessionelle Polemiken sowie die Emotionalisierung und Skandalisierung der öffentlichen Diskussion, in der Experten aus Theologie und Geschichte immer seltener in der ersten Reihe zu finden waren.

Muss ein Moralist, der an einer zeitgeschichtlichen Sachdebatte ausdrücklich nicht interessiert ist, sich an den wissenschaftlichen Standards der Historiker orientieren? Einige flott geschriebene und durch aufwendiges Marketing zu "Events" hochgelobte "Wiederaufbereitungen" - von John Cornwell (1999), Daniel Goldhagen (2002) oder Peter Godman (2004) beispielsweise beantworteten die Frage offenbar mit "Nein".

Wer in den letzten 25 Jahren mit neuen Erkenntnissen aufwartete, die die Kirche entlasteten, handelte sich schnell den Vorwurf der Apologie ein. Kirchennahe Zeithistoriker sahen sich unversehens als "Schönschreiber", "Verharmloser" und "Legendenerzähler" bezeichnet. Im medial vermittelten Geschichtsbild wirkte die nach jahrzehntelanger wissenschaftlicher Forschung mögliche differenzierte Sicht auf das Ganze eher störend.

Im Ergebnis wandelte sich das Bild einer Kirche, die sich 1945 noch selbst als Opfer "satanischer Verfolgung" gesehen hatte, über Zwischenstufen der Kooperation aus antibolschewistischem Einverständnis und egoistischer Selbstbewahrung zunächst zur Kollaborateurin und dann, begünstigt durch theologisch fundierten Antijudaismus, zur Täterin, deren Akteure sich für die Erinnerung als leuchtendes Vorbild nicht mehr so richtig zu eignen schienen.

Die Fokussierung auf "Kirche, Holocaust und Antisemitismus" veränderte gleichzeitig die Kriterien für die Urteilsbildung. Die Tätigkeit bischöflicher Hilfseinrichtungen für katholische Nichtarier beispielsweise wurde moralisch herabgestuft, weil es sich dabei hauptsächlich "nur" um katholisch getaufte Juden gehandelt habe, der Einsatz des Bischofs von Münster in der Euthanasie-Frage sah sich unter den Verdacht von "Milieuegoismus" gestellt, weil von Galen nicht ähnlich energisch auf die Pogromnacht reagiert habe. Edith Stein durfte kein Beispiel mehr dafür sein, dass kirchlicher Protest die Verhältnisse der Juden hätte verschlimmern können, weil sie zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung keine Jüdin mehr gewesen sei.

Die von Johannes Paul II. gewünschten spektakulären Vergebungsbitten vom 12. März 2000 galten "für die ganze Kirche, die an die Treulosigkeiten erinnern wollte, mit denen viele ihrer Söhne und Töchter im Lauf der Geschichte Schatten auf ihr Antlitz als Braut Christi geworfen hatten." Die Bitten wurden durch wissenschaftliche Kongresse intensiv vorbereitet, dann aber nicht als Ergebnis einer historischen Analyse oder als moralische Anklage vorgetragen, sondern in einem Gebet an Gott gerichtet. Die Grundfrage dabei ist nach wie vor nicht beantwortet: Wer bestimmt die Leitkategorien? Historische Sachkenntnis ist sicher eine notwendige Voraussetzung. Andererseits kann das Wesen der Kirche mit historischen oder soziologischen Mitteln allein nicht erfasst werden.

Die päpstliche Initiative zur "Reinigung des Gedächtnisses", die aus der jahrzehntelangen Defensivhaltung herausführte, fand auf der ganzen Welt und in ökumenischer Übereinstimmung unerwartete Zustimmung. Vor allem in Italien und im angloamerikanischen Raum entstand eine Fülle von wissenschaftlichen Abhandlungen, die auch bisherige Tabuthemen - wie den Einsatz von Christen für die Rettung von Juden - in den Blick nahmen. Mit dem Fall der Mauer öffneten sich weitere Archive, die für die Katholizismusgeschichte wesentliche Bestände hüten. Mit Hilfe der neuen Quellen lassen sich manche alten Streitfragen jetzt beantworten. Solange es in einem moralisch dominierten Diskurs nicht völlig ausgeschlossen ist, auch historische Fakten und wissenschaftliche Einsichten zu berücksichtigen, besteht also noch Hoffnung.


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Karl-Joseph Hummel (geb. 1950), Studium der Geschichte und Politischen Wissenschaften in München und Sussex; Promotion: "München in der Revolution 1848/49" (Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität München, Professor Thomas Nipperdey). Seit 1993 Direktor der Forschungsstelle der Kommission für Zeitgeschichte, Bonn. Veröffentlichte: "Deutsche Geschichte 1933-1945", München 1998 (Olzog).


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 1, Januar 2007, S. 30-35
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2007