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KIRCHE/1329: Was sich von den lateinamerikanischen Basisgemeinden lernen lässt (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 3/2012

Eine neue Art Kirche zu sein
Was sich von den lateinamerikanischen Basisgemeinden lernen lässt

Von Franz Weber



Angesichts der Umstrukturierungsprozesse und der Errichtung pastoraler Megaräume in vielen deutschsprachigen Diözesen ist ein Blick auf die Entstehung und den Werdegang der lateinamerikanischen Basisgemeinden lehrreich und ermutigend. Die Sorge der Kirchenleitungen um die Einheit der Weltkirche darf auf keinen Fall dazu führen, den Ortskirchen ein Einheitsmodell christlicher Gemeinde aufzuerlegen.


Es ist schon einige Jahrzehnte her, dass man die Basisgemeinden in Lateinamerika, die dort bis heute sehr dezidiert das Prädikat "kirchlich" (CEBs = Comunidades Eclesiales/Eclesiais de Base) für sich in Anspruch nehmen, im deutschsprachigen Raum als ideale Gemeindeform für die Zukunft betrachtet und manchmal auch in den Himmel der eigenen unerfüllten Kirchenträume gehoben hat. "Die Kirche der Zukunft wird eine Kirche sein, die sich von unten her durch Basisgemeinden (...) aufbaut", schrieb Karl Rahner damals (Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance, Freiburg 1972, 115). Und er war nicht der Einzige, der auf eine derartige Entwicklung hoffte. Eine solche Erwartung war sicher zu hoch geschraubt und konnte sich in unseren Breiten aufgrund anderer gesellschaftlicher und kirchlicher Voraussetzungen gar nicht in die pastorale Tat umsetzen lassen. Hermann Steinkamp hatte seinerzeit mit Recht davor gewarnt, Basisgemeinden als "Frischzellen in den alternden Organismus der europäischen Volkskirche" transplantieren zu wollen (Prozesse der Gemeindebildung, Exemplarische Schwierigkeiten in der Bundesrepublik, in: Johannes B. Metz und Peter Rottländer [Hg.], Lateinamerika und Europa, Mainz 1988, 110).

Trotz solcher Vorbehalte gab es in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der deutschsprachigen Theologie eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dieser neuen Form von Kirche, von der man sich Impulse für unsere Gemeindetheologie und Gemeindepraxis erwartete. In Lateinamerika selbst aber hatte sich in einem Teil der Hierarchie sehr bald starker Widerstand gegen die Basisgemeinden formiert, der bei uns vielfach den falschen Eindruck entstehen ließ, diese kleinen pastoralen Einheiten hätten im Zuge einer konservativen Kurskorrektur der lateinamerikanischen Kirche ihre pastorale Bedeutung eingebüßt. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist gut und notwendig, dass die bischöfliche Aktion "Adveniat" diese hoffnungsvolle Gestalt christlicher Gemeinde in der Kirche der Armen in diesem Jahr wieder gezielt in das Blickfeld der deutschen Kirche rückt.


Gemeinden mit Platz auch für die Armen

Als Reaktion auf die laufenden Strukturprozesse und die Errichtung pastoraler Megaräume, in denen es für viele Gläubige hierzulande zusehends schwieriger wird, Kirche überhaupt noch irgendwo als Lebensraum und Glaubensgemeinschaft zu erfahren, erweist sich ein Blick auf die Entstehung und den Werdegang der lateinamerikanischen Basisgemeinden als lehrreich und ermutigend. Inzwischen ist man in einigen deutschen Bistümern ja auch um den Aufbau so genannter "Kleiner Christlicher Gemeinschaften" bemüht, die als Substruktur von großen Pfarreien und Pfarreiengemeinschaften der Kirche vor Ort ein neues Gesicht geben sollen (vgl. HK, April 2010, 177 ff., und September 2006, 463 ff.). Das Modell, in dem die Pfarrei zu einer "Gemeinschaft von Gemeinschaften" werden soll, hat der Kirche auch in vielen Ländern Afrikas, Asiens und Ozeaniens zu neuem Leben verholfen.

Es erscheint dringend notwendig, dass die Kirche im deutschsprachigen Raum in der gegenwärtigen pastoralen Notsituation ihre Strukturreformen nicht als der pastoralen Weisheit letzten Schluss betrachtet, sondern sich in einer Haltung katholisch weltkirchlicher Offenheit etwas sagen lässt von einigen Erfahrungen, die andere Teilkirchen der katholischen Weltkirche in ihren gemeindlichen Such- und Lernprozessen gemacht haben.


Hoffnungs- wie leidvolle Erfahrungen prägen die wechselvolle Geschichte der Kirchlichen Basisgemeinden in Lateinamerika. Zunächst waren es ganz und gar unspektakuläre, "armselige" pastorale Experimente, die schon in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der lateinamerikanischen Kirche da und dort gewagt wurden und die sich später gerade in der schwierigen Zeit der Militärdiktaturen hoffnungsvoll weiter entwickelten. Manche Bischöfe begannen der Not gehorchend Laien die Leitung von Gottesdiensten anzuvertrauen. Die Basisgemeinden waren in Lateinamerika nie eine elitäre, gegen die Hierarchie gerichtete "Entscheidungskirche von unten". Sie waren aber auch keine volkskirchliche Massenbewegung, die den ganzen Kontinent erfasst und mit einem dichten Netz kleiner Gemeinden überzogen hätte. Solche Vorstellungen, denen man in Europa immer wieder begegnet, sind historisch falsch.

Tatsache ist dagegen, dass die Basisgemeinden ihre Entstehung vor allem der pastoralen Notsituation verdankten. Viele lateinamerikanische Bischöfe suchten nach einem Ausweg, wie sie die religiös-kirchliche Praxis auch mit einer äußerst geringen Zahl von Priestern irgendwie zu neuem Leben erwecken konnten. Bei allem kreativen Engagement, das mit der Einführung der Basisgemeinden bei vielen Menschen aufbrach, brauchte es aber zuerst immer auch den Impuls von "oben", das heißt die klare pastorale Grundentscheidung des Episkopats und eines großen Einsatzes der hauptamtlich mit der Pastoral beauftragten Kräfte, bis der Funke dieser neuen Gemeindepraxis auf die Gemeindemitglieder selbst übersprang.


Entscheidend für die Verbreitung der Basisgemeinden war die Versammlung des lateinamerikanischen Episkopats (CELAM) in Medellín im Jahr 1968. Die Bischöfe hatten damals klar erkannt, wie weit sie selbst, aber auch ihre Priester und Ordensleute vom realen Leben der Armen entfernt waren. Für sie war die Kirche mit ihren traditionellen Pfarrstrukturen vielfach unerreichbar. Die Bischöfe sprachen sich in Medellín klar für eine Dezentralisierung der Pastoral und für die Bildung von christlichen Basisgemeinschaften aus, die als "Kernzellen kirchlicher Strukturierung" eine "persönliche geschwisterliche Begegnung" ermöglichen und zur "Quelle der Evangelisierung" und zum "Hauptfaktor der menschlichen Förderung und Entwicklung" werden sollten (Schlussdokument Medellín, Nr. 15,10).

Es war Papst Paul VI. selbst, der die lateinamerikanischen Bischöfe am Ende des Konzils sehr entschieden zu pastoralen Reformen aufgefordert hatte. Der Papst hatte zwar Bedenken gegen manche basiskirchlichen Experimente in Europa, stand aber, wie aus dem Apostolischen Schreiben "Evangelii nuntiandi" (Nr. 58) klar zu ersehen ist, dem auf der römischen Bischofssynode von 1975 ausführlich diskutierten Experiment der lateinamerikanischen Basisgemeinden positiv gegenüber. Trotz dieser grundsätzlichen Empfehlung der neuen Gemeindeform durch das päpstliche Lehramt, der auch Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika "Redemptoris missio" (Nr. 51) gefolgt war, lehnte ein Teil des lateinamerikanischen Episkopats die Basisgemeinden ab.

Man wandte sich offen und oft sehr polemisch gegen eine angeblich basisdemokratische "Volkskirche", die man in manchen Kreisen von Hierarchie und Klerus nicht als pastorale Chance anerkennen wollte. Man sah nicht nur in der Theologie der Befreiung, sondern auch in den Basisgemeinden und sogar in der vorrangigen Option für die Armen eine ernste Gefahr für den katholischen Glauben.


In der Bischofsversammlung von Puebla (1979) bekannte sich dennoch eine Mehrheit des lateinamerikanischen Episkopats noch einmal klar zu den Basisgemeinden und sah in ihnen einen Anlass zur Freude und Hoffnung, weil sie "zu Brennpunkten der Evangelisierung und Motoren der Befreiung und Entwicklung geworden" (Schlussdokument Puebla, Nr. 96) seien. Das waren sie auch vielerorts in der spannungsgeladenen sozialen Situation des Kontinents, in der die Kirche durch die entschlossene Umsetzung der vorrangigen Option für die Armen oft auch zu einer Kirche der Märtyrer wurde. Als Hirten wollten die Bischöfe die Basisgemeinden, wie es wörtlich im Schlussdokument heißt, "entschlossen fördern, orientieren und begleiten" (Nr. 648).

Während ein großer Teil der Hierarchie sich diesem Auftrag von Puebla verpflichtet fühlte, standen vor allem manche der in der Folgezeit neu ernannten Bischöfe der Ausbildung kleiner Gemeindestrukturen und selbstbewusster Führungskräfte skeptisch oder ablehnend gegenüber. Die Mitglieder der Basisgemeinden reagierten ihrerseits nicht selten irritiert und enttäuscht auf einen Bischofswechsel, weil sie sich von ihrem Hirten im Stich gelassen fühlten und mit Recht daran zu zweifeln begannen, ob die Basisgemeinden wirklich noch "Ausdruck der besonderen Zuneigung der Kirche zum einfachen Volk" (Puebla, Nr. 643) waren. Manche Bischofskonferenzen haben die Basisgemeinden jedoch immer wieder gegen Angriffe von außen und innen in Schutz genommen. So sahen sich die brasilianischen Bischöfe wiederholt genötigt, gegen die undifferenzierte Kritik an den Basisgemeinden aus den eigenen Reihen Stellung zu beziehen und deren pastorale Bedeutung zu unterstreichen.


Wenn aus Wunschkindern Stiefkinder werden

Wer die Wirklichkeit der Basisgemeinden vor Ort kennt, weiß um die Kirchlichkeit, ja um die oft geradezu kindliche Treue und Anhänglichkeit der einfachen Leute an ihre Pfarrer und Bischöfe, wenn sie sich von diesen angenommen und ernst genommen fühlen und in den oft lebensbedrohenden gesellschaftlichen Konflikten mit einer klaren Parteinahme ihrer Hirten rechnen dürfen. Die Basisgemeinden waren in der nachkonziliaren Erneuerung für einen Großteil der lateinamerikanischen Hierarchie ohne Übertreibung so etwas wie pastorale Wunsch- und Lieblingskinder. In ihnen sollten sich die Träume einer nachkonziliaren Bischofsgeneration von einer zukunftsfähigen und auch die Gesellschaft verändernden Gestalt der lateinamerikanischen Kirche erfüllen. In ihnen sollte die " Volk-Gottes"- und "Communio"-Theologie des Konzils pastorale Wirklichkeit werden.

Viele Menschen aus den unteren Volkschichten haben in den Basisgemeinden wieder einen neuen Zugang zur Kirche bekommen. Aus Objekten der Missionierung wurden Subjekte und Trägerinnen und Träger der Evangelisierung. Als sich einfache Frauen und Männer als Laien in ihrer Gemeinde zu emanzipieren und an Selbstbewusstsein zu gewinnen begannen, als die "Söhne und Töchter der Kirche" in mehrfacher Hinsicht erwachsen wurden, sich aus klerikaler Bevormundung lösten und der "Mutter Kirche" auch unangenehme Fragen stellten, werteten viele Bischöfe in Lateinamerika diesen Aufbruch von Laien als ein Zeichen dafür, dass die vorrangige Option für die Armen auch in pastoraler Hinsicht Früchte zu tragen begann. Dagegen fühlten sich andere Vertreter von Hierarchie und Klerus in ihrem Amt bedroht und behandelten die Basisgemeinden als Stiefkinder, deren kirchliche Gesinnung in Frage gestellt wurde.


Der lateinamerikanische Episkopat bleibt gegenüber Basisgemeinden gespalten

Die katholische Kirche ist in Lateinamerika in dieser lebenswichtigen Frage nach einer neuen Form glaubwürdiger Präsenz vor allem unter den Armen leider nach wie vor gespalten. Auf der letzten Bischofsversammlung von Aparecida (2007) gerieten die Basisgemeinden einmal mehr zwischen die Mühlsteine entgegengesetzter Positionen innerhalb des lateinamerikanischen Episkopats. Nachdem schon während der Konferenz wegen des mysteriösen Verschwindens eines Abschnittes aus der Textvorlage große Aufregung herrschte, war man besonders über die nachträglichen Veränderungen an dem vom Plenum approbierten Text des Schlussdokumentes verärgert, die vor allem auch die ursprünglichen Aussagen über die kirchlichen Basisgemeinden verfälschten (vgl. HK, Juli und September 2007, 343 ff. und 450 ff.).

Vielen Bischöfen war es ein großes Anliegen gewesen, nach all den Infragestellungen der letzten Zeit endlich wieder zu einer klaren Option für diese volksnahe Gemeindeform zu gelangen. Der ursprüngliche Text, der von der prophetischen Sendung der Basisgemeinden und deren Aufgabe, die Pfarreien von innen her zu verlebendigen, gesprochen hatte, wurde in der Schlussfassung in wesentlichen Punkten so weit verändert und abgeschwächt, dass man daraus keine klare pastorale Option mehr ableiten kann. Doch auch das von Rom approbierte Schlussdokument kommt nicht umhin, die Basisgemeinden im Wortlaut von Medellín als "Keimzellen kirchlicher Strukturierung und als Knotenpunkte von Glauben und Evangelisierung" (Aparecida, Nr. 178) anzuerkennen.

Es entspricht voll und ganz der Realität, wenn im Schlussdokument festgestellt wird, dass die Basisgemeinden "das Wort Gottes als Quelle ihrer Spiritualität" betrachten, sich "mit ihrem evangelisierend-missionarischen Engagement unter den ganz einfachen und am Rande der Gesellschaft lebenden Menschen" einsetzen und "die vorrangige Option für die Armen sichtbar" (Aparecida, Nr. 179) machen. Ihren Gegnern im Episkopat war es einmal mehr nicht gelungen, den Basisgemeinden das Leben abzusprechen. Sie werden wohl auch weiterhin, von den einen anerkannt und gefördert und von den anderen in Frage gestellt und bekämpft, vielerorts in dieser oder jener Form die Glaubens- und Gemeindepraxis vor allem der Armen prägen.


Die Nähe der Basisgemeinden zu den Menschen gewinnt, was viele in der Kirche Lateinamerikas immer klarer erkennen, vor allem auch angesichts einer sich stark verändernden religiösen Landschaft neu an Bedeutung. Wo es keine kleinen für die Menschen erreichbaren und erfahrbaren Gemeinschaftsformen kirchlichen Lebens gibt, wo sich das Gemeindeleben nur noch in Pfarrkirchen abspielt, die für die große Masse der Bevölkerung nur begrenzt oder gar nicht erreichbar sind, dort ist die katholische Kirche - gerade an den Peripherien der großen Städte - bereits weithin von der Bildfläche verschwunden (vgl. HK, April 2011, 210 ff.).

Wo keine unmittelbare Erfahrung kirchlicher Gemeinschaft möglich ist und die tatsächlich erlebbare Solidarisierung der Kirche mit Menschen in Situationen der Armut, des Unrechts und der Ungerechtigkeit ausbleibt, dort wandern viele Gläubige in die Pfingstkirchen und in andere religiöse Gruppierungen ab. Wo die Kirche, besonders in den unteren Volksschichten, nicht in der Tat Kirche der Armen wird, wo einfache Frauen und Männer aus dem Volk nicht mehr die Möglichkeit haben, durch die verschiedenen pastoralen Dienste direkte Verantwortung für die Pastoral zu übernehmen, dort kommt die Kirche nicht mehr "zum Leben" und wird auch nicht am Leben bleiben.


Neue Sozialgestalten gemeindlichen Lebens hat es nicht nur in der Kirche Lateinamerikas gegeben. In der Bischofskonferenz der demokratischen Republik Kongo hatte man bereits vor und unmittelbar nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit dem Aufbau so genannter "Communautés Chrétiennes Vivantes" (CCVs) oder "Communautés Ecclesiales Vivantes" (CEVs) begonnen, die später auch in anderen westafrikanischen Ländern Verbreitung fanden. Die Entstehung der so genannten "Small Christian Communities" (SCCs) ist seit 1973 vor allem von der Vereinigung der Ostafrikanischen Bischofskonferenzen (AMECEA) in die Wege geleitet worden. Ein für Leben und Spiritualität der "Kleinen christlichen Gemeinschaften" wichtiger Anstoß war die Praxis des Bibelteilens, die am Lumko Institut in Südafrika entwickelt worden war und von dort auch von zahlreichen Ortskirchen in Asien übernommen wurde.

Vor allem durch die Vermittlung der südafrikanischen Bischöfe Oswald Hirmer und Fritz Lobinger und auf Initiative der "Vereinigung der Asiatischen Bischofskonferenzen (FABC) entwickelten sich bald in mehreren Ländern ebenfalls verschiedene Formen von "Kleinen Christlichen Gemeinschaften", die der Kirche dort in ihrer Situation als religiöse Minderheit ein asiatisches Gesicht verleihen.


Menschen wollen den christlichen Glauben in ihren eigenen Häusern leben

"Das Leben der Kirche soll in den Gemeinschaften gründen, in denen das alltägliche Leben und Arbeiten stattfindet", heißt es wörtlich in einem Pastoralplan für Ostafrika aus dem Jahre 1973. Der Kirche war es Afrika vielfach nicht gelungen, sich auf ihren Missionsstationen und Außenstationen in die traditionellen afrikanischen Lebenswelten zu inkulturieren. In Asien werden christliche Gemeinden bis heute oft als Fremdkörper empfunden. In dieser neuen Form kirchlicher Präsenz in den "Kleinen Christlichen Gemeinschaften" sollte die Kirche wirklich "Ortskirche" werden und sich im Leben der Menschen inkulturieren.

Denn Kirche verwirklicht sich im Verständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils in lokalen Gemeinden, in denen Christus gegenwärtig ist, "auch wenn sie oft klein und arm sind und in der Diaspora leben" (Kirchenkonstitution Lumen gentium, Nr. 26). In der katholischen Weltkirche hat sich - im deutschsprachigen Raum kaum wahrgenommen - eine Gemeindeentwicklung vollzogen, in der sich bei aller Vielfalt inkulturierter Sozialgestalten doch beachtliche Gemeinsamkeiten zwischen Lateinamerika, Afrika und Asien feststellen lassen. Die Sorge der Kirchenleitungen um die Einheit der Weltkirche darf auf keinen Fall dazu führen, den Ortskirchen ein Einheitsmodell christlicher Gemeinde aufzuerlegen. Die katholische Kirche besteht nicht aus Wohn-Containern gleicher Fabrikation, die man in die ganze Welt exportieren kann. Die Menschen wollen ihren christlichen Glauben in ihren eigenen Häusern leben. Sie werden sich in fremden Häusern nicht zu Hause fühlen.

Die Kluft zwischen Glaube und Leben beginnt sich in Afrika und Asien genau so wie in der Kirche Lateinamerikas erst dort zu schließen, wo aus einem kommunikativen Umgang mit dem Wort Gottes im Bibelteilen lokale und partizipative Formen christlicher Gemeinde entstehen, in denen Kirche nicht mehr als von außen auferlegte und importierte religiöse Institution, sondern als Lebens- und Glaubensgemeinschaft vor Ort erfahrbar wird. Dabei wird die rechtliche Struktur der Pfarrei nicht abgeschafft, sondern dezentralisiert. Sie wird durch den Aufbau kleinerer Substrukturen als "Gemeinschaft von Gemeinschaften" zu neuem Leben erweckt.

Der Blick auf die gemeindetheologischen und pastoralen Lernprozesse, die die Kirche in Lateinamerika seit mehr als fünf Jahrzehnten durchlaufen hat, stimmt genau so nachdenklich wie die kreative Gemeindeentwicklung in vielen Ortskirchen Afrikas und Asiens. Wie kann es sein, dass in manchen Bistümern des deutschen Sprachraumes nur noch auf die Bildung pastoraler Großräume gesetzt wird? Diese Entwicklung ist ein weltkirchlicher Sonderfall, der zum pastoralen Todesfall werden kann, wenn kleinere und mittlere Pfarreien und Seelsorgestellen eucharistisch ausgehungert werden und Frauen und Männer, die bisher ihre Charismen mit Freude zum Aufbau einer Ortsgemeinde eingesetzt hatten, im Zuge einer verhängnisvollen und ekklesiologisch höchst fragwürdigen Klerikalisierung der Pastoral überflüssig werden und damit auch ihre kirchliche Heimat verlieren.

In den Kirchlichen Basisgemeinden und in den Kleinen Christlichen Gemeinschaften ist man den genau entgegengesetzten Weg gegangen und hat der Kirche damit zu neuem Leben verholfen, auch wenn Herrschaftsansprüche und mangelnde Kooperationsbereitschaft von Klerikern den Gemeinden in den Kirchen des Südens genau so zu schaffen machen wie bei uns. Warum werden hierzulande nicht einmal gut ausgebildete und hoch motivierte so genannte Laientheologinnen und - theologen im pastoralen Dienst eingesetzt und mit der Leitung lokaler Gemeinden betraut, während die kleinen Gemeinden in Lateinamerika, Afrika und Asien durch die Bank von Frauen und Männern geleitet und begleitet werden, die oft nur eine geringe Schulbildung besitzen?

Paul VI. hatte in "Evangelii nuntiandi" (Nr. 73) die große Zahl neu entstehender und von Laien übernommener Dienstämter noch enthusiastisch begrüßt und unbefangen und realitätsnah vom "Amt des Leiters kleiner Gemeinschaften" gesprochen, wie es anderswo in der Weltkirche gang und gäbe ist. Die Basisgemeinden in Lateinamerika und die anderen neuen Gemeindeformen sind keine idealen Gemeindemodelle, sondern genau so wie unsere Pfarreien und andere Sozialgestalten nur "Kirche im Fragment". In einer neuen Art von Kirche, wie sie vielerorts in der Weltkirche als Inkulturation des Evangeliums gewagt wird, kommt der Glaube zum Leben. Das sollte uns in unserer pastoralen Situation, in der viele der Kirche das Leben und die Zukunft absprechen, sehr zu denken geben.


Franz Weber (geb. 1945) ist Mitglied der internationalen Gemeinschaft der Comboni Missionare und war lange in der Begleitung kirchlicher Basisgemeinden in Brasilien tätig; Forschungsaufenthalte in verschiedenen Ländern Afrikas. Seit 1997 Professor für Interkulturelle Pastoraltheologie und Missionswissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck; Pfarrer in Arzl bei Innsbruck. Publikationen zur weltkirchlichen Gemeindeentwicklung und Gemeindetheologie.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 3, März 2012, S. 128-132
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juni 2012