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KIRCHE/620: Wie sehe ich mit der Kirche aus? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 6/2008

Wie sehe ich mit der Kirche aus?
Lebenswelten junger Menschen in der Sinus-Milieustudie U 27

Von Hans Hobelsberger


Anfang April wurde die Sinus-Milieustudie U 27 zu den Lebenswelten katholischer Jugendlicher veröffentlicht. Beauftragt vom Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) und von Misereor schließen die Heidelberger Forscher mit dieser Untersuchung eine Lücke der Studie von 2005 zu den religiösen und kirchlichen Orientierungen in den Sinus-Milieus, die bei 20 Jahren aufwärts angesetzt hatte.


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Die Sinus-U-27-Studie ist eine qualitative Pilotstudie zu Wertorientierungen, Vergemeinschaftung, Engagement, Sehnsüchten und Zukunftsentwürfen sowie zu religiösen und kirchlichen Einstellungen (Carsten Wippermann, Marc Calmbach, Lebenswelten von katholischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, hg. vom Bund der Katholischen Jugend und Misereor: Wie ticken Jugendliche? Sinus-Milieustudie U 27, Düsseldorf, Aachen 2008). Die Grundlage dafür bildet das Sinus-Milieu-Modell 2007. Das bedeutet, dass für die ausgewählten Milieus jeweils katholische junge Menschen gesucht wurden, um Auskunft darüber zu erhalten, welche typischen Stile prägend für die unterschiedlichen Lebenswelten sind (vgl. HK, April 2006, 173 ff.).

Im Vergleich zu den allgemeinen Sinus-Milieus wurden das Milieu der "Etablierten" und das "DDR-Nostalgische" weggelassen. Sie sind inhaltlich und statistisch für Jugendliche und junge Erwachsene kaum relevant. Das konservative und das traditionsverwurzelte Milieu wurden mit "Traditionelle" zusammengefasst. Dezidiert sprechen die Forscher dabei nicht von Milieus, sondern vorsichtiger von Milieuorientierung und Lebenswelten, um der Offenheit der "Entwicklung und Ausformung der soziokulturellen (Kern)Identität" (Wippermann/Calmbach 12) bei jungen Menschen gerecht zu werden.

Die Studie nimmt drei Alterskohorten in den Blick: 9- bis 13-jährige Kinder (frühe Jugend; 20 Fälle - von den befragten Kindern wurden Fallporträts angefertigt; ihre Milieuorientierung wurde über das Elternmilieu bestimmt), 14- bis 19-jährige Jugendliche (mittlere und späte Jugend; 56 Fälle) und 20- bis 27-jährige junge Erwachsene (Postaduleszenz; 56 Fälle). Der Kreis der Befragten umfasst jeweils zur Hälfte katholisch getaufte Mädchen und Jungen aus unterschiedlichen Regionen Deutschlands mit einer Stadt-Land-Streuung sowie zur Hälfte Kinder und Jugendliche aus Ost und West, die rekrutiert wurden über Gemeinden, Verbände (ein Drittel) und professionelle Teststudios (per Zufallsgenerator).

Zu Beginn der Interviews überprüfte man ihre allgemeine Milieuorientierung. Mit den Befragten wurden mehrstündige narrative und biographische Einzelexplorationen durchgeführt. Zwei Wochen vor der Befragung bekamen die Probanden ein leeres Heft, entweder mit dem Thema "Das gibt meinem Leben (mehr) Sinn" oder "Die ideale Religion und Kirche für mich". Diese Hefte sollten nach Lust und Laune gestaltet werden.

Des Weiteren wurden Bilder von den Zimmern der Befragten gemacht, und die Interviewer notierten ihre Eindrücke nach dem Gespräch. Aus der Transkription der Interviews, der Interpretation der Hefte und der Auswertung der Bilder ließen sich - durch Rekonstruktion der Art, wie die Befragten ihr Leben beschreiben, und in einer schrittweisen Abstraktion vom Einzelfall - Lebensstiltypen entwickeln, die auf jeweils gemeinsame spezifische und abgrenzbare Verhaltenweisen, Einstellungen oder Umgangsformen mit Lebensfragen und Lebensaufgaben hinweisen. Der oder die Einzelne gilt dabei als Manifestation und Spiegelbild von etwas "Typischem", das exemplarisch herauszustellen ist. Für die Frage nach der größenmäßigen Verteilung der dabei herausgearbeiteten Lebenswelten wurden schließlich quantitative Repräsentativdaten hinzugezogen.


Unterschiedlichkeit von Lebensstilen ist bedeutsamer als sozioökonomische Lebensbedingungen

Soziale Ungleichheitsforschung kann sich heute nicht mehr nur auf objektiv messbare und quantifizierbare Daten verlassen. Vor diesem Hintergrund konstatieren die Sinus-Forscher: "Die Unterschiedlichkeit von Lebensstilen ist für die Alltagswirklichkeit von Menschen vielfach bedeutsamer als die Unterschiedlichkeit sozioökonomischer Lebensbedingungen. Soziale Zugehörigkeit wird heute weniger von schichtspezifischen Merkmalen geprägt als von Lebensstil-Gemeinsamkeiten und deren Wahrnehmung" (Wippermann/Calmbach 9).

Allerdings lässt sich in Zeiten, in denen Bildung und gesellschaftliche Teilhabe verstärkt wieder von Herkunft und ökonomischen Faktoren abhängen, bei der Suche nach sozialer Gleichheit beziehungsweise Ungleichheit auf Merkmale, die die soziale Lage anzeigen, nicht verzichten.

Der Forschungsansatz von Sinus Sociovision versucht bei der lebensstilistischen Identifikation gesellschaftlicher Großgruppen, der so genannten Milieus, beides zusammenzubringen. Der Raum, in dem sich diese Lebensstilgruppen, Milieus oder Lebenswelten entfalten, ist vertikal durch die soziale Lage definiert und horizontal durch Grund- oder Wertorientierungen. "Das Sinus-Modell berücksichtigt in erster Linie die Dimension der Wertorientierungen, Lebensstile und ästhetischen Präferenzen, nimmt aber auch Bezug auf die soziale Lage. Im Unterschied zu Lifestyle-Typologien, die vergleichsweise rasch sich ändernde Oberflächenphänomene klassifizieren, erfasst das Milieu-Modell von Sinus Sociovision eher die Tiefenstruktur sozialer Differenzierung" (Wippermann/Calmbach 9).

Bei den 14- bis 19-Jährigen, die im Folgenden näher in den Blick genommen werden, wurde die soziale Lage über den Indikator Bildung bestimmt. Für diese Alterskohorte hat Sinus auch ein eigenes Lebenswelt-Modell entwickelt. Die Gliederung der sozialen Lage mit Hilfe der formalen Schulbildung ist insofern zulässig, da, wie andere Jugendstudien und Bildungsstudien hinreichend festgestellt haben, Bildung ein guter Indikator dafür ist. Im Unterschied zum allgemeinen Milieumodell sind die Wertebereiche B (moderne Werte in materiellen und postmateriellen Orientierungen) und C (postmoderne Orientierungen in Multioptionalität und Neukreation) noch einmal unterteilt. In dieses Schema verortet sind sieben jugendliche Lebenswelten, die einen jeweils spezifischen und typischen Umgang mit Lebensfragen und Lebensaufgaben, eine typische "Logik", aufweisen.

'Traditionelle Jugendliche' bilden mit einem Anteil von 4 Prozent die einzige im traditionellen Wertebereich verbliebene Lebenswelt. Sie verfügen über eine mittlere bis hohe formale Bildung. Ihre typische Logik dreht sich um die Reproduktion des Vorfindlichen. Sie wollen die Werte, Orientierungen und sozialen Formen der eigenen Familien übernehmen und fortführen. Die 'Bürgerlichen Jugendlichen' bilden die gehobene Lebenswelt (Anteil von 14 Prozent) im ersten Teil des Wertebereiches der modernen Orientierungen. Ihre Logik heißt "Wegkommen und Ankommen": heute Spaß haben und trotzdem sich anstrengen, um später ein "normales" modernes Leben zu führen; modisch, aber normal sein, auf keinen Fall als altbacken gelten und auch nicht als ausgeflippt; sich jetzt vom Lebensentwurf der Eltern moderat abgrenzen und diesen Lebensentwurf später anstreben, ist typisch für diese Lebenswelt.

Die 'Konsum-Materialistische Lebenswelt' (Anteil 11 Prozent) ist im selben Wertebereich wie die niedrige soziale Lage. Diese Lebenswelt junger Menschen ist, angesichts einer prekären materiellen Absicherung und einer geringen emotionalen Verlässlichkeit der Eltern, geprägt von der Erfahrung, auf sich allein gestellt zu sein. Junge Menschen in dieser Lebenswelt suchen materiell und emotional Anschluss vor allem an die bürgerliche Lebenswelt: Sie wollen sich etwas leisten und kaufen können, wollen am Lifestyle teilhaben und wünschen sich eine heile Familie. Ihre Logik heißt Ankommen, ihre Alltagserfahrung ist Ablehnung.

'Postmaterialistische Jugendliche' (Anteil 6 Prozent) bilden im zweiten Sektor des modernen Wertebereiches die Lebenswelt mit der höchsten formalen Bildung. Ihre Logik ist Kritik auf dem Hintergrund einer idealistischen Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit im globalen Kontext sowie das praktische Streben nach einer veränderten, besseren Welt. Im Unterschied zu den siebziger und achtziger Jahren hat diese Lebenswelt kein gemeinsames gesellschaftliches oder politisches Projekt mehr.

Die mittlere und geringere formale Bildung in diesem Wertebereich wird von der Lebenswelt der Hedonistischen Jugendlichen abgedeckt. Ihre innere Logik ist bestimmt durch die Einstellung "Leben jetzt" und durch Abgrenzung. Diese Lebenswelt ist mit 26 Prozent quantitativ die bedeutsamste bei den Jugendlichen. Für einen Teil (rund 40 Prozent beziehungsweise 10 Prozent aller Jugendlichen) ist sie Durchgangsstadium innerhalb der Entwicklung psychischer und sozialer Identität. Für diesen Teil dient die Lebenswelt vor allem dazu, sich von etablierten, bürgerlichen, postmateriellen und traditionellen Eltern abzusetzen und abzulösen.

Die hedonistische ist die Lebenswelt der Jugendszenen mit ihrem Selbstverständnis als Protagonisten der Spaßgesellschaft, als subkulturelle Elite der Unangepassten, mit Unlust gegenüber allem Fremdbestimmten, allem, was keinen Spaß macht und Anstrengung kostet.

Die 'Performer-Jugendlichen' bilden die Lebenswelt im ersten Teil der postmodernen Orientierungen. Mit einem Anteil von 25 Prozent sind sie ähnlich bedeutsam. Ihre Logik ist die "Multioptionalität". Hier versammeln sich die, die den Leistungsansprüchen und Lebensstilen, die eine postmoderne Leistungs-, Medien- und Erlebnisgesellschaft an ihre jungen Eliten formuliert, am stärksten entsprechen, sie internalisiert haben. Formal hoch gebildet, leistungs- und zielorientiert, selbstsicher, ehrgeizig und pragmatisch bereiten sie sich auf attraktive, gut bezahlte Jobs vor und genießen gleichzeitig Freiheit und Freizeit in vollen Zügen. Sie verbinden eine affektiv-genussvolle Gegenwartsorientierung mit einer rational-strategischen Zukunftsplanung.

Die Lebenswelt der 'Experimentalistischen Jugendlichen' (mittel bis hoch gebildete postmoderne Werteavantgarde mit einem Anteil von 14 Prozent) schließlich ist geprägt von "Exploration und Kreation". Man ist auf Dauersuche nach dem eigentlichen Leben, nach der wirklichen Welt. Der Zugang zu dieser Welt gilt als verstellt von Konventionen, unhinterfragten Gültigkeiten und Alltagsroutinen. Deshalb sind voreingestellte und konventionelle Wahrnehmungen zu durchbrechen. Herausgelöste Fragmente verschiedener auch paradoxer stilistischer und ästhetischer, semantischer und weltanschaulicher Muster werden neu zusammengestellt (Synästhesie), um etwas Neues zu kreieren.


Kirche, Gemeinde und Glauben müssen zum Lebensstil passen

Auch wenn wir es schon wussten, ist doch frappierend festzustellen, wie selbstverständlich (junge) Menschen heute Kirche, ihre inhaltlichen Ansprüche und sozialen Formen, aus der Warte der eigenen Lebensplanung und -gestaltung beurteilen. "Typisch für alle Jugendlichen und Jungen Erwachsenen ist, dass sie das Image der Kirche sowie kirchlicher Organisationen vor dem Hintergrund ihrer eigenen kulturellen Orientierungen und Präferenzen bewerten, für anschlussfähig oder für inkompatibel befinden" (Wippermann/Calmbach 28). Kirche kann auf so gut wie kein "Selbstverständlichkeitspotenzial" oder "Verpflichtungspotenzial" mehr bauen.

Gut zeigen lässt sich dies an der Art und Weise, wie in den Lebenswelten aus den drei unterschiedlichen Grundorientierungen vorgefertigte Antworten auf die Frage nach richtig und gut akzeptiert werden. In der traditionellen Orientierung ist man bereit, vorgefertigte Antworten zu akzeptieren, denn ein "zentraler Baustein sind Loyalität und Prinzipientreue, eng konnotiert mit Eindeutigkeit, Treue, Unbedingtheit, Disziplin, Dauerhaftigkeit, moralische Überlegenheit". Was gut ist, erfolgreich war, funktioniert und sich praktisch bewährt hat, wird im Zuge einer für diese Lebenswelt typischen "Reproduktionslogik" zum Rezept gemacht (Wippermann/Calmbach 27).

Kirchliche Aussagen werden deshalb geschätzt. Die Logik der Postmateriellen Orientierung besteht in Kritik und Weltverbesserung. Sie arbeitet sich an vorgefertigten Ansichten ab und sucht Gesprächspartner für die Findung eigener Wertvorstellungen. Sie wollen "die von ihnen für richtig gehaltenen Prinzipien und Ideale im Rahmen von einflussreichen und ambitionierten Institutionen umsetzen".

Kirche ist dann relevant, wenn sie den "Traum von der Umwandlung der Mehrheitsgesellschaft" ideell und praktisch stützt. Experimentalismus dagegen ist Exploration und Kreation, alles Vorgefertigte hat keinen Platz. Allen "präjudizierten Antworten und der Beschränkung des Suchhorizonts - das gilt für Fragen nach der Moral ebenso wie für die Fragen nach Lebenssinn und Religion", wird mit Misstrauen begegnet.

Die bisherige pastorale Perspektive dreht sich: Nicht Kirche, Gemeinde und Glaube können sich in den Lebenswelten verankern, sondern sie werden dort relevant, wenn sie passen und die dort herrschenden "Logiken" unterstützen. Lebensweltliche Passung und Funktionalität schlagen sich in sozialer und biographischer Nützlichkeit nieder.

Nicht die Kirche greift auf bestimmte Lebenswelten zu, sondern die (jungen) Menschen bauen Kirche in ihr Leben ein, wenn es in ihr Selbstbild und in ihren Lebensentwurf passt und wenn es soziale Anerkennung bringt. Der Zugriff wird von zwei Fragen geleitet: Bringt mich eine Mitgliedschaft in einer kirchlichen Gruppe, einem Verband praktisch weiter und wie sehe ich mit Kirche aus? In diesen Fragen liegen bereits die Antworten, wie die Sinus-Forscher drastisch formulieren: "Die katholische Jugendarbeit müsste mich praktisch weiterbringen" und "Mit Kirche darf ich nicht 'scheiße' aussehen!" Aber "es genügt heute nicht mehr, aufgrund der Mitgliedschaft nicht als rückständiger, biederer Außenseiter zu gelten. Vielmehr müssen die katholischen Verbände glaubhaft kommunizieren, dass man bei ihnen besonders 'in' und innovativ, modern und überlegen ist, beziehungsweise solche Leute trifft".

Was die Studie für BDKJ und Misereor feststellt, gilt für alle kirchlichen Bereiche: "Jugendliche würden wissen wollen, ob und wie man selbst aufgrund der Teilnahme und Mitgliedschaft (...) besonders 'schön' aussähe" (Wippermann/Calmbach 31-32). Teilnahme und Mitgliedschaft an kirchlichen Veranstaltungen und Organisationen müssen demnach geeignet sein, die Vorstellungen von der eigenen Persönlichkeit auszudrücken und müssen positive Resonanz im Umfeld der Gleichaltrigen erzeugen.

Nicht zuletzt deshalb war für viele kirchlich gebundene Jugendliche der Weltjugendtag ein wichtiges Ereignis, da sie unter Gleichaltrigen selbstbewusst bekennen konnten: "Ich war auch dabei", und sie sich nicht wie üblich mit der skeptisch abwertenden Frage konfrontiert sahen: "Wie, du bist bei dem Verein?"


"Ihr seid nur um den Preis der Anpassung an uns willkommen!"

Bei den bürgerlich orientierten Jugendlichen wird die Frage nach der sozialen Nützlichkeit im Sinne von Anerkennung mit rund 15 Jahren virulent. Bürgerliche Jugendliche verfügen, wenn die Eltern kirchlich sind, über eine kirchliche Normalbiographie. Firmung hat subjektiv eine große Bedeutung. Das Mitmachen in kirchlichen Gruppen oder bei den Ministranten und Ministrantinnen ist vom Motiv der Gemeinschaft mit Gleichaltrigen getragen. Spätestens mit 16 Jahren, wenn viele Gleichaltrige ausscheiden, stehen diese Jugendlichen vor der Alternative, entweder eine andere Rolle in der Gemeinde zu übernehmen (beispielsweise als Gruppenleiter) und damit das Prestige bei den Gleichaltrigen zu riskieren. Oder man steigt aus und verliert damit Ansehen und Position in der Gemeinde (Wippermann/Calmbach 183). Erfahrungsgemäß ist das meist der Zeitpunkt des Abschieds aus der Gemeinde.

Dazu kommt, dass bürgerliche Jugendliche ihr Engagement als Erwachsenwerden begreifen, indem sie immer mehr Aufgaben und Verantwortung übernehmen (Wippermann/Calmbach 182). Jedoch schneiden die herkömmlichen Gemeinden und ihre Pastoral unter den Gesichtspunkten der Aneignung und Wirksamkeit von jungen Menschen betrachtet nicht gerade gut ab: In kirchlichen Gremien beispielsweise gibt es fest eingespielte und gegen Veränderungen resistente Sitzungskulturen und -abläufe, die für junge Menschen nicht dienlich und attraktiv sind.

Ästhetisch dominiert in Gemeinderäumen, Kirchenräumen und Liturgie eine anspruchsvolle und harmonistische Erwachsenenkultur. Mit all dem senden Kirche und Gemeinde trotz allen anderen wortreichen Beteuerungen und Absichtserklärungen ein indirektes Signal aus, das da lautet: Ihr seid nur um den Preis der Anpassung an uns willkommen. Junge Menschen stehen dann vor den Alternativen: Anpassung, Rückzug oder Kampf für Veränderungen. Sie wählen zum großen Teil den Rückzug beziehungsweise wenden sich dort hin, wo sie sich willkommen fühlen.

Dazu kommt ferner, dass junge Menschen mit ihrer Gemeindeaktivität bei Gleichaltrigen aufgrund des Images von Kirche nicht "gut ausschauen". Überspitzt gesagt müssen junge Menschen, wenn sie sich in der Gemeinde engagieren, zu Helden werden: Es gilt einen (aussichtslosen?) Kampf um Gestaltungs- und Wirksamkeitsraum aufzunehmen ohne die Anerkennung durch Gemeindemitglieder und Gleichaltrige.

Die Erwartung biographischer Nützlichkeit wird explizit vor allem in der Lebenswelt der "Performer-Jugendlichen" geäußert. Sie suchen für sich selbst Knowhow und Fachkompetenzen. Sie greifen auf solche Optionen zurück, "in denen die Verheißung dominiert, damit weiter zu kommen als andere: einen Vorsprung zu haben, exklusive Erfahrungen zu machen, die später praktisch verwertbar sind" (Wippermann/Calmbach 29), wie etwa durch einen Freiwilligendienst im Ausland, der sich in der Biographie gut macht.

Junge Menschen greifen also auf Kirche und Gemeinde zurück - und sie meinen damit das, was sie an herkömmlicher gemeindlicher Pastoral erlebt haben -, wenn sie passgenau und nützlich sind und den eigenen Lebensentwurf unterstützen. Deshalb verwundert es nicht, wenn die Sinus-Forscher feststellen, dass der "Rekrutierungsschwerpunkt kirchlicher Jugendverbände" sich auf die traditionelle, bürgerliche und postmaterielle Lebenswelt beschränkt (Wippermann/Calmbach 25). Insgesamt sind das rund 26 Prozent der Jugendlichen. In den anderen Lebenswelten wird Kirche auf unterschiedliche Weise deutlich dysfunktional wahrgenommen: Sie gilt als Ort der lokalen Beschränkung und der technischen und kulturellen Rückständigkeit, wo sich die falschen Leute aufhalten; sie ist Spaßbremse und willkommene Negativfolie der Abgrenzung von der Erwachsenenwelt. Darüber hinaus gibt es mit diesen Lebenswelten schlichtweg einige unüberbrückbare Inkompatibilitäten beispielsweise in der Art und Weise, wie man sich sozial bindet oder wie man mit vorgefertigten Antworten auf Sinnfragen umgeht.

Mit der Distanz gerade zu den Lebenswelten der Performer und der Experimentellen Jugendlichen steht Kirche in der Gefahr, den Anschluss an die gesellschaftliche Entwicklung zu verlieren. In den neunziger Jahren war das Postmoderne Milieu das gesellschaftliche Leit- und Avantgarde-Milieu, in dem auch kirchliche Akteure eine bedeutsame Rolle gespielt haben. In den neuen Leitmilieus - die Sinus-Forscher vermuten, dass die Experimentellen die Logik der Postmodernen (Wippermann/Calmbach 23) und vielleicht auch deren gesellschaftliche Funktion übernommen haben - dagegen gilt Kirche mehr oder minder als Teil des wenig Zukunftsfähigen.

Alle Versuche, mit den herkömmlichen kirchlichen Formen auf die neuen Lebenswelten zuzugreifen, scheinen vor diesem Hintergrund vergebens. Es braucht neue Orte und Formen, die nicht mit den Kriterien der gemeindlichen Pastoral beurteilt werden können.

Gleich wichtig ist jedoch auch der Blick auf die mit gemeindlicher Pastoral kompatiblen Lebenswelten. Interessanterweise bringen die Befragten beim Thema Kirche sofort den Sonntagsgottesdienst ins Spiel. Das Urteil darüber ist in allen drei kirchlich kompatiblen Lebenswelten gleich vernichtend. Die Wunschliste der bürgerlichen und der postmodernen Jugendlichen liest sich zeitweise wie ein Auszug aus dem Programm von Jugendkirchen: andere Musik, andere Sprache, Atmosphäre, Gemeinschaft, Medien, Symbole. Am Gottesdienst entzündet sich, was symptomatisch ist für den ganzen Bereich der gemeindlichen Pastoral: die stilistisch-ästhetische Ausgrenzung junger Menschen, die von der Liturgie bis zur Gremienkultur reicht.

Ein Fehler darf allerdings auch nicht gemacht werden, die Präsenz von Kirche auf "Rekrutierungsschwerpunkte" zu reduzieren. Junge Menschen, gerade auch im Bereich der konsum-materialistischen Lebenswelt, haben vielfach Kontakt zu Kirche und Jugendarbeit über offene und karitative Einrichtungen. Allerdings schlägt dieser Lebenswelt gerade und vor allem von den kirchlichen Schwerpunktlebenswelten die meiste Ablehnung entgegen.

Der Grund dafür ist nicht "die geringe Bildung, sondern der elterliche Hintergrund (meist ebenfalls Konsum-Materialisten) sowie die konsum-materialistische Logik, Stilistik und Lebensart (...) Die Realität ist in der Regel eine selbstverordnete und selbstbewusste Kontaktsperre. Konsum-materialistische Jugendliche geraten früh in eine lebensweltliche Enklave; sie empfangen vielfältige Signale der Ablehnung und Unerwünschtheit. Das gilt auch für Mitglieder im katholischen Jugendverband, die meist aus dem traditionellen oder bürgerlichen Segment kommen und ihre Distinktion - natürlich latent bzw. verbrämt - zum Ausdruck bringen. Vor allem gehobenen Traditionellen, intellektuell/ökologisch/feingeistig ambitionierten Postmateriellen und erst recht Modernen Performern sind jene 'Prolos' einfach zuwider" (Wippermann/Calmbach 33).

Dies macht deutlich, dass stilistisch-ästhetische Distinktionen auch für die Pastoral prägend sind und lebenswelt-integrative Konzepte, wie es die Gemeinde von ihrem Anspruch her eines ist, erschweren. Die (oftmals theologisch beklagte) Distanz diakonischer Arbeit zum pfarrgemeindlichen Leben könnte angesichts der lebensweltlichen Distinktionen auch als Modell angesehen werden, wie Kirche in anderen Lebenswelten relevant sein kann: die Arbeit von den Fragen und Bedürfnissen der Menschen her zu entwerfen, auf ein "mehr an Leben" für die Menschen zu zielen und nicht die Teilnahme an traditionellen kirchlichen Lebensformen zum Kriterium der Arbeit zu machen.


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Der promovierte Theologe Hans Hobelsberger (geb. 1960) ist Referent für Jugendpastorale Bildung bei der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz. Freiberuflich tätig in Projektberatung und Fortbildung; zahlreiche Veröffentlichungen zu jugendpastoralen Themen.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 6, Juni 2008, S. 295-299
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2008