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LATEINAMERIKA/070: Militärdiktatur - Dokumentation kehrt zurück nach Brasilien (ÖRK)


Ökumenischer Rat der Kirchen - Pressemitteilung vom 14. Juni 2011

ÖRK übergibt dokumentation über verbrechen der militärdiktatur an brasilianische staatsanwaltschaft


Während der zwei Jahrzehnte andauernden brutalen Diktatur in Brasilien fanden 1979 kirchliche Mitarbeitende und oppositionelle Anwälte ein Schlupfloch im Justizsystem, das es ihnen ermöglichte, Belege für Gräuel und sonstige Rechtsverletzungen zu sammeln, die das Militärregime verübte.

Über die nächsten sechs Jahre wurden essenzielle Informationen zu den Verbrechen, die die Regierung am brasilianischen Volk beging, heimlich fotokopiert und von Brasilia über São Paulo außer Landes gebracht.

Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) war, in Zusammenarbeit mit Verantwortlichen aus Kirchen vieler Traditionen, einer der Hauptakteure beim Sammeln der Dokumentation. Ein erheblicher Teil der Materialien befindet sich bis heute im Archiv des ÖRK in Genf (Schweiz).

Am 14. Juni 2011 werden ÖRK-Generalsekretär Pastor Dr. Olav Fykse Tveit, der brasilianische lutherische Kirchenpräsident Pastor Dr. Walter Altmann, der Vorsitzender des ÖRK-Zentralausschusses ist, und andere kirchliche Persönlichkeiten drei Archivkästen mit Kopien des beim ÖRK gelagerten Beweismaterials zu dem leidvollen Abschnitt der brasilianischen Geschichte unter der Militärherrschaft von 1964 bis 1985 an die brasilianische Staatsanwaltschaft übergeben.

Die offizielle Übergabe findet um 14:30 Uhr Ortszeit in den Räumen der Staatsanwaltschaft in Sao Paulo statt. Mehrere Redebeiträge von kirchlicher und staatlicher Seite sind vorgesehen, unter den Mitwirkenden sind auch zwei Folteropfer, die ökumenische Organisationen vertreten werden.

Die Dokumente aus dem Genfer Archiv sollen von Mitarbeitenden der Staatsanwaltschaft untersucht und dann dem brasilianischen Generalstaatsanwalt übergeben werden.

Die Unterlagen werden der Staatsanwaltschaft dabei helfen, grundlegende Informationen zu ersetzen, die aus den Akten des Militärgerichtshofs verschwunden sind.

Unter den verschollenen Dokumenten befinden sich Folterberichte politischer Gefangener samt der namentlichen Nennung derjenigen Personen, die die Folter verübten. Im Rahmen der Wiederherstellung der Akten werden ihre Inhalte digitalisiert und unter dem Titel "Brasil Nunca Mais [Brasilien: Niemals wieder] Digital" öffentlich zugänglich gemacht.

Im Juli 1985, vier Monate nach Wiedereinsetzung der Zivilregierung, war ein Bericht über 707 Gerichtsverfahren aus der Zeit der Militärherrschaft veröffentlicht worden. Das Buch in portugiesischer Sprache trug den Titel "Brasil: Nunca Mais" und wurde umgehend zum Bestseller.

Es fasste die vollständige, mit 6.891 Seiten sehr viel umfangreichere Dokumentation der Verfahren zusammen. "Brasil: Nunca Mais", nur 312 Seiten lang, wurde innerhalb der ersten gut zwei Jahre zwanzig Mal nachgedruckt und liegt inzwischen in der 37. Auflage vor. Der römisch-katholische Kardinal Paulo Evaristo Arns (Sao Paulo) sowie ÖRK-Generalsekretär Pastor Dr. Philip Potter stellten der Veröffentlichung jeweils ein Geleitwort voraus.

Pastor Charles R. Harper, von 1973 bis 1992 Referent des ÖRK-Büros für Menschenrechtsfragen in Lateinamerika, beschreibt die Rolle der Kirchen in der Begleitung von Oppositionsbewegungen in den Diktaturen der so genannten "schmutzigen Kriege" der damaligen Zeit unter anderem in seinem Buch: "O Acompanhamento: Ecumenical Action for Human Rights in Latin America 1970-1990" (ÖRK-Veröffentlichungen 2006), das den christlichen Widerstand in Brasilien und sechs Nachbarländern darstellt.

Harper erinnert sich: "Der ÖRK hatte bereits Kontakte zur brasilianischen Ökumene aufgebaut. Er war seit den frühen 1970er Jahren beteiligt an der Zusammenstellung von Berichten über widerrechtliche Verhaftungen und Folter und hatte durch seine Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten die über Rechtsbrüche und Folter gesammelten Informationen an die zuständigen Einrichtungen des UN-Systems sowie an interessierte Regierungen weltweit weitergegeben."

Zur Sammlung von Gerichtsprotokollen erklärt Harper: "Bis 1980 lief das Projekt auf vollen Touren. Es unterlag absoluter Geheimhaltung. Anwälte, die mit dem Team zusammenarbeiteten, stellten unter dem Vorwand, Amnestiegesuche vorbereiten zu wollen, Antrag auf Akteneinsicht. Die Dokumente wurden fotokopiert und, ohne bei den Behörden Verdacht zu erregen, wieder zurückgegeben. Die Kopien wurden in aller Eile zu einem zentralen Versteck in einem Warenlager in São Paulo gebracht, wo sie gesammelt wurden."

Eine nationale Ehrung bzw. Gedenkfeier ist geplant für diejenigen, die die Gerichtsakten sammelten und später veröffentlichten; zu nennen sind insbesondere Kardinal Arns, der presbyterianische Pastor Jaime Wright, Ricardo Kotscho, Carlos Alberto Libanio Christo (Frei Beto), Luiz Eduardo Greenhalgh, Luis Carlos Sigmaringa Seixas, Paul Vannuchi und Eny Raimundo Moreira. Das Programm der Veranstaltung (in portugiesischer Sprache) ist zugänglich unter:
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=da035580047fcc9cbfc2

ÖRK-Bibliothek und -Archiv im Internet (auf Englisch und Französisch):
http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=8c235adfdd764f0fae25
Link: http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=a0668794baeed60cd7de

ÖRK-Menschenrechtsarbeit
Link: http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=fc0c4717d88ac66cfaf6

Charles R. Harper: O Acompanhamento (auf Englisch):
Link: http://www.oikoumene.org/index.php?RDCT=a0066f0d36dbd0e098a7


Der Ökumenische Rat der Kirchen fördert die Einheit der Christen im Glauben, Zeugnis und Dienst für eine gerechte und friedliche Welt. 1948 als ökumenische Gemeinschaft von Kirchen gegründet, gehören dem ÖRK heute mehr als 349 protestantische, orthodoxe, anglikanische und andere Kirchen an, die zusammen über 560 Millionen Christen in mehr als 110 Ländern repräsentieren. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche. Der Generalsekretär des ÖRK ist Pfarrer Dr. Olav Fykse Tveit, von der (lutherischen) Kirche von Norwegen. Hauptsitz: Genf, Schweiz.


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Quelle:
Pressemitteilung vom 14. Juni 2011
Herausgeber: Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK)
150 rte de Ferney, Postfach 2100, 1211 Genf 2, Schweiz
E-Mail: ka@wcc-coe.org
Internet: www.wcc-coe.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juni 2011