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STANDPUNKT/311: Freiheit eines Christenmenschen bewährt sich in Solidarität (Junge.Kirche)


Junge.Kirche 2/2008
Unterwegs für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung
Focus dieses Heftes: Wir sind so frei

Die Freiheit eines Christenmenschen bewährt sich in der Solidarität

Von Friedrich Schorlemmer


Eine verkehrte Welt

BMW macht große Gewinne, und trotzdem werden 8.000 Mitarbeiter entlassen, weil die Dividende nicht hoch genug gewesen sei. Hohe Gewinne der einen werden zu existenzbedrohenden Verlusten für die anderen. Dieter Zetsche bekommt von Daimler 8,5 Mio Euro pro Jahr. Kann das ein einzelner Mensch allen Ernstes verdienen?

Unser freiheitlicher Sozialstaat trudelt in eine Krise. Was nützt einem die (prinzipielle) Freiheit, wenn er nichts hat, nicht gebraucht wird, nicht gefragt wird, sondern das Gefühl hat, dass über ihn verfügt wird? Wer ohne Ersparnisse alt wird, wer dauerhaft krank ist, wessen Arbeit gefährdet oder wer schon arbeitslos ist, wird künftig noch schlechter dastehen. Und für viele Jüngere steht die Arbeitswelt erst gar nicht mehr offen. Das "Präkariat" wächst an. Das bisherige System der Finanzierung unseres Kranken-, Sozial- und Rentensystems trägt nicht mehr. Ohne grundlegende Reformen steuern wir auf einen Kollaps zu. Jeder kann täglich optisch verfolgen, wie unsere Gesellschaft altert. Jeder kann sich ausrechnen, wie dramatisch die Folgen der Vergreisung werden, sofern wir nicht wenigstens drastisch die Quote der Zuwanderung erhöhen und alles für aktivere Familienpolitik tun, damit nicht mehrere Kinder weiter als erhöhtes Armutsrisiko gelten. Oder: Jeder, der sehr viel "kriegt", muss sich fragen, ob er das "verdient". Und umgekehrt: Hat einer, der mit 45 aus dem Arbeitsprozess heraus fällt und keine Arbeit wiederfindet, das "verdient"? Die ganze Welt ist "in der Habsucht ersoffen wie in einer Sintflut", schrieb Luther. Noch schärfer Jesus: "Wenn die Ungerechtigkeit überhand nehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten."

Verkehrte Welt, wenn der einstige Erfinder der Wahlkampfparole "Freiheit statt Sozialismus" (Heiner Geißler) seit einigen Jahren nicht die Freiheit, wohl aber die Solidarität gefährdet sieht und seiner CDU den Mut empfiehlt, mit der Formel "Solidarität statt Kapitalismus" offensiv in die Debatte zu gehen. Uns allen ist eine außerordentliche moralische, soziale und finanzielle Anstrengung abverlangt. Wenn nicht Krieg oder Inflation wieder Auswege sein sollen, braucht es Mut aller zu Reformen, die den Namen verdienen und nicht faktischen Abbau von sozialen und freiheitlichen Rechten bedeuten.


Die ganze Welt ist 'in der Habsucht ersoffen wie in einer Sintflut'. (Martin Luther)
Wenn die Ungerechtigkeit überhand nehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten. (Jesus)


Es geht um Gerechtigkeit

Die Idee der Gerechtigkeit bleibt grundlegendes Ordnungsprinzip des freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsmodells, selbst unter den Bedingungen der Globalisierung. Was hieße da Freiheit? Dass jedem sein Recht zukommt, als Person anerkannt zu werden, ein menschenwürdiges Dasein zu führen, grundlegende materielle und immaterielle Möglichkeiten vorzufinden, um sein Leben in eigener Verantwortung zu gestalten, in der Gesellschaft mitzubestimmen und darin mitzuwirken. Dabei bleibt anerkannt, dass jedem auch das Recht zukommt, all jenes sein unbestrittenes Eigentum zu nennen, was er aufgrund anerkannter Regeln durch eigene Leistung geschaffen oder erworben hat. Nur wo Leistung sich lohnt, wird sie auch erbracht, und wo sie erbracht wird, muss sie zugleich zum Gemeinwohl in ein angemessenes Verhältnis gesetzt werden. Genau dies hatten wohl die Verfasser des Grundgesetzes im Auge, als sie das Recht auf Eigentum ebenso schützten, wie sie von der Verpflichtung des Eigentums für das Gemeinwohl sprachen. Gerechtigkeit zielt auf die gerechte Verteilung von Rechten und Pflichten im Gemeinwesen, in dem der Einzelne gleichberechtigte Chancen mitzuwirken erhält und dann entweder etwas von seinen "Überschüssen" in das Gemeinwesen einspeisen kann bzw. von diesem Überschuss - und sei es recht bescheiden, aber nicht unwürdig - leben kann. Der Staat muss Instrumentarien entwickeln bzw. erhalten, um verteilende Gerechtigkeit im Dienste des inneren Friedens und als Ausdruck erfahrbarer unveräußerlicher Lebensrechte eines jeden Einzelnen durchzusetzen. Zugleich hat jeder Einzelne seinen Beitrag zu leisten und das zu tun, was ihm zukommt und ihm zumutbar ist. So, wie die Stärkeren von dem, was sie haben, abgeben können, müssen die Schwächeren indes selber so viel tun, wie sie einbringen können und etwa angebotene Arbeit annehmen, statt sich selbst passivierend Nichtarbeit bezahlen zu lassen. Dies erfordert neben der gesetzlichen Regulierung eine Haltung, die nicht besser als mit dem Wort Solidarität zu umschreiben ist - als Solidarität der Stärkeren mit den Schwächeren. Dazu gehört das Teilen von Verantwortlichkeit (also Mitbestimmung) sowie die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit aller, damit der staatsbürokratische Moloch den Bürgern nicht jede Lebensvorsorge abnimmt, statt ihre Eigeninitiative zu fördern. Dieses Freiheitsrecht ist auch eine Pflicht! Es gehört zu den Aufgaben des Gemeinwesens, jedem eine reale Chance solcher Selbstentfaltung zu bieten, statt kalt zu sagen: Nimm das Risiko des Lebens selbst in die Hand! Findest du keine Anstellung, so bilde eine Ich-AG!

Gerechtigkeit heißt politisch: die konsequent angestrebte Teilhabe aller am gesellschaftlichen Prozess und am gesellschaftlichen Reichtum. Der Zementierung von Ungleichheit muss der Staat gesetzgeberisch entgegenwirken. Leistungsanreiz und Solidaritätsgefühl für die, die nicht viel leisten konnten, das sind die beiden Säulen für inneren Frieden und für Freiheit.

Gerechtigkeit, das ist nicht bloß die potenzielle, das ist die realisierbare selbstbestimmte Entfaltungsmöglichkeit des Einzelnen und die ihm abverlangte, aber eben auch ermöglichte Selbstanstrengung. Der Staat übernimmt die gesetzlich fixierte Ausgleichsfunktion, die nicht in das Ermessen des Einzelnen gestellt werden kann; daneben trifft der Einzelne für sich und für andere (Angehörige und Zugehörige) je nach seinen Möglichkeiten eigene Daseins- und Risikovorsorge. Die oft anzutreffende Verkrampfung, alles, was man hat, auch behalten zu wollen, entspricht einer Mentalität, seine Hand anspruchsvoll (lediglich!) offen zu halten. Wo Gier nach Geld die Hirne besetzt, schwindet nicht nur das Solidaritätsgefühl, sondern auch das Gefühl für die menschliche Würde, die das würdige, selbstbestimmte Leben jedes einzelnen Menschen meint. Wo die Grundwerte der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität als Geschwisterlichkeit faktisch infrage gestellt werden, steht die freiheitliche Ordnung selbst zur Disposition.


Die Neuordnung des Sozialstaats

Eine der Hauptursachen für die Verletzung der Menschenwürde ist die inzwischen global wirkende totale Macht des Geldes im sich globalisierenden Neoliberalismus. Wenn Unternehmen lediglich nach der Kapitalrendite fragen, die das Unternehmen auswirft, werden aufgrund fortschreitender Erübrigung von Menschen die Folgen für den gesamtgesellschaftlichen Reichtum - auf nationaler und internationaler Ebene - verheerend. Wo ethische Gesichtspunkte hinter Kostengesichtspunkten völlig verschwinden, ist nicht mehr wichtig, was wir wollen, sondern nur noch das, was wir uns gerade jetzt leisten können. Ohne eine ethische Fundierung wird jede Politik wetterwendisch, von Einflüssen und Interessen der ökonomisch Mächtigen weiter abhängig. Wir stehen vor der Alternative: entweder entwickelt die Völkergemeinschaft ein nachhaltiges Gesamtkonzept - zusammen mit einem allgemeinen Bewusstsein unserer konkreten Mitverantwortung für den Fortbestand des Oikos - oder die Welt taumelt unter kurzfristigen Partikularinteressen mittelfristig ins politische, ökonomische und ökologische Desaster.

Wo Solidarität und Gerechtigkeit als Grundprinzipien der freiheitlich-sozialen Rechtsordnung gelten, hat "der Staat" entscheidend dazu beizutragen, dass die Grundrisiken des menschlichen Lebens (Alterssicherung, Krankheit, so genannte Daseinsrisikovorsorge, Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit, Unfall) abgesichert sind. Privatisierung ist nur eine Lösung für den vermögenderen Teil der Gesellschaft. Freilich kann niemand die Augen davor verschließen, dass wir aufgrund der längerfristigen, strukturell bedingten Arbeitslosigkeit und der dramatischen demographischen Schieflage den Arbeitslohn nicht mehr als ausschließlichen Bezugsfaktor für die Sozialsysteme heranziehen können. Mir scheint es unumgänglich, dass das Prinzip gelten muss: Alle zahlen von allem für alle. Das heißt: Alle zahlen ihre Beiträge von ihrem gesamten Einkommen (also neben dem Lohn werden Kapitalerträge, Mieten, Gehälter, Diäten etc. etc. einbezogen). Gerechtigkeit heißt: Wer mehr kann, muss auch mehr tun - zumal viele, die nicht so viel tun können, nichts dafür können, dass das so ist. Das darwinistische Prinzip, wonach immer der Stärkere siegt und der Schwächere marginalisiert wird, ist kein menschliches. Was als Eigenverantwortung und Risikoübernahme durch den Einzelnen propagiert wird, ist überwiegend Existenzkampf der Stärkeren - ohne Rücksicht auf die Schwächeren.

Der deutsche Sozialstaat, der auf florierende Wirtschaft mit Vollbeschäftigung bei stetig steigender Produktivität setzte, ist durch Marktsättigung und strukturelle Arbeitslosigkeit in eine Sackgasse geraten. Politik muss darauf frühzeitiger und mutiger reagieren. Und die Bürger haben Reformen zu akzeptieren, wissend, was sie akzeptieren, indem ihnen klar wird, was sie riskieren, wenn sie Reformen nicht akzeptieren. Politik hat sich bisher nicht genügend der Vermittlungsaufgabe gestellt; übrig bleibt das Gefühl, dass alle "geschröpft" würden, bis der Neid der Ärmeren und Empörung der Reichen sich zu einer einzigen Ablehnungsfront zusammentun. Weniger Arbeit bedeutet ja weniger Steuer-, Sozial- und Rentenversicherungszahler, also immer mehr Sozialleistungsempfänger, also mehr Aufwendungen - und zugleich immer weniger Einnahmen. Wenn es nicht zu grundlegenden Änderungen kommt, wird das auf den Faktor Arbeit aufbauende deutsche Sozialsicherungssystem unweigerlich kollabieren.

Unser Gemeinwesen, das Parlament, die Kirchen, die Gruppen und jeder Einzelne haben gemeinsam darauf hinzuwirken, dass Reformen Akzeptanz finden, die nicht darauf verzichten, ein menschenwürdiges Leben für alle zu gewährleisten: auf das Recht und die Pflicht aller erwerbsfähigen Menschen, sich durch eigene Arbeit zu versorgen, auf Gerechtigkeit innerhalb und zwischen den Generationen, auf Eigenvorsorge und Eigenverantwortung leistungsfähiger Bürger sowie auf deren Solidarität mit den Leistungsschwächeren.

Gerechtigkeit ohne die innere Bereitschaft und die gesetzlich geregelte Pflicht zu teilen wird es nicht geben. Wer allerdings Gleichheit anstrebt, wird die Leistungsbereitschaft und damit die wirtschaftliche Prosperität abwürgen und zugleich ein mit der Freiheitlichkeit unvereinbares Ziel verfolgen. Der Tisch unserer Gesellschaft wird auch unter globalisierten Bedingungen nur auf drei Beinen stehen können: der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität. Alle drei wurzeln in der Überzeugung von der Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen. Der Begriff der Solidarität verludert, wenn er die Solidarität der Stärkeren mit den Stärkeren und nicht der Starken mit den Schwachen meint, bis nur noch die Schwachen mit den Schwachen ihre nahezu machtlose Solidarität üben können. Dies würde nach Lage der Dinge in der globalisierten, miteinander vernetzten und gegenseitig abhängigen Welt nicht eine Neuauflage von Klassenkampf und Revolutionsideen, sondern schlicht Destruktion und alternativloses Rasen in Sackgassen bedeuten. "Gerechtigkeit erhöht ein Volk", heißt es in der Bibel. Und ohne sie gibt es keine Freiheit.

Friedrich Schorlemmer, Theologe und Publizist


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Inhaltsverzeichnis - Junge.Kirche 2/2008

Focus: Wir sind so frei
- Stichwort "Freiheit" - Alttestamentliche Erinnerungen / Jürgen Ebach
- Ich habe immer von einem freien Europa geträumt / Heidi Vlascenu
- Selig der Mensch / Ernesto Cardenal, Gunther Schendel
- Die Freiheit eines Christenmenschen bewährt sich in der Solidarität /
   Friedrich Schorlemmer
- Die Vertreibung aus der Hängematte / Franz Segbers
- Nach der Party / Gerhard Rein
- Kirche in der Freiheit des Käfigs / Hans-Gerhard Klatt
- Assoziationen zur Freiheit / Andreas Pangritz
- Freies Christentum - Die St. Remberti-Gemeinde in Bremen
- Jesus ist gelebte Freiheit / Manfred Fischer

Forum
- 60 Jahre ÖRK / Ruth Gütter, Christina Biere, Heike Bosien, Martin Robra,
   Martin Schindehütte, Natalie Maxson, Charlotte Eisenberg,
   Luise Albers, Jens Nieper, Reinhard Hauff
- Glaube und Kunst / Auf die Reise gehen
- Das Erbe der Älteren und die Vision der Jüngeren / Elisabeth Raiser &
   Annegreth Strümpfel
- Gott hat mich zu dieser Aufgabe gerufen / Sabina Kihiyo Lumwe
- Natürlich gibt es Dazwischen! Vom Leben auf der Grenze zwischen den Geschlechtern /
   Yvonne Fischer und Ruth Poser
- Fairer Handel Süd-Süd / Niklas Reese, Christel Schwiederski

Sozialgeschichtliche Bibelauslegung
- Leben in Gottes Frieden / Claudia Janssen

Predigt
- Statt: immer mehr - genug für alle / Stefan Weiß

Geh hin und lerne!
- Lies nicht charut - lies cherut! / Gernot Jonas und Paul Petzel


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Quelle:
Junge Kirche, 69. Jahrgang, Nr. 2/2008, Seite 8-11
Herausgeber: Erev-Rav, Verein für biblische und politische Bildung
Redaktion: Junge Kirche, Luisenstraße 54, 29525 Uelzen
Tel. & Fax 05 81/77 666
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Internet: www.jungekirche.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2008