Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → CHRISTENTUM

STANDPUNKT/329: Kirche als Erzählgemeinschaft (Bibel heute)


Bibel heute
Zeitschrift des Katholischen Bibelwerks e.V. Stuttgart - Heft 2/2009

Kirche als Erzählgemeinschaft
BibelText 1 - Wie Jesus im Johannesevangelium zur Nachfolge einlädt
(Johannes 1,29-51)

Von Egbert Ballhorn


Gemeinschaft im Wort ist ein grundlegendes Konzept von Kirche. Das Johannesevangelium zeichnet die Kirche als Gemeinschaft von Menschen, die bereit sind, untereinander und mit Jesus in ein Gespräch einzutreten.


*


Wie Jesus zu Beginn des Johannesevangeliums seine Jünger um sich versammelt, ist eigenartig und völlig unerwartet. Anders als in den anderen Evangelien holt Jesus nicht mit machtvollem Ruf Menschen in seine Nachfolge. Bei Johannes ist es umgekehrt. Da "finden" die Jünger Jesus (V. 35-39). Und vom Finden ist dann auch in den folgenden Versen ständig die Rede. Andreas ist der Erste, der in die Nachfolge eintritt, und er findet (Einheitsübersetzung: "traf") seinen Bruder Simon (V. 41); sodann findet Jesus den Philippus (V. 43), der aber findet den Natanaël (V. 45) und führt ihn zu Jesus.


Nachfolge heißt, einander finden

Nach dem Konzept des Johannes heißt dies Nachfolge: dass Menschen einander "finden". Nicht allein Jesus beruft seine Jünger, sondern diese rufen einander. Nur ein einziges Mal spricht Jesus das "Folge mir nach" (V. 43), und zwar zu Philippus, dann beginnt eine weitere Kette. Was Philippus selbst erlebt hat, gibt er weiter, sodass sich eine neue Dynamik der Nachfolge entwickelt.


Jesus finden heißt, die richtigen Fragen stellen

Bevor die Lehre Jesu beginnt, lehren die Jünger uns, denn sie zeugen von ihrem Finden, ihrer Offenheit für die Anwesenheit Jesu, ihrem Wissen um die Sehnsüchte der anderen, auch um deren Widerstände. Und Jesus? Er lässt sich bereitwillig auf diese Ebene ein. Das erste Wort des Gottessohnes im Johannesevangelium ist keine Aussage, keine Aufforderung, sondern eine offene Frage: "Was sucht ihr?" (V. 38). Die Antwort der Jünger ist genauso wenig selbstverständlich wie die Frage. Es ist eine Gegenfrage: "Rabbi, wo ist deine Bleibe?" Die üblichen Übersetzungen "Rabbi, wo wohnst du?" täuschen über die Tiefe der Frage hinweg. Es geht nicht um einen ersten, äußeren Blick auf die derzeitige Unterkunft Jesu. Vielmehr ist das Wort "bleiben" das Leitwort für das ganze folgende Evangelium. Es ist die Frage, wo man "eingewurzelt" ist. Die Jünger sind bereit, den Dingen auf den Grund zu gehen, zu erfahren, in welchen Urgrund Jesus eingewurzelt ist, und sogleich ist er bereit, es ihnen zu offenbaren. Die Jünger werden lernen, dass Jesus ganz vom Vater her kommt, und dass es durch Jesus auch für sie dauernde Wohnung/Bleibe beim Vater gibt (Joh 14,2). Indem die Jünger also die richtige Frage stellen, setzen sie die ganze Dynamik ihres eigenen Weges mit Jesus zum Vater in Gang. Und genau die offene Einladung, die Jesus als Antwort an sie ausspricht "Kommt und seht" (V. 39), spricht Philippus nur wenige Sätze später zu Natanaël: "Komm und sieh" (V. 46).

Diesen Anfang des Johannesevangeliums kann man als programmatisches Bild von Kirche ansehen. Hier wird uns ein Idealbild von Jüngern gezeichnet, die mit ihren Sehnsüchten und Hoffnungen unterwegs sind. Dies ist mit sensibler Wahrnehmung und mit Kommunikation verbunden. Der Eine weiß um die Sehnsucht des Anderen, tritt zu ihm hin und lädt ihn in die Jesusbegegnung ein, erzählt ihm von seinen Erfahrungen. Aus Sehnsucht wird Offenheit, aus Offenheit wird Frage, aus Frage wird Erfahrung, aus Erfahrung Zeugnis und Antwort.


Gemeinschaft der Nachfolge im Erzählen

Jesus macht den Anschein, als hätte er gerade auf das nur gewartet, denn auch er lässt sich im Gespräch auf die Fragen der Jünger, ihr Suchen, ihre Widersprüche ein. So beginnt das Evangelium, durch das die Jünger immer tiefer in die Wirklichkeit Jesu und des Vaters hineingenommen werden. Und auch wenn sie am Anfang von sich aus zu Jesus gegangen sind, am Ende werden sie erkennen: "Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt" (Joh 15,16). So will Jesus Menschen in seine Gemeinschaft mit dem Vater hineinziehen.

Alle Christustitel kommen in diesem Text in den gesprochenen Bekenntnissen vor: Messias, Herr, Rabbi, Sohn Gottes, König Israels. Zugleich aber werden sie in ein Netz von Verben eingewoben: sehen, hören, nachfolgen, suchen, bleiben, wohnen, kommen, kennen, rufen. Es entsteht eine große Dynamik der Kommunikation. Hier wird uns ein Bild von Kirche als Erzählgemeinschaft vor Augen gestellt, nämlich als Gemeinschaft von Menschen, die offen sind, untereinander und mit Jesus in ein Gespräch einzutreten und sich der Dynamik, die dabei entsteht, anzuvertrauen. So bildet sich Gemeinschaft der Nachfolge. Ein solches Kirchenverständnis kann letztlich nicht mit einer Feststellung, sondern nur mit einer Frage enden: Wo ist meine Sehnsucht, wo will ich bleiben? Auf welche Menschen will ich achten? Wie finden wir den Weg zum Bleiben im Haus des Vaters?


Dr. Egbert Ballhorn ist Diözesanleiter des Katholischen Bibelwerks e.V. und Dozent für Biblische Theologie im Bistum Hildesheim.


*


"Bibel heute" vermittelt 4x im Jahr Informationen und Auslegungen zu biblischen Themen, - auch für Bibel-Einsteiger.
Die Zeitschrift ist für Blinde und Sehbehinderte auch als pdf-Datei erhältlich.
Bestellung: bibelinfo@bibelwerk.de, Tel. 0711/ 6 19 20 - 50


*


Quelle:
Bibel heute - 2. Quartal 2009, Nr. 178, Seite 4-5
Zeitschrift des Katholischen Bibelwerks e.V. Stuttgart
Silberburgstraße 121, 70176 Stuttgart
Tel.: 0711/619 20 50, Telefax: 0711/619 20 77
Internet: www.bibelwerk.de

Erscheinungsweise: viermal jährlich.
Der Bezugspreis für 2008 beträgt:
Einzelheft: 6,- Euro
4 Ausgaben im Jahr (Abo): 22,- Euro
(Schüler, Studenten und Rentner 12,- Euro)


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. September 2009