Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → CHRISTENTUM

STANDPUNKT/335: Die Mauer fiel nicht nur in Berlin (ÖRK)


Ökumenischer Rat der Kirchen - Feature vom 5. November 2009

Die Mauer fiel nicht nur in Berlin

Von Stephen Brown


Die politischen und sozialen Schockwellen, die auf die wochenlangen Pro-Demokratie-Proteste in Ostdeutschland und den anschließenden Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 folgten, waren auf der ganzen Welt zu spüren.

Der südafrikanische Theologe John de Gruchy erinnert sich, dass er während seines Sabbatsemesters am Union Theological Seminary in New York gebeten worden war, einige Tage Gastgeber für den Direktor des ostdeutschen Marxistischen-Leninistischen Instituts zu sein.

De Gruchy entging die Ironie der Situation nicht: Ein weißer, christlicher Theologe aus dem unter Apartheid lebenden Südafrika, der sich viele Jahre hindurch aktiv als Theologe am Antiapartheidkampf beteiligt hatte, war Gastgeber für einen marxistischen Professor aus Ostdeutschland.

Als der Ostdeutsche und der Südafrikaner dann in New York am Fernsehen die Nachrichten verfolgten, sahen sie Berichterstattungen über die zunehmende Krise in Ostdeutschland und die gleichzeitige Eskalation der Proteste gegen die Apartheid in Kapstadt, de Gruchys Heimatstadt.

"Ich wusste, dass dies für die Apartheid der Anfang vom Ende war. [...] Denn ohne den Fall der Berliner Mauer 1989 wäre es unwahrscheinlich, dass die Wende in Südafrika zu dem damaligen Zeitpunkt stattgefunden hätte", sagte de Gruchy Jahre später in einer Rede in Leipzig. Leipzig war eines der Zentren der Protestversammlungen in der Deutschen Demokratischen Republik, die jeweils im Anschluss an Friedensgebete in den Kirchen stattfanden.

"Einige behaupteten sogar, diese Ereignisse bildeten den Auftakt zu einer neuen Weltordnung", stellte de Gruchy in seiner Leipziger Rede fest. "Auch wenn wir dieser Behauptung heute etwas skeptischer gegenüberstehen, haben diese Ereignisse zweifelsohne den Gang der Geschichte verändert, egal wie wir sie bewerten."

Veränderungen vollzogen sich nicht nur in Osteuropa und Südafrika. In Lateinamerika wurden in Chile Vorbereitungen für eine Wahl getroffen, die das Ende der Herrschaft von Augusto Pinochet einläutete, des letzten Militärdiktators auf dem Kontinent.

In Leipzig wie in Kapstadt waren Pfarrer und kirchlich Engagierte häufig unter den Führungsfiguren der Proteste zu finden, sagte de Gruchy.

Der Reflexionsprozess des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung (JPIC) hat in Ostdeutschland eine Katalysatorrolle für den Dissens gespielt. Noch vor der Europäischen Ökumenischen Versammlung 1989 in Basel und der Weltversammlung zu JPIC 1990 in Seoul organisierten die Kirchen in der DDR im April 1989 eine Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Diese Versammlung formulierte in ihrer Schlusssitzung nie dagewesene Forderungen nach einer Reform der DDR.

Für Werner Jarowinsky, den damaligen Sekretär für Kirchenfragen der kommunistischen Partei, stellten diese Forderungen "ein komplettes Programm für die Einrichtung einer Art Oppositionsbewegung" dar. In der Tat enthielten die Forderungen der ostdeutschen Versammlung Vorlagen für die später im Jahr 1989 gegründeten Bürgerbewegungen und neuen politischen Parteien.

Heute stehen zwei Teile der Berliner Mauer im Garten des Ökumenischen Zentrums in Genf, Schweiz, dem Sitz des ÖRK und anderer ökumenischer Organisationen. Die Mauerteile sind ein Geschenk der ersten frei gewählten Regierung in Ostdeutschland an die Konferenz Europäischer Kirchen als ein Zeichen der Dankbarkeit für die Rolle, die die Kirchen in der friedlichen Revolution gespielt haben.

Ein anderer Blick auf die Wende

Der evangelische Theologe Heino Falcke indessen, der bei der Mobilisierung der Kirchen, die zu der friedlichen Revolution führte, eine Schlüsselrolle spielte, stellte unlängst fest, dass die Ostdeutschen selbst nach der Öffnung der Berliner Mauer nur wenig Zeit hatten, über den Sinnzusammenhang jener Epoche-machenden Ereignisse nachzudenken. Stattdessen waren sie voll von den "atemberaubenden Prozessen" in ihrem eigenen Land in Anspruch genommen, die elf Monate später, im Oktober 1990, zur Vereinigung Deutschlands führten.

Diese Ereignisse, die zum Ende des Kalten Krieges in Europa geführt hatten, sind von westlichen Politikern häufig als ein Sieg des wirtschaftlich und technologisch überlegenen Westens über den Osten beschrieben worden, sagt Falcke, der heute im Ruhestand ist. "Aber man konnte sie auch anders sehen", fügt der Theologe hinzu.

"Michail Gorbatschow hatte die Notwendigkeit, den Kalten Krieg zu beenden, in seinem 'Neuen Denken' damit begründet, dass die eine Menschheit ihn sich nicht leisten könne, sondern die Kunst des Zusammenlebens lernen müsse", sagt Falcke. "Dieser Paradigmenwechsel zum globalen Verantwortungszusammenhang wurde da jedoch nicht vollzogen, wo man meinte, gesiegt zu haben."

Das Vermächtnis der Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in Ostdeutschland biete eine Möglichkeit, auf diesem Weg voranzukommen, meint Falcke. Ihm zufolge sollte die Versammlung nicht lediglich eine Zusammenkunft sein, die zu politischen Veränderungen in der DDR aufrufen würde; noch ging es ihr um "einen Systemwechsel vom Sozialismus zu Demokratie und freier Marktwirtschaft, sondern um eine Transformation beider Systeme im Zeichen der Globalisierung".

"In der Ökumenischen Versammlung", sagt Falcke, "sahen wir die tiefgreifenden Herausforderungen zur Friedensfähigkeit, zu einer sozial-solidarischen Weltgesellschaft, zu einer ökologischen Lebensweise, und wir meinten, dem wird die biblische Einladung zur Umkehr gerecht."


Dr. Stephen Brown ist geschäftsführender Redakteur des Ökumenischen Nachrichtendienstes (ENI) und hat unlängst eine Forschungsarbeit zur Katalysatorrolle des ÖRK-Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung für den Dissens in Ostdeutschland in den 1980er Jahren abgeschlossen.

Mehr zum Thema:
Kommentar von ÖRK-Generalsekretär Samuel Kobia zum 20. Jahrestag des Mauerfalls
http://www.oikoumene.org/de/nachrichten/news-management/a/ger/article/1634/die-lektionen-der-berline.html

Die Meinungen, die in ÖRK-Features zum Ausdruck kommen, spiegeln nicht notwendigerweise die Position des ÖRK wider.

Der Ökumenische Rat der Kirchen fördert die Einheit der Christen im Glauben, Zeugnis und Dienst für eine gerechte und friedliche Welt. 1948 als ökumenische Gemeinschaft von Kirchen gegründet, gehören dem ÖRK heute mehr als 349 protestantische, orthodoxe, anglikanische und andere Kirchen an, die zusammen über 560 Millionen Christen in mehr als 110 Ländern repräsentieren. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche. Der Generalsekretär des ÖRK ist Pfr. Dr. Samuel Kobia, von der Methodistischen Kirche in Kenia. Hauptsitz: Genf, Schweiz.


*


Quelle:
Feature vom 5. November 2009
Herausgeber: Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK)
150 rte de Ferney, Postfach 2100, 1211 Genf 2, Schweiz
E-Mail: ka@wcc-coe.org
Internet: www.wcc-coe.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2009