Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → CHRISTENTUM

STANDPUNKT/337: Die Befreiungstheologie ist äußerst lebendig (ÖRK)


Ökumenischer Rat der Kirchen - Feature vom 17. November 2009

Die Befreiungstheologie ist äußerst lebendig

Von Walter Altmann


Seit dem Fall der Berliner Mauer vor zwanzig Jahren haben viele Kritiker die Befreiungstheologie für tot erklärt. Die meisten, weil sie sie für eine Apologie des untergegangenen Sozialismus sowjetischer Machart hielten. Es sieht allerdings ganz so aus, als sei dieser Totenschein zu früh ausgestellt worden.

Zutreffend ist, dass Befreiungstheologen - einige mehr, andere weniger -für ihre sozioökonomische Analyse und die Kritik am Kapitalismus marxistische Kategorien verwendet haben. Marxismus ist jedoch nie der Kern der Befreiungstheologie gewesen.

Im Zentrum der Befreiungstheologie stand und steht vielmehr die mitfühlende Identifizierung mit den Armen und ihrem Kampf um Gerechtigkeit, der vom Leben und Lehren Jesu inspiriert ist. Nicht auf Gesellschaftsanalyse, die als methodologisches Instrument angesehen wurde, legte die Befreiungstheologie das Hauptgewicht, sondern auf die entscheidende Rolle der engagierten Praxis von Gottes Volk- oder anders ausgedrückt, auf das vom Glauben inspirierte und von der theologischen Reflexion geprägte Handeln der christlichen Gemeinschaften.

Die Befreiungstheologie gründet spirituell in - und ist motiviert von - der lebensverändernden Begegnung mit Christus als Befreier und mit unseren Nächsten in Not. Ihr Leiden ist nicht Schicksal, sondern das Resultat systemimmanenter Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Transformatives Handeln kann diese überwinden.

Wenn wir die heutigen Realitäten betrachten, dann sehen wir, dass die Armut noch keineswegs überwunden ist. Im Gegenteil, die jüngste internationale Finanzkrise, verursacht von ungezügelten kapitalistischen Kräften und diktiert von Habgier sowie Privat- und Unternehmensinteressen, hat die Zahl der Armen - oder besser Verarmten - in der Welt um Hunderte von Millionen erhöht.

Die Befreiungstheologie entwickelte sich in den 1960er Jahren in Lateinamerika und baute auf den Bewegungen christlicher Basisgemeinschaften auf, die sich in den 1950er Jahren für soziale, politische und wirtschaftliche Reformen in der Gesellschaft wie auch für die aktive Beteiligung von Laien an pastoralen Aktivitäten innerhalb der Kirche einsetzten.

Da Lateinamerika ein vorwiegend "katholischer" Kontinent ist, war der neue theologische Ansatz weitgehend mit pastoralen und theologischen Entwicklungen in der römisch-katholischen Kirche verbunden, auch wenn es sich von Anfang an um ein ökumenisches Unterfangen handelte. Die Bezeichnung "Befreiungstheologie" führten fast zeitgleich der römisch-katholische Priester Gustavo Gutiérrez aus Peru und der presbyterianische Theologe Rubem Alves aus Brasilien ein.

Von daher überrascht es nicht, dass die Befreiungstheologie die ökumenische Bewegung, einschließlich des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), in den 1970er und 80er Jahren stark beeinflusst hat. Ihre Bedeutung, wie sie sich in der Unterstützung des Kampfes für die Menschenrechte unter den lateinamerikanischen Diktaturen zeigte, in ihrer Mithilfe bei der Entwicklung effizienter Methoden zur Überwindung von Analphabetismus (wie sie der exilierte brasilianische Pädagoge und ÖRK-Berater für Bildungsfragen Paulo Freire anwendete) und bei der Bekämpfung des Rassismus, vor allem im südlichen Afrika, ist weithin anerkannt.

Als ein kontextueller Ansatz, der sich kritisch mit der Praxis des Volkes Gottes auseinandersetzte, sollte die Befreiungstheologie niemals zu einer statischen, dogmatischen Konstruktion werden. Sie wollte nicht ein vernachlässigtes theologisches Thema hervorheben, sondern vielmehr einen neuen Weg des Betreibens von Theologie vorschlagen. Natürlich ist sie im Laufe der Jahrzehnte Veränderungen unterworfen gewesen. Anfangs konzentrierte sie sich auf die Lebensbedingungen der Armen, später hat sie sich dann auch anderen Problemen zugewandt, wie indigenen Völkern, Rassismus, Geschlechterfragen und Ökologie.

Heute beschäftigt sich die Befreiungstheologie auch mit der Interpretation von Kultur und mit anthropologischen Fragen wie z.B. der Versuchung der Macht. Das Ziel einer gerechteren Gesellschaft, in der es "einen Platz für alle" gibt, gilt nach wie vor, doch hat sich die Methodik auf zivilgesellschaftliches Handeln verlagert.

Der Einfluss der Befreiungstheologie reicht weit über die Kirchen hinaus. Ihren Beitrag zur Überwendung der Militärdiktaturen in Lateinamerika und der Apartheid im südlichen Afrika habe ich bereits erwähnt. Heute prägt sie in Lateinamerika politische Bestrebungen zur Verwirklichung eines Demokratiemodells, das Armut und soziale Ungerechtigkeit überwindet. Mehrere lateinamerikanische Präsidenten - Lula da Silva in Brasilien, Morales in Bolivien, Correa in Ecuador, Ortega in Nicaragua und Lugo in Paraguay - haben auf die eine oder andere Weise enge Kontakte zu christlichen Basisgemeinschaften und Befreiungstheologen gehabt.

Wichtig ist vor allem aber, dass die Befreiungstheologie in den zivilgesellschaftlichen Bewegungen und christlichen Basisgemeinschaften äußerst lebendig und wirksam bleibt.


Pfarrer Dr. Walter Altmann [1] ist Präsident der Evangelischen Kirchen L.B. in Brasilien und Vorsitzender des Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen.

Die Meinungen, die in ÖRK-Features zum Ausdruck kommen, spiegeln nicht notwendigerweise die Position des ÖRK wider.

Der Ökumenische Rat der Kirchen fördert die Einheit der Christen im Glauben, Zeugnis und Dienst für eine gerechte und friedliche Welt. 1948 als ökumenische Gemeinschaft von Kirchen gegründet, gehören dem ÖRK heute mehr als 349 protestantische, orthodoxe, anglikanische und andere Kirchen an, die zusammen über 560 Millionen Christen in mehr als 110 Ländern repräsentieren. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche. Der Generalsekretär des ÖRK ist Pfr. Dr. Samuel Kobia, von der Methodistischen Kirche in Kenia. Hauptsitz: Genf, Schweiz.

[1] http://www.oikoumene.org/?id=4211&L=2


*


Quelle:
Pressemitteilung vom 17. November 2009
Herausgeber: Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK)
150 rte de Ferney, Postfach 2100, 1211 Genf 2, Schweiz
E-Mail: ka@wcc-coe.org
Internet: www.wcc-coe.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2009