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STANDPUNKT/354: Die Herausforderung der Naturwissenschaften (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 05/2010

Angst vor der Empirie?
Die Herausforderung der Naturwissenschaften

Von Patrick Becker


Im Dialog zwischen der Theologie und den Naturwissenschaften stehen reduktionistische Erklärungen des Menschen wie auch des Phänomens Religion weiterhin auf der Tagesordnung. Mit dem fundamentaltheologischen Hinweis auf die Differenz zwischen Genese und Geltung von Religion ist es nicht getan.


Mit seltener Schärfe wie Eloquenz schuf Richard Dawkins 2006 einen Bestseller, als er in "The God Delusion" den Glauben an Gott als ein Nebenprodukt der Evolution darstellte, das genauso irrational wie schädlich sei (Der Gotteswahn, Berlin 2007). Die theologischen Antworten blieben nicht aus. In der Regel fielen diese aber relativ kurz aus: Friedrich Wilhelm Graf benötigt gerade einmal fünf (Buch-)Seiten, um die Qualifizierung Dawkins als "biologischen Hassprediger" zu begründen (in: Magnus Striet [Hg.]: Wiederkehr des Atheismus, Freiburg 2008).

Die einseitig negative Beurteilung von Religionen, die zahlreichen Missverständnisse, Zirkelschlüsse und die mangelhafte Bereitschaft, sich ernsthaft mit der christlichen Botschaft auseinanderzusetzen, geben diesem Urteil ihre Berechtigung. Auch das bei Gregor Maria Hoff (Die neuen Atheismen, Kevelaer 2009) oder Gerhard Lohfink (Welche Argumente hat der neue Atheismus?, Bad Tölz 2008) anzutreffende Urteil, dass Dawkins keine neuen philosophischen Argumente vortrage, ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings unterbleibt meistens eine Auseinandersetzung mit dem hinter vieler Polemik und mancher unpräziser Darstellung versteckten zentralen Anliegen von Dawkins, mittels empirischer (das heißt naturwissenschaftlicher) Methodik die Plausibilität des Glaubens an Gott zu analysieren.

Dabei steht Dawkins mit diesem Anliegen nicht alleine. Es fällt ins Auge, dass viele der Sachbücher zum Thema Religion, die hohe Auflagen erreichen, durch ein naturwissenschaftliches Denken und eine entsprechende Herangehensweise geprägt sind. Darunter fallen nicht nur religionskritische Werke wie das von Dawkins, sondern auch religionsaffimierende wie Ulrich Schnabels "Vermessung des Glaubens. Forscher ergründen, wie der Glaube entsteht und warum er Berge versetzt" (München 2008) oder Martin Urbans "Warum der Mensch glaubt. Von der Suche nach dem Sinn" (Frankfurt 2005). Auch der Blick in - gehäuft auftretende - Zeitungsartikel zum Thema Religion zeigt oft eine naturwissenschaftliche Herangehensweise. Das kann nicht überraschen - naturwissenschaftliches Denken in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen dürfte sich fest in das Weltbild unserer Zeit verankert haben.


Die theologischen Herausforderungen des 20. und des 21. Jahrhunderts

Gleichzeitig ist es nicht verwunderlich, dass die Theologie im Umgang mit der verhältnismäßig jungen naturwissenschaftlichen Herausforderung ihre liebe Not hat. Einerseits muss sie reduktionistische Übergriffe befürchten, andererseits besitzen Theologen nur selten das naturwissenschaftliche Instrumentarium, das für profunde Diskussionen nötig wäre.

Ignorieren ist allerdings keine Alternative (vgl. HK, Januar 2010, 1ff.). Wenn der Wissenschaftsjournalist Ulrich Schnabel in "Die Vermessung des Glaubens" zu dem Ergebnis kommt, dass die Zahl der anerkannten Wunderheilungen in Lourdes auf der Höhe der in der Medizin bekannten Spontanheilungen liegt, muss man sich, wenn man nicht alle Spontanheilungen der Welt zum Wunder erklären will, auf die naturwissenschaftlichen Daten einlassen. Ähnliches gilt für viele Anfragen, die Schnabel aufführt: So zeige etwa die Zwillingsforschung, dass die Religiosität des Individuums auch genetisch beeinflusst sei; Experimente, in denen religiöse und atheistische Probanden vor eine ethische Herausforderung gestellt werden wie beim berühmten Gute-Samariter-Experiment erwiesen, dass religiöse Menschen nicht hilfsbereiter sind; religiöse Erfahrungen könnten auch mittels Drogen produziert werden. Die Liste der Anfragen aus Schnabels wie auch vielen anderen populären Büchern lässt sich ins nahezu Unendliche fortführen. Positiv aufgegriffen und diskutiert werden sie in der theologischen Literatur jedoch eher selten.


Nun besitzt der theologische Dialog mit den Naturwissenschaften durchaus Tradition, etwa hinsichtlich des Verhältnisses von Evolution und Schöpfung (vgl. zuletzt HK, Januar 2010, 34ff.). Dennoch kann man nicht ignorieren, dass damit lediglich eine Herausforderung des 19. Jahrhunderts aufgearbeitet ist. Eine zentrale Herausforderung des 20. Jahrhunderts, das reduktive Menschenbild, und die des 21. Jahrhunderts, die reduktive Erklärung von Religion, sind noch nicht ausreichend angegangen.

Die zuerst genannte Herausforderung eines reduktiven Menschenbildes hat Thomas Metzinger jüngst mit seinem Buch "Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik" (Berlin 2009) dargestellt. Er argumentiert darin für die die Theologie herausfordernde These, dass es "'das' Selbst nicht gibt"; auch wenn die Neurowissenschaften noch kein "Gesamtbild" böten, sei die "Flut wichtiger Daten" in dieser Grundfrage eindeutig: Die Evolution habe unser Gehirn so eingerichtet, dass es einen "Ego-Tunnel" bilde (13f.). Der Ego-Tunnel entstehe, indem das Bewusstsein sowohl unsere Außenwelt repräsentiere als auch uns selbst. Diese Repräsentation von beidem - Außen- wie Innenwelt - stelle eine Fiktion dar, die neuronal erzeugt sei und einige Parallelen zu einem Flugsimulator besitze.

Dass die Grenzen zwischen beiden nicht so eindeutig sind, wie wir intuitiv glauben, beweisen Experimente wie jene, bei denen wir ein Körperteil verdecken und scheinbar durch ein künstliches ersetzen. Unser Bewusstsein wird tatsächlich das künstliche Glied in sein Gesamtbild integrieren. Umgekehrt zeigen außerkörperliche Erfahrungen (die Metzinger unter Berufung auf Forscher wie Olaf Blanke und Susan Blackmore überzeugend naturalistisch erklärt), dass sich unser Bewusstsein vom Körper lösen und eine Dritte-Person-Perspektive zum Körper einnehmen kann.

Der Sinn der Selbstrepräsentation liegt nach Metzinger darin, dass wir uns durch die Selbstrepräsentation "als eine Ganzheit (...) begreifen" (18). Zum anderen fragt er, warum wir uns einbilden, einen direkten Zugang zur Innen- und Außenwelt mit Befehlsgewalt über unseren Körper zu haben. Dies liege daran, dass wir "nur eine höchst selektive Form der Darstellung von Information" (21) erleben, eben den genannten Ego-Tunnel. Bewusstes Erleben versteht Metzinger daher "weniger [als] ein Abbild der Wirklichkeit als vielmehr ein[en] Tunnel durch die Wirklichkeit".

Das phänomenale Ego sei kein "kleines Männchen im Kopf, sondern der Inhalt eines inneren Bildes", verknüpft mit dem "Erleben eines eigenen Standpunkts" (22f.). Unbewusst bleibe die Tatsache, dass es sich um ein Konstrukt, eine "Simulation" handele. Offensichtlich wäre die Fähigkeit, diesen Selbstbetrug zu durchschauen, zu unnütz, und vielleicht sogar schädlich, als dass sie die Evolution bei uns eingerichtet hätte. Das Ego sei ein Werkzeug zur Planung und Kontrolle unseres Verhaltens, gleichzeitig ein Instrument zum Verstehen des Verhaltens anderer. Es werde durch seine neuronale Basis determiniert und basiere auf "reiner Information, die im Gehirn fließt" (128).


Das christliche Menschenbild angesichts naturwissenschaftlicher Erkenntnisse

Metzinger unterscheidet sich von vielen anderen Reduktionisten unserer Zeit dadurch, dass er die massive Veränderung thematisiert, die seine Thesen für unser Weltbild besitzen. Dass er die Existenz von Zielen und von einem strengen Begriff von Willensfreiheit ablehnt, mache eine neue Ethik, ja sogar Anthropologie nötig, wie er mit Recht schreibt. Er erwartet sowohl globale Konflikte zwischen den Kulturen, die das neue reduktionistische Weltbild annehmen und denen, die es ablehnen, als auch konkrete ethische Probleme bei der Bewertung von neuronal wirksamen Drogen zur Leistungssteigerung (vgl. HK, Februar 2010, 103ff.), von Lügendetektoren und des Wertes von Tieren, denen ebenso Bewusstsein zugesprochen werden muss.

Er zeigt jedoch auch, dass seine reduktionistische Weltsicht Ethik nicht verunmöglicht. Er plädiert für eine Abkehr von traditionellen westlichen Glaubenssystemen, die nach einer tieferen Bedeutung suchen und dadurch von der Realität wegführten. Eine fernöstliche Spiritualität befürwortet er dagegen. Meditation unabhängig von religiösen Kontexten sei sinnvoll, um Achtsamkeit zu trainieren.


In diesem Punkt erhält Metzinger Rückenwind von Bernulf Kanitscheider. Auch Kanitscheider plädiert in seiner jüngsten Monographie "Entzauberte Welt. Über den Sinn des Lebens in uns selbst - eine Streitschrift" (Stuttgart 2008) dafür, den Sinn unseres Daseins nicht im Jenseits zu suchen. Ein unendlicher objektiver Sinn sei lediglich ein Konstrukt. Dies zeige sich schon darin, dass es höchst subjektiv sei, was wir als sinnvoll erachten."Unter einem sinnerfüllten Leben versteht man dabei gewöhnlich eines, bei dem ein Mensch möglichst viele seiner inneren Freiheitsgrade, seiner Anlagen und Dispositionen in der Welt einsetzen konnte", schreibt Kanitscheider (9). In unserem Alltag kämen wir daher problemlos ohne außerweltlichen Bezug aus, um den Sinn unseres Handelns und Lebens darzustellen. "Den meisten Menschen mit einem pragmatischen Alltagsverständnis wird ihr gesamtes Leben lang die kosmische Verlorenheit der menschlichen Existenz nie zum Problem. Man kann also die existentielle Sinnkrise auch als intellektuelles Artefakt, als reflektorische Überreaktion hypersensibler Gemüter ansehen" (104). Kanitscheider fragt, ob es nicht sein könnte, dass "der Sinn der Existenz des Menschen (...) in seiner Existenz selber liegt" und damit immanent sei (22). Dafür spreche auch, dass die Natur keinerlei Anhaltspunkte für eine globale Zielgerichtetheit biete. Die Natur sei zwar gerichtet, zum Beispiel hin zu mehr Komplexität, aber eben nicht zielgerichtet.


Die reduktionistischen Ansätze von Metzinger und Kanitscheider beinhalten für die Theologie eine Reihe von Herausforderungen. Zentral dürfte für alle die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit sein. Das stärkste Argument für diese, die menschliche Selbsterfahrung, zählt Metzinger freilich zu den "beiden dümmsten" (Metzinger, 191), da uns unsere Selbsterfahrung täuschen könne. Das andere ist für ihn der Rekurs auf die ethischen Folgen, die der Reduktionismus mit sich bringe. Diese ethischen Herausforderungen müsse man bewältigen.

Hans-Dieter Mutschler hat in zahlreichen Publikationen und Vorträgen auf einer grundlegenden, naturphilosophischen Ebene gegen das reduktionistische Menschenbild argumentiert und gezeigt, dass die reduktionistisch-materialistische Interpretation der Wirklichkeit nicht gerecht wird (vgl. zuletzt HK, Februar 2010, 103ff.). Darauf aufbauend entwickelt der Philosoph Godehard Brüntrup einen so genannten protopanpsychistischen Ansatz, der davon ausgeht, dass der Natur eine eigenständige mentale Ebene eigen ist. Die Grundidee besteht darin, dass das Mentale zumindest in einer rudimentären Form auf allen Ebenen der Natur gefunden werden kann.

Auch in der deutschsprachigen Theologie finden sich Forschungsvorhaben zu einem nicht-reduktiven Menschenbild, die die aktuellen naturwissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnisse aufgreifen. Grundlagenarbeit leistet etwa das Forschungszentrum "Christliches Menschenbild und Naturalismus" an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Innsbruck. Zu nennen sind weiterhin Autoren wie Dieter Hattrup, Matthias Petzoldt oder Eberhard Schockenhoff (vgl. auch HK Spezial, Getrennte Welten? Der Glaube und die Naturwissenschaften, Oktober 2008, 9ff.).

Der US-Amerikaner Philip Clayton vertritt gar eine starke Form von Emergenz: dass nämlich die Informationsverarbeitung, von der auch Metzinger im Kontext des Bewusstseins spricht, eine eigene kausale Rolle spiele und auf ihre neuronale Basis rückwirke. Damit wird eine neuartige Form von kausaler Verursachung postuliert, die zumindest in den Standardinterpretationen der Physik nicht anerkannt ist und daher naturwissenschaftlich einen schweren Stand hat.

Die theologischen Antwortversuche besitzen bisher außerhalb des Fachdiskurses noch keine größere Breitenwirkung. Dies könnte auch daran liegen, dass bisher mehr Energie darauf verwendet wird, reduktionistische Übergriffe abzuwehren, als eigene positive Modelle zu entwickeln, wie das christliche Menschenbild mit den naturwissenschaftlichen Ergebnissen zusammenhängt. Weitere Forschung auf einer breiteren Basis ist daher unbedingt nötig, wenn die Theologie verhindern möchte, dass die Deutungshoheit - für die Verkaufszahlen der Bücher ein Indiz sind - langfristig auf den Reduktionismus übergeht.


Religion als Produkt der Evolution?

Noch weniger Auseinandersetzung findet bisher im deutschsprachigen Bereich mit der zweiten, noch jungen Herausforderung statt: der reduktiven Erklärung von Religion, wie sie gerade von verschiedensten Evolutionsbiologen und Anthropologen formuliert wird. Dazu zählen neben dem eingangs erwähnten Richard Dawkins etwa Pascal Boyer und Daniel Dennett. Dennetts in seinem Buch "Den Bann brechen. Religion als natürliches Phänomen" (Frankfurt 2008) formulierte Hauptthese besteht darin, dass die empirisch-wissenschaftliche Herangehensweise an Religionen ein Gebot der Redlichkeit, ja sogar der Moral sei. Er will religiöse Aussagen auf ihre empirischen Auswirkungen hin überprüfen und damit (zumindest indirekt) veri- oder falsifizieren.

Auch wenn er aus seiner religionskritischen Haltung keinen Hehl macht, zieht er als Möglichkeit durchaus in Betracht, dass religiöse Aussagen bestätigt werden können. Er kritisiert jedoch die Asymmetrie, dass religiöse Menschen seiner US-amerikanischen Erfahrung nach es als Sakrileg empfänden, wenn ihre Überzeugungen überprüft werden. Mit der Religion verhalte es sich wie bei der Musik: "Zu verstehen, wie sie funktioniert, kann ebenso dazu dienen, sie besser schätzen zu lernen oder ihre Wirksamkeit zu erhöhen, wie dazu, sie zu demontieren. Und die Analyse, auf die ich dränge, ist ja schließlich nur die Fortführung des Reflexionsprozesses, der die Religion dahin gebracht hat, wo sie jetzt ist" (196f.).

Dennett formuliert zwar eine Herausforderung, steht dabei jedoch für das Gespräch mit der Theologie zur Verfügung, so dass sich das Buch wohltuend von mancher atheistischen Kampfschrift abhebt. Er lehnt es lediglich ab, wenn in Religionen Aussagen mystifiziert und somit dem rationalen Diskurs entzogen werden.


Den größten Teil des Buches verwendet Dennett darauf, verschiedene eigene und fremde Ansätze zur Diskussion zu stellen, die Religion als ein natürliches Phänomen der Evolution ohne außerweltlichen Bezug erklären. Er behauptet nicht, Religion mit dem jetzigen Erkenntnisstand lückenlos naturalistisch erklären zu können, geht aber von der Hypothese aus, dass dies grundsätzlich möglich sei. Dazu beruft er sich auf das Prinzip der Evolution, dass jede Entwicklung im weitesten Sinne einen Vorteil für die Reproduktion eines Lebewesens bieten muss. Dies gelte nicht nur für die Gene des Menschen, sondern auch für alle kulturellen Entwicklungen, die er mit dem von Dawkins geprägten Begriff der Meme belegt.

Diese "Cui-bono-Frage" (Wem nützt die Entwicklung?) könne auch auf Religion angewandt werden. Das Vorurteil, dass "es Religion ohne Ausnahme zu allen Zeiten und an allen Orten gegeben" habe, "stimmt einfach nicht" (132). Die üblicherweise als Zweck von Religion angegebenen Punkte, dass Religion erstens tröste und die Angst vor dem Tod nehme, zweitens ansonsten Unverständliches erkläre und drittens die Kooperation zwischen den Menschen fördere, sei, wenn man nur wolle, problemlos naturwissenschaftlich überprüfbar.

Sein Fazit aus den bereits vorliegenden Untersuchungen lautet, dass "Volksreligionen, wie Sprachen, ohne ein bewusstes oder absichtliches Gestaltungskonzept durch wechselseitige Prozesse der biologischen und kulturellen Evolution entstanden sind. Am Ursprung des menschlichen Glaubens an Gott steht ein sehr leicht auszulösender Instinkt: der Hang, allem, was kompliziert ist und sich bewegt, Akteursschaft - Annahmen, Wünsche und andere psychische Zustände - zuzuschreiben"(151).


In weiteren Ausführungen stellt Dennett dar, wie der Glaube an einen Akteur mit uneingeschränkter Verfügung - und daraus letztlich der Glaube an Gott entsteht. Nicht alle seine Entwicklungsschritte überzeugen, schon weil sie nicht auf alle Religionen weltweit angewendet werden können. Dass der Glaube an Gott jedoch insofern ein Mem darstellt, als er in einem sozialen Kontext - etwa von den Eltern an ihre Kinder - weitergegeben wird, ist kaum bestreitbar.

Dennett kann im Einzelnen begründen, warum es einen evolutiven Fortschritt darstellt, wenn mittels Weissagungen Entscheidungen legitimiert werden, und welchen Sinn Rituale haben. "Rituelles Heilen (...) ist deshalb universell, weil es tatsächlich funktioniert" (176). Durch Reflexion und Arbeitsteilung sei aus der Volksreligion die organisierte Religion entstanden, wie wir sie heute vorfinden. Alle diese Schritte seien mittels der Evolutionstheorie rein natürlich erklärbar. "Die Veränderungen, die sich dabei etabliert haben, sind alles andere als zufällig. Sie folgen der rastlosen Neugier und den wechselnden Bedürfnissen unserer enkulturierten Spezies" (198).

Während in der Volksreligion Weissagungen eine Entscheidungshilfe und -bestärkung bieten und Hypnose-Rituale körperliche Heilungsprozesse verstärken, sieht Dennett die evolutiven Vorteile der organisierten Religion erstens im Spenden von Trost (das Entschlossenheit und Zuversicht bewirke) und zweitens in der Vertrauensbildung (die die Gruppenfitness erhöhe). Ob diese Erklärungsmodelle überzeugen, ist dabei nicht wesentlich. Dennett sieht die Forschung erst am Anfang. Entscheidend ist Dennetts Behauptung, dass Religion im Prinzip und nach ausreichender Forschung naturalistisch-reduktionistisch erklärt werden könne.


Die Fundamentaltheologie antwortet gewöhnlich auf Versuche, die Genese von Religion(en) zu erklären mit dem Hinweis, dass dies die Wahrheitsfrage nicht berühre. Auch wenn erklärt werden kann, wie das Christentum entstanden ist, ist damit nichts über die Wahrheit des christlichen Glaubens ausgesagt, ob etwa Gott tatsächlich existiert.

Dieses Argument wird jedoch schwach, wenn naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle lückenlos das Auftreten von Religion erklären können, ohne ein Konzept von Offenbarung zu benötigen. Weiter geschwächt wird es, wenn es den Religionskritikern gelingt, den bei Dennett dargestellten Vorzügen von Religion eine größere Anzahl von Nachteilen entgegenzusetzen.

Exakt diesen Abwägeprozess fordert Dennett und greift damit das Anliegen von Richard Dawkins auf. Er gibt zu, dass Religion "das Beste in einem Menschen zum Vorschein bringen [kann], aber mit dieser Eigenschaft ist sie nicht allein" (81). Der Atheismus sei genauso zur Sinnstiftung geeignet und kenne genauso Formen von Spiritualität und führe genauso zu veritablen Wertesystemen. Dennett hält es daher nicht nur für legitim, sondern rational geboten, die Vor- und Nachteile jeder einzelnen Religion mit dem atheistischen Lebenskonzept zu vergleichen. Um diesen Vergleich der Konzepte sinnvoll betreiben zu können, sei mehr empirisch gewonnenes Datenmaterial nötig. "Betreibt mehr Forschung", lautet daher seine Forderung (379).

Auf die Frage nach dem empirisch messbaren Gewinn der christlichen Religion antwortete Joseph Ratzinger vor Jahren, dass "das von Gott kommende Heil keine quantitative und daher keine addierbare Größe ist" (Salz der Erde. Christentum und katholische Kirche, Regensburg 1996, 233). Er weist mit Recht darauf hin, dass ein quantitativer Vergleich verschiedener Kulturen der Art, etwa die Bewertung der Anzahl von ihnen begonnener Kriege, nicht sinnvoll sei. Die entscheidende Frage sei, ob der Glaube den einzelnen Menschen verändert. Allerdings lässt sich auch das empirisch etwa mittels psychologischer Untersuchungen überprüfen.

Sind Christen nur Opfer sozialer Zwänge? Wer auf die Kraft der Religion vertraut, kann auch darauf bauen, dass sie ihn und sein Leben verändert - und konkrete Auswirkungen hat. Von der Gebetspraxis bis zu den sozialen Einstellungen können diese mit einem intelligent gestalteten Instrumentarium empirisch erfasst werden. Daher sollte die Theologie die Zusammenarbeit mit der empirischen Forschung nicht scheuen. Auch deshalb, weil die anderen Disziplinen die Zuarbeit der Theologie benötigen, um ihr jeweiliges Forschungsdesign wiederum sinnvoll anlegen zu können. Umgekehrt würde sich die Theologie von wesentlichen Erkenntnissen und ihrer Deutung ausschließen, wenn sie auf diese nicht eingeht.


Patrick Becker (geb. 1976) ist promovierter Fundamentaltheologe und arbeitet als Geschäftsführer der Agentur für Qualitätssicherung und Akkreditierung kanonischer Studiengänge in Deutschland (AKAST). Jüngste Monographie: Kein Platz für Gott? Theologie im Zeitalter der Naturwissenschaften, Regensburg 2009.


Literatur

- Atran, Scott: In Gods We Trust. The Evolutionary Landscape of Religion, Oxford 2002

- Blume, Michael und Rüdiger Vaas: Gott, Gene und Gehirn. Warum Glaube nützt - Die Evolution der Religiosität, Stuttgart 2009

- Brüntrup, Godehard: Das Leib-Seele-Problem. Eine Einführung, 3. Aufl., Stuttgart 2008

- Clayton, Philip: Emergenz und Bewusstsein. Evolutionärer Prozess und die Grenzen des Naturalismus, Göttingen 2008

- Dennett, Daniel: Den Bann brechen. Religion als natürliches Phänomen, Frankfurt 2008

- Metzinger, Thomas: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst. Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, Berlin 2009

- McClenon, James: Wondrous Healing. Shamanism, Human Evolution, and the Origin of Religion, DeKalb 2002

- McGrath, Alister und Joanna Collicutt McGrath: Der Atheismus-Wahn. Eine Antwort auf Richard Dawkins und den atheistischen Fundamentalismus, 3. Aufl., München 2008

- Mutschler, Hans-Dieter: Physik und Religion. Perspektiven und Grenzen eines Dialogs, Darmstadt 2005

- Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt 2003

- Wilson, David Sloan: Darwin's Cathedral. Evolution, Religion, and the Nature of Society, Chicago 2002


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 5, Mai 2010, S. 254-258
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2010