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STANDPUNKT/365: Luther-Jubiläen - Erinnerung, verändere dich! (Uni Oldenburg)


Einblicke Nr. 57 - Frühjahr 2013
Das Forschungsmagazin der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Erinnerung, verändere dich!

Von Andrea Strübind



Jede Epoche hat ihre Art, Jubiläen zu inszenieren und zu nutzen. So ist es auch mit der Reformation: Die Luther-Jubiläen haben die Ideen des Theologen oft instrumentalisiert, für Zwecke ihrer Zeit. 2017 jährt sich der "Thesenanschlag" zum 500. Mal: Ist es möglich, an die Reformation "anders" zu erinnern - und neue Akzente zu setzen?


Jubiläen sind wichtige Zäsuren in der Biographie eines Menschen, einer Nation und auch der Kirchengeschichte. Ihre identitätsstiftende Wirkung ist keine Neuentdeckung der Gegenwart, vielmehr hat jede Epoche ihre Art, Jubiläen zu inszenieren und zu nutzen. 2017 jährt sich der "Thesenanschlag" Martin Luthers, der traditionell als Beginn der Reformation gedeutet wird, zum 500. Mal. Obwohl schon lange umstritten ist, ob Luther seine Thesen zum rechten Verständnis des Bußsakraments tatsächlich an der Tür zur Wittenberger Schlosskirche angebracht hat, haben sich die "Hammerschläge" vom 31. Oktober 1517 fest in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben: Ein einzelner Kämpfer, ein Heros des Glaubens bringt mit seinen Hammerschlägen die gesamte mittelalterliche Kirche ins Wanken. Schlag auf Schlag ein neues Zeitalter, ein neues Denken, ein neuer Mensch, eine neue Kirche - so die triviale, aber langlebige Deutung.

Die Reformation führte dagegen in einem langen Prozess zur Herausbildung einer Vielzahl selbständiger und sich von der römischen Kirche abgrenzender Konfessionen. Der theologisch motivierte Umbruch hatte Folgen für alle Bereiche des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens der Frühen Neuzeit und machte die religiös-kulturelle Differenzierung und Pluralisierung zu einer Signatur Europas. Unter konfessionskultureller Perspektive war das Selbstverständnis des pluralen Protestantismus stets auch durch die Reflexion der eigenen Geschichte geprägt. Die Rezeption der reformatorischen Ursprungsgeschichte entwickelte sich zu einem Medium theologischer, gesellschaftlicher und kirchenpolitischer Auseinandersetzungen. Reformationsjubiläen boten Anlässe zur Selbstdarstellung und Polemik, sie waren aber immer auch Versuche, die reformatorische Glaubenslehre zu aktualisieren und auf die Gegenwart zu beziehen.


Jubiläen und ihre Instrumentalisierungen

Seit 1617, der ersten "Centenarfeier", die zugleich die Geburtsstunde des Reformationstags war, gehören öffentliche Reformationsjubiläen zum festen Inventar protestantischer Konfessionskulturen. Festkultur, Schriften, Gottesdienste und Öffentlichkeitsarbeit - einschließlich diverser Luther-Devotionalien - machten die Jubiläen zu gesamtgesellschaftlichen und kirchlichen Ereignissen. Die erste landesweit inszenierte Jubiläumsfeier fand ein Jahr vor Ausbruch des 30-jährigen Krieges statt. Sie diente den protestantischen Fürsten zur politischen Profilierung. Die überlieferten Musterpredigten verweisen auf antikatholische Stereotype und den Widerstand gegen die innerprotestantische Pluralisierung. Thomas Kaufmann, Kirchenhistoriker an der Universität Göttingen, weist dem ersten Jubiläumsfest bereits jene "Lutherzentriertheit" und kämpferisch antikatholische Polemik nach, die sich später weiter verfestigte. Im 18. Jahrhundert verloren die Jubiläumsfeierlichkeiten wegen der konfessionellen Pluralisierung der verschiedenen Herrscherhäuser vorübergehend an gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. Innerkirchliche Streitigkeiten etwa zwischen der Frömmigkeitsbewegung des Pietismus und der konfessionellen Orthodoxie prägten nun die Gedenktage, die einen mehr kirchlichen Charakter annahmen. Gleichzeitig bildete sich eine aufklärerische Stilisierung Luthers als Vorkämpfer für Vernunft und Glaubensfreiheit heraus. Im 19. Jahrhundert standen die Lutherfeierlichkeiten im Zeichen nationaler Selbstfindungsprozesse und einer Deutung der Reformation als "deutsches Urereignis". Luther stieg zum Nationalhelden auf, der wie kein anderer das "deutsche Volkstum" verkörperte. Er galt als eigentlicher Gründervater des Kaiserreichs. Seine Biographie und sein Familienleben wurden zu Paradigmen bürgerlicher Kultur- und Lebenswelten, so dass auch die Jubiläumsfeierlichkeiten zu seinem 400. Geburtstag 1883 nach einer Formulierung Hartmut Lehmanns als "Selbstbespiegelung des evangelisch-deutschnationalen Bürgertums" zu verstehen sind. 1917 wurde das Jubiläum zur Legitimation des Krieges genutzt und für die nationalprotestantische Propaganda mit Durchhalteparolen instrumentalisiert. Der Kieler Kirchenhistoriker Gottfried Maron spricht in diesem Zusammenhang von einer "Materialschlacht an der Heimatfront". Im Kontext der damaligen Feierlichkeiten erschienen antisemitische Pamphlete, die zur Trennung des "deutschen Christentums" von "jüdischen" Einflüssen aufriefen. 1933, im Jahr der nationalsozialistischen "Machtergreifung", wurde das Geburtstagsjubiläum Luthers politisch vereinnahmt und eine "heilsgeschichtliche" Linie zwischen dem Reformator und dem Diktator gezogen. Weitere Stationen waren die Jubelfeiern 1946 unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg und 1967 in der Umbruchsphase im Licht der ökumenischen Neuorientierung des II. Vatikanischen Konzils. Der Antagonismus beider deutscher Staaten schlägt sich beim Lutherjubiläum von 1983 nieder, das in der DDR eine Diskussion um die Aneignung des Luthergedenkens im Rahmen des nationalen Erbes auslöste.


Eine Chance für die Ökumene?

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat 2008 die Lutherdekade ausgerufen. Sie dient der Vorbereitung des Jubiläums 2017. Die Konzentration auf die Person Luther ist besonders in der innerevangelischen Ökumene auf Kritik gestoßen. Sie werde - so der Einspruch - dem Gesamtereignis der Reformation nicht gerecht. Es gehe um vielfältige reformatorische Bewegungen, die von Wittenberg und Zürich ausgingen und über Genf nach ganz Europa bis in die Neue Welt ausstrahlten.

Der verzweigte weltweite Protestantismus versteht sich insgesamt als Aneignungsprozess der reformatorischen Botschaft in den verschiedenen Kontexten und Zeitphasen. Die Reformation ist daher mitnichten ein "deutsches Ereignis", sondern hat eine weltweite Dimension und Bedeutung. Das Jubiläum 2017 findet in einer durch eine multilaterale und plurale Ökumene geprägten Situation statt. Beteiligt sein werden nicht nur die beiden großen Kirchen in Deutschland, sondern auch die orthodoxen Kirchen und der vielgestaltige freikirchliche Protestantismus. Unverzichtbar ist auch die Wahrnehmung der europäischen sowie der - nicht zuletzt in Gestalt der vielen Migrantenkirchen - globalen Perspektive.

Nach der Halbzeit der Lutherdekade stellt sich heute die Frage, welche Funktion dem Jubiläum 2017 zukommt. Dient es in erster Linie der eigenen konfessionellen Profilbildung, oder kann es für ein ökumenisches Gedenken genutzt werden? Zu Beginn der Dekade dachte man bei Besetzung der Jubiläumsgremien und -initiativen kaum an Mitwirkende aus anderen Konfessionen oder Ländern. Sie sind weder im Kuratorium, noch im Lenkungsausschuss vertreten. Immerhin wurde ein katholischer Theologe für den Wissenschaftlichen Beirat nachnominiert.

Das Spektrum an Positionen ist auch in der katholischen Kirche sehr weit. Es reicht von einer Ablehnung gemeinsamer Feiern - mit der Begründung, dass eine Kirchenspaltung und der Verlust der Kircheneinheit kein Anlass für Feierlichkeiten sei - bis hin zu dringenden Mahnungen zur Verständigung. Die Thesen des Magdeburger Bischofs Gerhard Feige rufen zu einem Versuch auf, ein gemeinsames, konfessionsübergreifendes Verständnis der Reformation und ihrer Auswirkungen zu gewinnen. Unter Hinweis auf die Versöhnungsgeste zwischen katholischer und orthodoxen Kirchen im Jahr 1965 fragt der katholische Bischof im Kernland der Reformation nach einem konkreten Zeichen der Buße und der Vergebung der getrennten Kirchen. Gemeinsame Erklärungen zum Verständnis der Reformation wurden bereits von verschiedenen ökumenischen Gremien angekündigt, wie etwa dem Lutherischen Weltbund gemeinsam mit dem päpstlichen Rat für die Einheit der Christen. Nach anfänglichen Irritationen ist derzeit ein gemeinsamer Bußgottesdienst für 2017 als "heilende Geste" zwischen der katholischen Kirche und den protestantischen Kirchen in Planung.

In ökumenischer Perspektive gehört zu den pluralen Deutungen der Reformation auch das katholische Verständnis einer tragischen Glaubensspaltung und des Verlusts der kirchlichen Einheit der Westkirche. Zum Gedenken gehört aber auch die Folgegeschichte religiös motivierter Auseinandersetzungen und Kriege. Die dissentierenden protestantischen Bewegungen - etwa die Täuferbewegung oder die Puritaner -, die von katholischen und reformatorischen Obrigkeiten verfolgt und marginalisiert wurden, verweisen auf einen anderen Zugang zum Reformationsgedächtnis: die Schattenseite der religiösen Konflikte wie Gewalterfahrungen, Zwangsmigrationen bis zu Hinrichtungen Tausender Andersdenkender. Das Reformationsjubiläum 2017 wird zudem in einer Gesellschaft stattfinden, in der viele mit der christlichen Religion beziehungsweise den sie repräsentierenden kirchlichen Institutionen nicht mehr lebensweltlich verbunden sind. Hinzu kommt, dass auch das Selbstverständnis der Christinnen und Christen immer weniger von den traditionellen konfessionellen Perspektiven geprägt wird.


Freiheitsraum Reformation

Vor diesem Hintergrund stellt das Projekt "Freiheitsraum Reformation" einen Versuch dar, zukunftsweisend an die Reformation und ihre umfassende Wirkungsgeschichte zu erinnern. Das Projekt der Universität Oldenburg bietet in Kooperation mit vielen Partnern aus Wissenschaft, Kirchen, Kultur und Gesellschaft eine einzigartige Plattform für Schulen, Bürgerschaft, Initiativen und Gemeinden. Um das Gesamtereignis Reformation im Nordwesten und seine Bedeutung für die Gegenwartsgesellschaft zu erforschen, nutzen die Akteure innovative Wege der Vermittlung. In Konzerten, Vorträgen, Ausstellungen, Schulprojekten, Wissenschaftlichen Tagungen und Exkursionen, aber auch in Theaterstücken, Konzertgesprächen, Internetpräsentationen, Installationen und Debattier-Runden thematisieren, analysieren und inszenieren sie unterschiedliche Aspekte der religiös-kulturellen Pluralisierung. Das Projekt will die drängenden Fragen nach religiöser Vielfalt und Toleranz, nach religiöser Zugehörigkeit und der identitätsstiftenden Bedeutung von Religion und kulturellen Werten aufwerfen. Es will Mut zu kritischem Hinterfragen machen und Menschen miteinander ins Gespräch bringen. Mit diesem Ansatz wird das Reformationsjubiläum zu einem "Freiheitsraum" für gemeinsames Fragen, Erinnern und kritisches Aneignen von Traditionen.


Die Autorin:
Prof. Dr. Andrea Strübind ist Hochschullehrerin für Kirchengeschichte und Historische Theologie. Sie studierte Evangelische Theologie, Geschichte und Judaistik in Berlin und Jerusalem. 1990 promovierte sie an der Kirchlichen Hochschule Berlin und habilitierte sich 1999 an der Universität Heidelberg. Dort übernahm sie eine Lehrtätigkeit für Historische Theologie. Eine Gastprofessur führte sie 2004 an die Universität Lüneburg. Nach ihrer Ernennung zur Professorin in Heidelberg 2005 folgte sie dem Ruf nach Oldenburg.

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Quelle:
Einblicke Nr. 57, 28. Jahrgang, Frühjahr 2013, Seite 12-17
Herausgeber:
Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Ammerländer Heerstraße 114-118, 26129 Oldenburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2013