Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → CHRISTENTUM

STANDPUNKT/369: "Evangelii gaudium" in der Sicht von Ökonomen (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 3/2014

Der Papst irrt - der Papst hat recht
"Evangelii gaudium" in der Sicht von Ökonomen

Von Friedhelm Hengsbach SJ



Anerkannte deutsche Wirtschaftsjournalisten haben das Apostolische Schreiben "Evangelii gaudium" von Papst Franziskus (vgl. HK, Januar 2014, 7 ff.) zum Teil heftiger Kritik unterzogen und ihm beispielsweise Marktfeindlichkeit vorgeworfen. Bemerkenswert ist, dass sich diese Resonanz fast ausschließlich auf wenige Seiten des Dokuments konzentriert. So wurde das Schreiben auch als Kapitalismuskritik aufgenommen, obwohl das Wort kein einziges Mal darin vorkommt.


Selten hat eine römische Erklärung in der medialen Öffentlichkeit Deutschlands eine solche Resonanz ausgelöst wie das Apostolische Schreiben von Papst Franziskus. Ganz und gar ungewöhnlich war, dass zwei leitende Redakteure derselben Zeitung, nämlich Marc Beise (Der Papst irrt, Süddeutsche Zeitung, 30.11./1.12.13) und Heribert Prantl (Kapitalismus tötet? Süddeutsche Zeitung, 7./8.12.13) im Abstand einer Woche derart gegensätzlich urteilen. Ihnen sind andere gefolgt, die einen Tsunami der Erregung über die Anklagen des Papstes ausgegossen haben, etwa die "absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation" (Nr. 56), den "Fetischismus des Geldes" (55), die Ungleichverteilung der Einkünfte als "Wurzel sozialer Übel" (202), das gesellschaftliche und wirtschaftliche System, das "an der Wurzel ungerecht ist" (59), eine "Wirtschaft, die tötet", Ausgeschlossene, die nicht ausgebeutet und unterdrückt sind, "sondern Müll, 'Abfall'"(53).

Da der Papst zum Dialog einlädt, dürfe man ihm auch widersprechen, meint Beise: "Man muss ihm widersprechen". Die skeptischen Vorbehalte und Einwände ausgewählter Autoren lassen sich zu einem Mosaik mit sieben Motiven zusammenfügen.


Ein erstes Motiv ist die Abwehr "einer ungewöhnlich harschen Kritik am Kapitalismus". "Der Papst mit seinem Generalangriff auf das 'herrschende System' differenziert nicht" (Beise). Die Sprache sei anklagend, aber wolkig, meint Ulrike Herrmann: "So stark seine Worte sind - so schwach ist die Analyse" (Der Papst und das Kapital, Die Tageszeitung, 21.12.13). Die Aussagen des Papstes erschöpfen sich "in einer vagen, substanzarmen Klage gegen allzu freie Märkte" (Robert Grözinger, Das christliche Herz der Marktwirtschaft, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.12.13).

Damit ist ein zweites Motiv genannt, nämlich die Unkenntnis des Papstes gegenüber den Funktionsregeln der Wirtschaft. "Franziskus zeigt wenig Verständnis für das, was in der Wirtschaft vorgeht und was sie ausmacht" (Rüdiger Jungblut, Der Papst und die Wirtschaft, Die Zeit, 19.12.13). Das wütend vorgebrachte Beispiel eines alten Mannes, der auf der Straße unerwähnt erfriert, während das Fallen der Börsenkurse um zwei Punkte aufmerksam registriert wird, sei kein einleuchtendes Argument. Ebenso wenig lasse sich ein Zusammenhang zwischen den Menschen, die Hunger leiden, und denen, die Nahrungsmittel wegwerfen, herstellen. Die Wirtschaft sei nicht vom Kampf geprägt, sondern vom "Gesetz des Besseren". Wirtschaftliche Macht existiere, werde aber verteilt zwischen innovativen Unternehmern und solchen, die deren Vorsprung einholen.

Das Schlagwort der anthropologischen Krise als Ursache der Finanzkrise erkläre nichts. Menschliche Solidarität könne die Funktion des Geldes nicht ersetzen. Das Geld schaffe Vertrauen in unübersichtlichen Situationen, um die Tauschpartner kooperationsbereit zu machen. Eine wachsende Produktivität veredle das Arbeitsvermögen und erhöhe den allgemeinen Wohlstand. Die Ungleichverteilung sei der Antriebsmotor des wirtschaftlichen Fortschritts und der Zivilisation; wenngleich dieser Prozess nicht gleichzeitig verläuft.

Andreas Kuther und Florentine Fritzen haben die Aussagen des Papstes mit Sätzen aus einer Rede des konservativen Londoner Bürgermeisters Boris Johnson konfrontiert. Dieser weiß um die brutale ökonomische Zentrifuge des Wettbewerbs und die Ungleichheit, die ihm unweigerlich folgt. Doch in einer Diskussion über Gleichheit und Ungleichheit sind die unterschiedlichen Talente der Menschen relevant. "Je heftiger Sie die Packung schütteln, desto leichter wird es manchen Cornflakes gelingen, an die Spitze zu kommen. Und aus dem einen oder anderen Grund (...) wird die Gehaltslücke zwischen Spitzen-Cornflakes und Bodensatz-Cornflakes größer denn je" (Der Kapitalismus, Wurzel des Bösen? Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 1.12.13).


Die Annahme, dass der Papst wirtschaftliche und geschichtliche Zusammenhänge zu wenig verstehe, erweitert sich zu einem dritten Motiv. Das Apostolische Schreiben vertrete einen "besonders grobschlächtigen Antikapitalismus". Dessen Kern jedoch gehe mit der biblischen Tradition des Christentums konform, meint Rainer Hank: "Das Christentum hatte immer schon ein äußerst distanziertes Verhältnis zum Privateigentum und verabscheute den Reichtum" (Die Kirche verachtet die Reichen, FAS, 1.12.13). Die Apostel hätten die Armut gepredigt und nicht die Tugenden der Kaufleute und des Unternehmertums.

Die Utopie eines christlichen Kommunismus, die auf Christen bis heute verführerisch wirke, sei keine gute Voraussetzung, um eine marktwirtschaftliche Ordnung, Wettbewerb, Privateigentum, Profit und Reichtum positiv zu bewerten. Dagegen seien die spanische Spätscholastik, die den Reichtum und das Privateigentum ethisch und theologisch gerechtfertigt hat, sowie die Florentiner Kaufleute der Frührenaissance, die in der kaufmännischen Anstrengung und der gerechten Belohnung die Schöpfungsarbeit Gottes nachzuahmen meinten, zwei rühmliche Ausnahmen.


Abweichend argumentiert Grözinger: Das Schreiben des Papstes habe Schaden angerichtet, falls man daraus schließen sollte, dass das Christentum marktfeindlich sei. Dies wäre völlig abwegig und ein Rückfall in die Zeit der Aufklärung. Denn erst mit ihr "entstand ein tiefer Riss zwischen freiheitlicher politischer Ökonomie und christlicher Theologie" (Das christliche Herz der Marktwirtschaft, FAZ, 30.12.13). Europa sei die Kernregion des Christentums und ebenso der Entstehungsort der freien kapitalistischen Wirtschaft.

Mit dem Aufstieg des Christentums habe sich eine hohe Wertschätzung der Arbeit, des Gewerbes und des Handels durchgesetzt. Die spanischen Spätscholastiker hätten gar herausgefunden, dass letztlich subjektive Bewertungen die im freien Tausch ermittelten Markt- und Geldpreise beeinflussen. "Die Äußerungen des 266ten Papstes sind repräsentativ für die moderne Unkenntnis vieler Christen über die politische Ökonomie einer wirklich freien Marktwirtschaft und wie diese aus ihren Glaubensgrundsätzen erwächst".


Die dramatische Wirtschaftsgeschichte Argentiniens

Ein scheinbar einfühlsames Verständnis für die Sichtweise des Papstes wird in einem vierten Motiv erkennbar. Daniel Deckers schreibt, dass sich in den Schilderungen und Appellen des Dokuments vor allem die dramatische Wirtschaftsgeschichte Argentiniens seit dem Ende der Militärdiktatur spiegle. Kenntnisreich schildert er die Phasen der Hyperinflation, der vom IWF auferlegten Privatisierungen, der radikalen Deregulierungen, des Anstiegs der Staatsverschuldung, der überhöhten Anbindung des Peso an den Dollar, des Zusammenbruchs des Finanzmarkts und des Staatsbankrotts. "All das führte zur Verarmung breiter Teile der Bevölkerung, deren strukturelle Ursachen bis heute nicht überwunden sind" (Der Globalisierungskritiker, FAZ, 28.11.13). Doch die Verhältnisse in Argentinien dürften weder auf andere marktwirtschaftlich orientierte Länder Lateinamerikas, in denen Armut und Ungleichheit signifikant gesunken sind, noch auf die Weltwirtschaft insgesamt übertragen werden.

Ähnlich verweist Beise auf die selektive Wahrnehmung des Papstes: "Der frühere Erzbischof von Buenos Aires lässt sich offensichtlich von seinen Erfahrungen in Lateinamerika leiten. Aber er benennt das nicht". Rainer Hank sieht den regionalen Blick des Papstes zusätzlich von der "in Lateinamerika verbreiteten spätmarxistischen 'Theologie der Befreiung' geprägt". Darin sei nicht beabsichtigt, die Armen aus ihrer Armut zu befreien und zu bereichern, sondern es gehe schon eher "um eine mal vage, mal konkret ausgemalte Umwälzung der Wirtschaft in Richtung einer sozialistischen Gesellschaft der Gleichen".


Nur Barmherzigkeit und Almosen für die Armen?

Das fünfte Motiv hat ein besonderes Gewicht. Exemplarisch für den Einwand gegen die Pauschalurteile des Papstes behauptet Beise: "In Deutschland (...) sieht die Welt anders aus". Dem Land gehe es gut, noch nie seien so viele Menschen erwerbstätig gewesen. Unternehmer folgten praktisch dem Verfassungsgebot: "Eigentum verpflichtet". Gewerkschaften dächten an das große Ganze, die Tarifpartnerschaft funktioniere kooperativ. Zwar verlange die globale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft Abstriche bei den Arbeitsbedingungen und Löhnen, von denen immer mehr unter dem Existenzminimum liegen. Und auch in Deutschland gebe es Not.

Aber dies seien Defizite am Rand einer sozialen Marktwirtschaft, die auch Kapitalismus genannt werden darf. Selbst in der Finanzkrise sollte nicht die Marktwirtschaft im Feuer stehen, sondern Fehler an einigen Stellen des Ordnungsgerüsts. Eine Marktwirtschaft, die nach Recht und Gesetz organisiert ist, sei das Beste, was den Menschen bisher eingefallen ist. Alle Versuche, aus diesem System auszubrechen, statt es zu optimieren, seien regelmäßig in Unfreiheit, Ungerechtigkeit und Armut geendet.


Überlegungen, wie die Armut aus der Welt zu schaffen sei, bilden das sechste Motiv. "Das zentrale Thema dieses Papstes ist die Armut", erkennt Jungblut, wenngleich er zu bedenken gibt: "Auf der Erde leben 1,2 Milliarden Menschen in extremer Armut. Eine schreckliche Zahl, aber es sind 700 Millionen weniger als vor 30 Jahren. Eingedämmt wurde die Armut vor allem in China, Indien und Brasilien. China ist ein Beispiel dafür, wie Armut zurückgeht, wenn die Koordination der Wirtschaft über Märkte läuft."

Papst Franziskus habe den Armen nur Barmherzigkeit und Almosen anzubieten, meint Hank. "Dass es zur Überwindung der Armut Marktwirtschaft und Kapitalismus braucht, kann dieser Papst nicht sehen". Herrmann schreibt: "Es war nicht die Kirche, die viele Menschen aus der Armut herausgeführt hat - sondern die Industrialisierung." Der Wohlstand der Bevölkerung sei gerade jenem Kapitalismus zu verdanken, der von Franziskus angeprangert wird. Und der Londoner Bürgermeister kommentiert das Gleichnis des barmherzigen Samariters, dass es dem unter die Räuber Gefallenen nichts genützt hätte, wenn dieser nicht reich genug gewesen wäre zu helfen. Reiche Menschen zahlen einen weit größeren Anteil an Einkommensteuer als früher, findet er. "Das sind ganz schön viele Schulen und Straßen und Krankenhäuser, die von den Superreichen bezahlt werden."


Das siebte Motiv hat einen semantischen Charakter. Ingo Pies stellt fest, dass es zwischen Wirtschaftsjournalisten als Vertretern der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und dem Verfasser des Apostolischen Schreibens Verständigungsprobleme gibt, insofern die Kritiker das Dokument des Papstes als absolut marktfeindlich einschätzen, was wohl nicht der Fall ist. Seine Erklärung lautet: Der Papst richte seine Worte an die Mitglieder der katholischen Kirche. Es handle sich also um eine rein binnenkirchliche Kommunikation. Diesem Kontext entspreche eine voraussetzungsreiche Sprache, die theologisch-sozialpastoral aufgeladen und Bestandteil einer eigenständigen traditionsreichen Begriffsgeschichte ist.

Zudem bediene sich der Papst einer ungewöhnlich bilderreichen Sprache. Er ziele vor allem auf eine Änderung der persönlichen Gesinnung und erst nachrangig auf Strukturreformen. Insofern sei es für ein angemessenes Verständnis des päpstlichen Schreibens unabdingbar, "dass man die hier vorliegende kirchliche Binnenkommunikation nicht mit einer gesellschaftlichen Außenkommunikation verwechselt" ("Diese Wirtschaft tötet", Wirtschaftsethische Stellungnahme, Diskussionspapier 2013-28, Halle 2013).


Prophetische Worte

Es ist bemerkenswert, dass die Resonanz in den ausgewählten Medien fast ausschließlich auf neun Seiten eines 310 Seiten umfassenden päpstlichen Dokuments konzentriert ist. Folglich bleiben dessen zentraler Inhalt und die Aussageabsicht des Autors überschattet. Der Papst wünscht sich indessen einen neuen Aufbruch der Kirche, ein Herausgehen aus der Selbstbespiegelung und eine Hinwendung zu den Armen dieser Welt. Er möchte eine Etappe der Verkündigung des Evangeliums einleiten, die in der Freude an Gott wurzelt und eine soziale Dimension einschließt. Diese Absicht wollte er wohl ursprünglich in sieben Schritten entfalten (17).

Die finale Gliederung in fünf Kapitel überdeckt die ursprüngliche Architektur. So wirkt das zweite Kapitel eingeschoben, in dem der wirtschaftliche und gesellschaftliche Kontext der Evangelisierung in einem vierfachen prophetischen Nein formuliert wird: zu einer Wirtschaft, die ausschließt und eine zunehmend asymmetrische Güterverteilung verursacht; zu einer Hegemonie der Kapitalmärkte über Unternehmen, Belegschaften, politische Entscheidungen und die Privatsphäre; zu Finanzgeschäften, die sich von der Realwirtschaft abgelöst haben; zu einer gesellschaftlichen Polarisierung, die Gewalt erzeugt (53-60).


Die Orte eines vielfältigen Notschreis

Dagegen werden im vierten Kapitel die sozialen Dimensionen der Evangelisierung genannt, wie Glaube und Einsatz für unlösbar miteinander verbunden sind, wie die Armen gesellschaftlich eingegliedert werden, wie eine ausgewogene Einkommensverteilung zu gewinnen ist und wie Gerechtigkeit und Frieden national und international zu finden sind. Aus einer solchen umfassenden Lektüre des Apostolischen Schreibens lassen sich fünf Folgerungen ziehen.


Erstens liegt dem Papst eine Trennung zwischen binnenkirchlicher Kommunikation und einer dialogischen Präsenz der Kirche in den Sphären der Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik völlig fern. Erst recht lässt er sich nicht darauf ein, Religion und christlichen Glauben in die Privatsphäre zu verweisen und deren öffentlichen Charakter zu verdrängen (182).

Er ist davon überzeugt, dass sich die in Teilsysteme ausdifferenzierten gesellschaftlichen Funktionen und deren Sprachspiele durch eine kreative und kompetente Übersetzungsarbeit vermitteln lassen. Folglich setzt eine religiöse und moralische Kommunikation die wirtschaftlichen und politischen Funktionsregeln weder außer Kraft, noch stört sie diese. Dies gilt auch umgekehrt, indem das Volk Gottes bereit ist, von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu lernen.


Zweitens sind die Äußerungen des Papstes ebenso weit davon entfernt, strikt zu trennen zwischen dem sozialpastoralen Appell an eine persönliche Gesinnungsumkehr, und der politischen Forderung struktureller Reformen, die er an die wirtschaftlichen und staatlichen Entscheidungsträger richtet, dass sie den Primat der allgemeinen Interessen - in seiner Sprache: des Gemeinguts beziehungsweise des Gemeinwohls - gegen die Ansprüche privater wirtschaftlicher Interessen behaupten und durchsetzen. Er neigt wohl dazu, strukturelle Reformen, ohne dass sie von einer entsprechenden Gesinnungsänderung begleitet werden, als sehr riskant einzustufen.


Drittens verteufelt der Papst weder den Markt noch die Unternehmen noch den Wohlstand, wohl aber die asymmetrische Dynamik der Güterverteilung, die Gesellschaften zerreißt. Er will für die Armen kein Almosen, sondern ihnen das Recht verschaffen, in die Gesellschaft eingegliedert zu sein.


Viertens wird nach diesen Klarstellungen die konzeptionelle und sprachliche Eigenart des päpstlichen Schreibens erkennbar. Es will weder eine rein theologisch-dogmatische Abhandlung sein noch ein umfassendes Dokument über soziale Fragen, denn für eine einlinige Interpretation der sozialen Wirklichkeit oder einen verbindlichen Vorschlag zur Lösung der gegenwärtigen Probleme fehle ihm die Kompetenz, erklärt der Papst (184).

Das zweite Kapitel ist im Stil einer prophetischen Rede verfasst. Der Papst identifiziert die offenen Wunden eines globalen Systems, die das Leiden der am wenigsten Begünstigten der Dritten und Vierten Welt aufdecken. Weil er deren Nähe in Rio oder in Lampedusa sucht, sind die Orte eines vielfältigen Notschreis sprachlich zu erkennen. Prophetische Rede erinnert zugleich an den normativen Maßstab einer demokratischen Gesellschaft: Gerechtigkeit als Vermutung moralischer Gleichheit, indem Bürgerinnen und Bürger sich das gleiche Recht zugestehen, als Gleiche anerkannt und behandelt zu werden. Der formale Grundsatz dieser Gerechtigkeit lautet: Gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse sind vor denen zu rechtfertigen, die am meisten davon betroffen und am wenigsten begünstigt sind.

Dass der Papst als Anwalt der Gerechtigkeit, der vom Ende der Welt kommt, wie er wiederholt betont, die Weltwirtschaft und Weltgesellschaft nicht vom satten Standpunkt Deutschlands, sondern aus der Perspektive der globalen Ausgrenzung beurteilt, ist angemessen und gerechtfertigt. Das Apostolische Schreiben insgesamt ist indessen im sozialpastoralen Stil eines einfühlsamen und entschiedenen Mahnschreibens verfasst - gerade im so genannten vierten Kapitel, das der sozialen Dimension der Evangelisierung gewidmet ist.


Mutation des Sozialstaats in eine Finanzdemokratie

Fünftens sind manche Einwände von einem seltsamen Vertrauen in die Selbststeuerungskräfte vermeintlich informationseffizienter Märkte kontaminiert. Die mit wehender Fahne proklamierte "soziale Marktwirtschaft" ist eher eine große Erzählung oder politische Kampfformel, weniger eine präzise Diagnose der real existierenden Wirtschaft in Deutschland. Ist die ordoliberale Variante der Freiburger Schule gemeint, deren von Alfred Müller-Armack sozial und ökologisch erweiterte zweite Phase, Karl Schillers aufgeklärte soziale Marktwirtschaft, die von der Elektro- und Metallindustrie finanzierte Initiative oder ein sozial temperierter Kapitalismus, den der Jesuit Oswald von Nell-Breuning im Blick hatte? Ist es vertretbar, ein angeblich untadelig funktionierendes System anzuhimmeln und gleichzeitig unzählige, als marginal deklarierte Formen individuellen Fehlverhaltens anzuprangern, ohne zu bedenken, dass aus Systemversagen Handlungsfehler hervorgehen?

Funktionierende, in eine öffentliche Rechtsordnung und staatliche Gesetze eingebettete Märkte garantieren nicht automatisch, dass sie im Dienst der gesellschaftlichen Grundnorm gleicher Gerechtigkeit stehen. Zudem haben systemsprengende Eingriffe der Regierenden solidarische Sicherungssysteme deformiert, Arbeitsverhältnisse entregelt und eine massive Umverteilung von unten nach oben verursacht. Mit der Mutation des Sozialstaats in eine Finanzdemokratie, einen Wettbewerbs- und Sicherheitsstaat sowie in ein öffentlich-privates Netzwerk wirtschaftlicher und politischer Eliten sind genau jene systemischen Defizite entstanden, die national und international gesellschaftliche Risse vertieft haben, so dass Teile der Bevölkerung vom Zugang zu den öffentlichen Gütern Arbeit, Wohnung, Gesundheit und Bildung ausgeschlossen sind.


Päpstliche Kapitalismuskritik

Es wirkt skurril, dass das Schreiben des Papstes als Kapitalismuskritik aufgenommen worden ist, obwohl das Wort kein einziges Mal darin vorkommt. Haben die Kritiker instinktiv gespürt, wie sehr Franziskus in seiner Sprache Positionen des polnischen Papstes vertritt? Es gibt die Kapitalismuskritik in der katholischen Soziallehre, deren Prinzipien Franziskus zitiert, wenngleich er wenig damit anfangen kann. Denn er erläutert eigene Prioritäten in der Dualität von Raum und Zeit, Ganzem und Teil, Einheit und Konflikt, Wirklichkeit und Idee.

Erst recht gibt es eine Kapitalismuskritik in der römischen Sozialverkündigung nach dem Konzil. Schon Pius XI. hatte 1931 die kapitalistische Produktionsweise, nämlich marktwirtschaftlichen Wettbewerb, elastische Geldversorgung, hochgradige Technik und privatautonome Unternehmen als wertneutral beurteilt, während er die gesellschaftlichen Machtverhältnisse verurteilt hat, wenn einer Minderheit die Produktionsmittel gehören, während eine Mehrheit bloß über ein Arbeitsvermögen verfügt.


Daran knüpfte Paul VI. an, indem er den Wettbewerb als letztes regulatives Prinzip des Wirtschaftens ebenso verwirft wie das Privateigentum als ein absolutes Recht, das weniger wiegt als die allgemeine Bestimmung der Güter der Erde für alle. Der freie internationale Handel verletze die Grundsätze der Fairness, wenn die Verhandlungsmacht ungleich verteilt ist, selbst wenn beide Partner zustimmen.


Johannes Paul II. fragte nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus, ob der Kapitalismus, weil er aus der Systemkonkurrenz als Sieger hervorgegangen war, bereits im Recht sei. Er bejaht ihn, wenn die positive Rolle des Unternehmens, des sozial gebundenen Privateigentums an Produktionsmitteln sowie die freie Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkannt ist und der Markt sich nicht in einem institutionellen Leerraum abspielt, sondern rechtlich und politisch eingebettet ist. Entschieden negativ ist seine Antwort, wenn die wirtschaftliche Entwicklung über große Bevölkerungsgruppen hinweggeht, wenn Menschen ausgebeutet und unterdrückt werden, wenn sie ein Land bebauen, das ihnen nicht gehört und wie halbe Sklaven behandelt werden, wenn sie Randexistenzen bleiben und sich nicht an der gesellschaftlich organisierten Arbeit beteiligen können. Papst Franziskus scheint seinen polnischen Vorgänger zu kennen.


Der promovierte Ökonom und Jesuit Friedhelm Hengsbach (geb. 1937) war bis 2006 Professor für Christliche Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen und Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik. Er lebt und arbeitet jetzt in der Katholischen Akademie Rhein-Neckar in Ludwigshafen (Rhein). Aus den jüngsten Publikationen: Ein anderer Kapitalismus ist möglich. Wie nach der Krise ein Leben gelingt, 2009; Gottes Volk im Exil. Anstöße zur Kirchenreform, 2011; Das Kreuz mit der Arbeit. Politische Predigten, 2011; Die Zeit gehört uns. Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung 2013.

*

Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
68. Jahrgang, Heft 3, März 2014, S. 119-124
Anschrift der Redaktion:
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg i.Br.
Telefon: 0761/27 17-388
Telefax: 0761/27 17-488
E-Mail: herderkorrespondenz@herder.de
www.herder-korrespondenz.de
 
Die "Herder Korrespondenz" erscheint jährlich mit 12 Monatsausgaben
plus 2 Spezialausgaben.
Heftpreis im Abo 11,50 Euro zzgl. 0,80 Euro Versand.
Das Einzelheft kostet 12,90 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2014