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STANDPUNKT/082: Gedenkkultur und Begegnung mit dem Judentum (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 11 vom 17. Juni 2008

Gedenkkultur und Begegnung mit dem Judentum

Am 30. Juni 2008 wird im Hörsaalzentrum die Ausstellung "Antisemitismus? Antizionismus? Israelkritik?" eröffnet. Das UJ sprach mit Dr. Julia Schulze Wessel, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte der TUD


UJ: Was genau ist eigentlich Antisemitismus? Was macht ihn aus?

DR. JULIA SCHULZE WESSEL: Antisemitismus verweist zunächst einmal auf eine generelle, abwertende Haltung gegenüber Juden, die sich religiöser, kultureller, nationalistischer oder rassistischer Quellen bedient. Im Antisemitismus gibt es eine große Spannbreite von antisemitischen Vorurteilen und Klischees bis hin zu abgeschlossenen antisemitischen Weltbildern. Antisemitische Vorurteile sind jahrhundertealt und auch heute immer noch weit verbreitet, wie z. B. das Vorurteil über den "Geldjuden". Einzelne Vorurteile können jedoch geändert werden. Sie sind Argumenten zugänglich. Ein antisemitisches Weltbild zu haben bedeutet, die ganze Welt in ein bestimmtes Schema zu pressen. Dieser Antisemitismus kann alles erklären und findet auf jede Frage eine passende Antwort. So gibt es verschiedene Verschwörungstheorien, die alle Übel dieser Welt auf eine geheime Herrschaft der Juden zurückführen. Juden gelten hier als das Negative schlechthin.

Der Antisemitismus knüpft immer an reale, in der Gesellschaft vorhandene Konflikte an, die mit dem Verhalten von Juden in keinem Zusammenhang stehen. Durch die Zeiten hindurch hat er sich in seiner Ausdrucksform immer den jeweiligen Gegebenheiten angepasst. So hängt z. B. der Nachkriegsantisemitismus in Deutschland unmittelbar mit dem Bestreben zusammen, Schuld und Verantwortung für die Verbrechen an den Juden zu leugnen oder zumindest zu relativieren. In diesen Kontext gehört auch die in der DDR und der westdeutschen Linken verbreitete antizionistische Haltung. So paradox es klingt, gibt es den Antisemitismus nach 1945 nicht trotz, sondern wegen Auschwitz.

UJ: In welchem Verhältnis steht ein rassisch begründeter Judenhass zu einem religiös begründeten?

DR. JULIA SCHULZE WESSEL: Der religiös begründete Judenhass beruht auf der engen Verbindung von jüdischem und christlichem Glauben. Das Christentum entstand aus dem Judentum, beide Religionen teilen sich das Alte Testament. Das Christentum hat sich immer als Überwindung des Judentums verstanden und das Festhalten der Juden an ihrem Glauben bedeutete damit ein tagtägliches Infragestellen der eigenen religiösen Überzeugung, der Überzeugung, dass Jesus der Messias, der Sohn Gottes ist. Der religiöse Antijudaismus hat immer die Möglichkeit der Taufe gelassen, die Juden zu Christen machen konnte. Das ist der wichtige Unterschied zu einem rassistisch begründeten.

Im 19. Jahrhundert, im Zuge der Diskussion um die politische Emanzipation der Juden, war von vielen Befürwortern der Emanzipation die Hoffnung verbunden, dass sich Juden in die christliche Gesellschaft assimilieren werden. Da die religiösen Fundamente der Gesellschaft immer unwichtiger und insgesamt Wissenschaft und Politik zunehmend "biologisiert" wurden, entwickelte sich aus dem ehemals religiösen oder kulturellen Gegensatz ein biologistisch begründeter. Juden wurden als "Rasse" definiert, die substantiell von anderen geschieden war und die sich unversöhnlich und unintegrierbar gegenüberstanden. Dieser rassistisch gewordene Antisemitismus, in dem Juden qua Geburt zu Juden wurden, ließ kein Entkommen mehr. Die Konsequenzen des rassistischen Antisemitismus zeigten sich in ihrer ganzen brutalen Logik in der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Anders als im religiösen Antijudaismus lässt der rassistische Antisemitismus also keine Möglichkeit, sich für oder gegen die Zugehörigkeit zum Judentum zu entscheiden.

UJ: Gibt es heute noch einen christlich geprägten Antijudaismus?

DR. JULIA SCHULZE WESSEL: Der christliche Antijudaismus begegnet uns bis heute. Auch wenn Vertreter der katholischen Kirche um den Dialog zwischen den Religionen bemüht sind, so sind bestimmte Handlungen und Aussagen der katholischen Kirche, vorsichtig ausgedrückt, dem gegenseitigen Respekt nicht zuträglich. Gegen die von Papst Benedikt XVI. wieder eingeführte lateinische Karfreitagsfürbitte hat es zurecht in der letzten Zeit viele Proteste gegeben, mit denen die katholische Kirche hat rechnen müssen.

UJ: War der Islam toleranter als die christlichen Kirchen?

DR. JULIA SCHULZE WESSEL: Zu bestimmten Zeiten war der Islam insgesamt mit Sicherheit toleranter als die christlichen Kirchen. Die Juden lebten damals geachtet und integriert in islamischen Gesellschaften. Trotzdem hat es auch im Islam immer wieder Zeiten antisemitischer Gewaltausbrüche, Zwangstaufen und Pogrome gegeben.

Im neunzehnten Jahrhundert ist der Antisemitismus durch den Einfluss Europas in die arabische Welt transportiert worden und erlangte spätestens mit dem Nationalsozialismus auch durch intensive Propagandatätigkeit immer größere Bedeutung. Genährt wurde dieser Antisemitismus durch die Bestrebungen, einen israelischen Staat in der arabischen Welt zu errichten, auch wenn die zionistische Bewegung nicht von vornherein abgelehnt wurde; ganz im Gegenteil, einige arabische Länder begrüßten am Anfang die Ansiedlung. Ohne die Gründung des Staates Israel hätte er aber in der islamischen Welt nicht eine derartige Macht entfalten können.

UJ: Wie schätzen Sie die heutige Verbreitung des Antisemitismus in osteuropäischen Ländern wie z. B. Polen ein?

DR. JULIA SCHULZE WESSEL: Polen ist ein sehr ambivalentes Land hinsichtlich des Verhältnisses von nicht-jüdischen Polen und jüdischen Polen. Lange Zeit war es das toleranteste Land Europas, während der Zeit des Nationalsozialismus hatten die Juden in Polen soviel Unterstützung von der Bevölkerung wie in keinem anderen Land. Auf der anderen Seite gab es auch nach dem Krieg Pogrome einer aufgehetzten Bevölkerung, denen zahlreiche Juden zum Opfer fielen. In der Zeit der kommunistischen Herrschaft gab es eine von der Partei gesteuerte und von der Bevölkerung zwiespältig aufgenommene Hetze gegen den Zionismus, infolgedessen viele Juden aus ihren Berufen vertrieben wurden. Nach den Ausschreitungen im Jahr 1946 und der öffentlichen Propaganda 1968 verließen die meisten Juden Polen und wanderten nach Israel aus. Umfrageergebnissen zufolge sind in den Staaten der europäischen Union heute antisemitische Ansichten in Ungarn und Polen am häufigsten anzutreffen. Aber es muss sich hier nicht um ein ausgebildetes antisemitisches Denksystem handeln.

UJ: Wie sehen Sie das Verhältnis von Israelkritik, Kritik am Zionismus und dem Antisemitismus?

DR. JULIA SCHULZE WESSEL: Die Frage ist nur schwer zu beantworten. Denn es ist kaum möglich, klare Trennlinien zu ziehen. An der Diskussion um legitime Israelkritik und Antisemitismus kann man gut sehen, wie schwierig und wie belastet das Verhältnis zwischen nichtjüdischen Deutschen und Juden noch immer ist.

Zunächst muss festgehalten werden, dass, entgegen vieler anderslautender Meinungen, Kritik an der israelischen Politik in Deutschland an der Tagesordnung ist. Und es ist auch legitim, die Politik Israels zu kritisieren; aber - und das ist ganz wichtig - sie legitimiert nicht zum Antisemitismus. Antisemitische Äußerungen sind weder durch Verhalten von Juden noch durch die israelische Politik zu begründen oder zu rechtfertigen. Denn der Antisemitismus verweist immer auf Probleme und Konflikte der antisemitischen Gesellschaft bzw. des antisemitischen Individuums selbst und steht mit Handlungen von Juden in keinem oder keinem direkten Zusammenhang. Die Frage ist immer, ob die Kritik an Israel für irgendetwas genutzt wird, also nur Anlass bietet, um etwas anderes auszudrücken. Spricht jemand z. B. von einem Vernichtungsfeldzug Israels gegen die Palästinenser, nutzt also Begriffe der NS-Zeit, um sie gegen Israel anzuwenden, dann scheint mir das Interesse eher der Gleichsetzung von NS und heutiger Politik Israels zu gelten als einer sachlichen Auseinandersetzung. Hinter der Gleichsetzung steckt der Wunsch, aus den ehemaligen Opfern mindestens genauso grausame Täter zu machen, wie sie die eigene Geschichte hervorgebracht hat. Das entlastet von Schuld und der zu tragenden Verantwortung.

UJ: Aus dem Holocaust ergibt sich eine besondere Verantwortung Deutscher für jüdisches Leben heute. Wie sollten Deutsche heute, von denen die allerwenigsten die Zeit des Holocaust bewusst erlebt haben, eine solche Verantwortung wahrnehmen?

DR. JULIA SCHULZE WESSEL: Heute geht es nicht mehr um die Frage von persönlicher oder kollektiver Schuld, sondern um die der Verantwortung Deutschlands und damit jedes Staatsbürgers, die sie für die Geschichte übernehmen müssen.

Die Monströsität der Verbrechen, die die Deutschen während des Nationalsozialismus begingen, muss auch heutige Generationen verpflichten, sich diesen Verbrechen zu stellen, einfach schon deshalb, weil sie andere und auch unsere Gesellschaften bis heute prägen.

Die Verantwortung der heutigen Generation liegt für mich zum einen in der materiellen Entschädigung der damaligen Opfer. Die Entschädigungszahlungen sind bis heute defizitär und sind meist auf den Druck von außen geleistet worden, wie z. B. die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter, die ohnehin für die meisten der Opfer viel zu spät kam. Aber Verantwortung bedeutet nicht nur die materielle Entschädigung. Sie bedeutet auch, die Erinnerung an die Opfer und an die Verbrechen wachzuhalten. Und damit meine ich nicht eine rituelle Gedenkkultur, sondern eine lebendige Auseinandersetzung, die nicht Desinteresse provoziert und nicht die "Dauerrepräsentation unserer Schande" (Martin Walser) beklagt, sondern die "Schande" selbst.

Die Erinnerungs- und Gedenkkultur in Deutschland ist in den letzten Jahren meines Erachtens zu laut und zu selbstbewusst geworden. Deutschland verweist stolz darauf, dass es sich verantwortungsvoll seiner Vergangenheit gestellt hat. Das sollten besser andere, aber nicht wir beurteilen. Mir fehlen insgesamt die leisen und mehr demutsvollen Gesten in der Haltung der Deutschen gegenüber ihren ehemaligen Opfern. Eines der wenigen Zeichen in diesem Sinne war der Kniefall Willy Brandts vor dem Ehrenmal des jüdischen Ghettos in Warschau. Von diesen Gesten hätte es mehr geben müssen.


Die Fragen stellte Mathias Bäumel.

Ausstellung "Antisemitismus? Antizionismus? Israelkritik?", HSZ, Bergstraße 64,01069 Dresden, 30. Juni 2008 (Eröffnung 15 Uhr unter anderem mit einem Vortrag von Prof. Werner Bergmann "Die Juden sind unser Unglück!" - Motive und Denkmuster das aktuellen Antisemitismus) bis 1. August 2008. Konzept der Ausstellung: Zentrum für Antisemitismusforschung Berlin und Holocaustgedenkstätte Yad Vashem


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Bildunterschrift:

Der Nordpalast des Herodes, Masada, Israel. Der jüdisch-römische Historiker Flavius Josephus überlieferte die Belagerungsgeschichte der Festung Masada am Südwestende des Toten Meeres in seinem Werk "Der jüdische Krieg". Demnach verteidigten sich in den Jahren 70 bis 73 n. Chr, nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem, in Masada insgesamt 973 Juden gegen eine Übermacht von 15.000 römischen Legionären. Flavius Josephus berichtet, dass die Belagerten unter Führung von Eleazar ben-Yair angesichts ihrer aussichtslosen Lage beschlossen, lieber als freie Menschen zu sterben, als den Römern in die Hände zu fallen. Mit dem Fall von Masada wurde auch das endgültige Ende des damaligen jüdischen Staatswesens eingeleitet. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Frage nach einem eigenen Judenstaat wieder stark diskutiert; mit der Gründung Israels Mitte Mai 1948 - knapp 1900 Jahre nach Masada - erreichten diese zionistischen Bestrebungen ihr Ziel.


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Was ist eigentlich ...?

Antijudaismus (griechisch-lateinisch: "prinzipiell gegen Juden") nennt man die Ablehnung, Anfeindung und Verfolgung von Angehörigen des Judentums durch Christen, christliche Kirchen, christliche Staaten und Regierungen.

Antisemitismus ist eine mit Nationalismus, Sozialdarwinismus und Rassismus begründete Judenfeindlichkeit, die seit zirka 1800 in Europa auftrat. Er ist Kernstück des Nationalsozialismus.

Antizionismus bezeichnet verschiedene politische und religiöse Ansichten; die sich gegen den Zionismus - also gegen die Auffassung, die Juden bräuchten einen eigenen, fast immer in Palästina lokalisierten Nationalstaat - richten. Die Ansichten sind teilweise von sehr verschiedener Motivation und Überzeugung. Antizionismus ist nicht gleichzusetzen mit Antisemitismus, kann aber antisemitisch motiviert sein.

Als Zionismus (von Zion) wird die jüdische Nationalbewegung bezeichnet, die sich infolge des europäischen Antisemitismus um 1880 politisch zu organisieren begann und einen eigenen jüdischen Nationalstaat anstrebte. Der jüdische Journalist Nathan Birnbaum aus Wien prägte 1890 den Begriff.

Israelkritik richtet sich gegen Aktionen Israels im Nahostkonflikt, die terroristisch-gewaltsamen Charakter tragen.


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Ausstellung hilft dem Gedenken

Im Artikel 3, (3) des Grundgesetzes steht: Niemand darf wegen ... seiner Abstammung, seiner Rasse, ... seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Schon von daher kann es eine irgendwie geartete Rechtfertigung des Antisemitismus nicht geben. Dennoch muss Kritik an Gewalt generell und auch an israelischer Gewalt gegen Palästinenser - aus einer pazifistisch-humanen Grundhaltung heraus geäußert - gestattet sein. Eine pauschale Einordnung von Israel-Kritikern als Antisemiten geriete lediglich zum Eigentor. Die Ausstellung im TUD-HSZ ist Teil einer angemessenen Gedenkkultur und hilft, diese Zusammenhänge aufzuhellen. (M. B.)


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 19. Jg., Nr. 11 vom 17. Juni 2008, S. 3
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juli 2008