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STANDPUNKT/028: Berliner Gebetsraumurteil - Im Zweifel für die Religionsfreiheit (Mohammed Khallouk)


Im Zweifel für die Religionsfreiheit

Das Berliner Gebetsraumurteil legt die Diskrepanz zwischen staatlichem Neutralitätsgebot und Neutralitätsverständnis von Staatsbeamten offen

Von Mohammed Khallouk, Januar 2010


Beitrag zur religiösen Gleichberechtigung oder Schritt zur Islamisierung Deutschlands?

Ein am 29. September 2009 verkündetes Urteil des Berliner Verwaltungsgericht, das eine Schule zur Bereitstellung von Gebetsräumen für Muslime verpflichtet, hat zu öffentlichem Aufruhr und zahlreichen polemischen Kommentaren aus der gesamten Republik geführt. Nach wie vor treibt der Richterspruch die Emotionen in und außerhalb der deutschen Hauptstadt nach oben, woraus der Berliner Senat sich motiviert sieht, ein Berufungsverfahren prüfen zu lassen. Erachteten die Richter ihre Entscheidung als wegweisend nicht nur im Sinne des Rechtsfriedens, sondern auch des friedlichen Miteinanders verschiedener Religionen und Weltanschauungen innerhalb des deutschen Schulwesens, glauben prominente Repräsentanten aus Politik und Medien, darin einen entscheidenden Schritt zur "Islamisierung Deutschlands" zu erkennen. Der jüdische Publizist und Buchautor Henryk M. Broder beispielsweise bescheinigte dem Gericht, es habe sich "strikt an die Scharia gehalten", was für eine säkulare Demokratie "selbstmörderisch" sei.

Zweifelsohne fühlt sich der Kläger, der 16 jährige Gymnasiast Yunus M., persönlich an die Scharia gebunden, mit der säkularen Demokratie sieht er dies aber ebenso wenig wie die Richter als unvereinbar an. Schließlich beansprucht er lediglich für sich und seine Glaubensgeschwister die aufrechte Praktizierung seiner Religion, nicht aber andere zur Nachahmung seines Verhaltens drängen zu dürfen. Wer dennoch bereits in der Verrichtung des vom Islam vorgeschriebenen Gebets einen "Akt der Missionierung" wähnt, sollte sich, so die Sichtweise des Schülers, nicht gehindert sehen, von dem Betenden während dessen kultischer Handlung sich auf Distanz zu halten. Gerade hierfür dient Yunus M. augenscheinlich der gerichtlich erstrittene Gebetsraum an seiner Schule.

Die Existenz des Islam als offenkundiger Bestandteil der deutschen Gesellschaft wurde in der Tat durch die Berliner Gerichtsentscheidung offiziell bestätigt, wie dies bereits zuvor durch andere Gerichtsurteile (z.B. die öffentliche Akzeptanz des Halal-Schächtens praktiziert durch muslimische Metzger in Deutschland oder die Zulassung eines Burkinis (Ganzköperanzugs) für muslimische Schülerinnen beim obligatorischen Schwimmunterricht) angedeutet wurde. Bestandteil der deutschen Gesellschaft wurde der Islam jedoch nicht durch jene Gerichtsbeschlüsse, sondern bereits zuvor durch die Immigration von Muslimen, die auch in der majoritär nichtmuslimischen Bundesrepublik ihre religiöse Praxis beizubehalten beanspruchen.

Wer tatsächlich im Islam als Religion eine Gefahr für die gesellschaftliche und religiöse Freiheit in Deutschland interpretiert, müsste demzufolge nicht Gerichtsschelte betreiben, sondern den Islam generell verbieten und die muslimischen Immigranten zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer drängen. Yunus Ms. Vater sieht dies auf jeden Fall nicht so, schließlich ist der gebürtige Deutsche ohne Immigrationshintergrund in Deutschland zum Islam konvertiert und hat eine türkischstämmige Immigrantin geheiratet. Bereits bestehende Kontakte zur deutschen Gesellschaft sind dadurch in keiner Weise beeinträchtigt worden, auch wenn alte Freunde und Bekannte die Konversion von Herrn M. ihrerseits nicht nachvollzogen. Sie waren offenbar wie das Gericht in der Lage zu differenzieren zwischen dem Islam als Religion von Individuen und der deutschen Civil Society, in der den verschiedensten Religionen und Weltanschauungen gleichberechtigt nebeneinander Raum zur Entfaltung gegeben ist.


Die religiöse Neutralität der staatlichen Schule wird nicht angetastet

Besonderen Aufruhr bewirkte das Gebetsraumurteil in der Berliner Öffentlichkeit nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass einige Monate zuvor in einem anderen Urteil entschieden worden war, einen spezifischen Rechtsanspruch auf - hier vornehmlich christlichen - Religionsunterricht an Berliner Schulen gäbe es nicht. Während es christlichen Schülern zugemutet würde, in einem majoritär nach wie vor christlichen Land, statt dem gewünschten Religionsunterricht Ethikkunde zu besuchen, billige man muslimischen Schülern zu, ihre religiösen Riten offiziell an der staatlichen Schule zu praktizieren.

Mag man die hierbei gerichtlich sanktionierte politische Entscheidung des Landes Berlin, den Religionsunterricht von den staatlichen Schulen zu verbannen, für falsch und unangemessen erachten - in den meisten anderen Bundesländern besteht das Lehrfach Religion schließlich noch und schließt in einigen Ländern wie Nordrhein-Westfalen islamischen Religionsunterricht ein -, die Gebetspraxis des einzelnen Schülers ist von dieser Frage jedoch nicht tangiert. Er repräsentiert weder den Staat noch die Institution Schule, sondern lediglich sich selbst und seinen privaten Glauben, wie dies jeder christliche Schüler, der in der Unterrichtspause ein Gebet verrichtet oder ein Kreuz um den Hals hängen hat, gleichermaßen praktiziert.

Inoffiziell bestand ein muslimischer Gebetsraum am Diesterweg Gymnasium in Berlin-Wedding, das Yunus M. besucht, bereits lange bevor es zu jenem Rechtsstreit mit der Schule und dem Land Berlin kam. Hier versammelten sich muslimische Schüler verschiedener Islamrichtungen in den Unterrichtspausen zum Beten, ohne dass ihre nichtmuslimischen Mitschüler sich davon in ihren religiösen Gefühlen verletzt sahen. Die Schule als Institution blieb neutral und hatte deren Glauben gleichermaßen respektiert. Erst die Anwesenheit von Alleviten, einer vor allem in der Türkei und Syrien beheimateten minoritären Islamströmung, in jenem inoffiziellen Gebetsraum, störte dieses friedliche Nebeneinander. Einige sunnitische Gläubige sahen den Raum durch die divergente Gebetsform jener Alleviten "entheiligt" und es kam zu Zusammenstößen, welche die Schulleitung veranlassten, den Raum abzuschließen und das Gebet fortan hier nicht mehr zu tolerieren. Ein zweiter, speziell für die Alleviten eingerichteter Raum erschien ihr offenbar zu umständlich zu organisieren, obwohl es hierfür lediglich eines Schildes auf der Nachbartür bedurft hätte, da während der großen Pausen in jeder Schule die überwiegende Mehrheit der Klassenräume leer sind.

Yunus M. sah sich durch diese Entscheidung in seiner religiösen Freiheit jedoch nicht beeinträchtigt und nutzte gemeinsam mit muslimischen Mitschülern von nun an den Schulflur, um zu beten. Nach einer Weile wurde ihm dies allerdings von der Schulleiterin Brigitte Burchardt ebenfalls untersagt. Sie sah durch sein Verhalten die schulische Religionsneutralität verletzt, da sich im Flur auch nichtmuslimische Mitschüler aufhielten, die sich durch Yunus Verhalten missioniert fühlen könnten. Yunus verklagte daraufhin das Land Berlin als Schulträger, das Gericht ließ die Klage in einer Eilentscheidung im März 2009 zu und entschied in seinem Urteil am 29. September, dass die religiöse Neutralität durch Yunus Gebete prinzipiell in keiner Weise beeinträchtigt werde und ihm ein spezieller Raum dafür seitens der Schule zur Verfügung zu stellen sei.

Da die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit sich nicht nur auf die innere Freiheit - zu glauben oder nicht zu glauben -, sondern ebenso auf die äußere Freiheit - die Religion in vorgeschriebener Weise zu praktizieren - beziehe, sei dem Schüler die Verlegung seiner obligatorischen Gebete auf die Zeit nach Schulschluss nicht zuzumuten. Man bezog sich dabei auf ein Gutachten des Erlangener Islamrechtlers Mathias Rohe, der darauf verwies, dass die Gebete im Islam an bestimmte Zeiten gebunden sind und sich daher nicht beliebig verschieben ließen. Wenn nun gemutmaßt werde, andere Glaubensrichtungen könnten dieses spezifische Recht ebenso für sich beanspruchen, ignoriere man die Tatsache, dass in keiner anderen Weltreligion Gebete sich so sehr an festgelegten Tageszeiten zu orientieren hätten wie im Islam. Mit ähnlichen Klagen buddhistischer oder hinduistischer Schüler sei daher nicht zu rechnen. Gerade die Neutralität verlange es jedoch, jedem Schüler die Erfüllung seiner speziellen religiösen Pflichten zuzugestehen, sofern der gesamte Unterrichtsablauf dadurch nicht beeinträchtigt werde.


Beitrag zur Integration von muslimischen Immigranten oder Wegbereiter zu Parallelgesellschaften?

Trotz dieser ausführlichen Begründung des Gerichts hatte das Urteil bei der Schulleiterin wie in der Berliner Politik nicht die angestrebte öffentliche Resonanz erfahren. Mochten christliche Kirchenvertreter wie der ehemalige EKD-Vorsitzende Bischoff Wolfgang Huber und der katholische Kardinal Sterzinsky und sogar konservative Politiker von außerhalb Berlins wie die nordrhein-westphälische Schulministerin Barbara Sommer (CDU) darin einen Beitrag zum gleichberechtigten Miteinander von Muslimen und Nichtmuslimen an deutschen Schulen herauslesen, Schulleiterin Burchardt und die Anwältin der Senatsbildungsverwaltung beschworen die Gefahr von sogenannten "Glaubensinseln" durch den speziellen Gebetsraum für Muslime herauf. Der aus der Türkei stammende grüne Bildungspolitiker Özcan Mutlu wies zudem darauf hin, dass außer dem Iran in keinem mehrheitlich muslimischen Land spezifische Gebetsräume an allgemeinbildenden Schulen bestünden. Abgesehen davon, dass in der Technischen Universität Berlin bereits seit 40 Jahren ein eigener Gebetsraum für Muslime besteht und dort bisher nicht zur gesellschaftlichen Separierung der muslimischen Studentinnen und Studenten von ihren Kommilitonen geführt hat, wäre nach Auffassung von Yunus M. jener Gebetsraum wohl auch nicht notwendig gewesen, wenn Schulleiterin Burchardt ihn wie bisher im Flur des Schulgebäudes hätte beten lassen. Mitschüler, die sich dadurch missioniert gefühlt hätten, hätten sich nicht gehindert gesehen, während seiner Gebetszeiten einen anderen Weg zu nehmen, die räumliche Separierung von der übrigen Schülerschaft wäre jedoch ausgeblieben.

Wege zu Parallelgesellschaften werden weniger durch die öffentliche Praktizierung einer Religion befördert als mehr durch die bewusste Hinausdrängung kultischer Praktiken von Minoritäten aus dem öffentlichen Raum. Letzteres mag durch die Gerichtsentscheidung für einen speziellen Gebetsraum für Muslime formal gesehen unterstützt worden sein, hervorgerufen ist es aber durch die Schulleiterin, die religiöse Neutralität mit dem Verzicht auf Religion in der Öffentlichkeit - zumindest bei Muslimen - gleichsetzte.

Eine weitere Ursache für Integrationsprobleme liegt in der mangelhaften Berücksichtigung spezifischer Bedürfnisse, die aus der Religion begründet sind und sich nicht gegen die Aufnahmegesellschaft wenden. Abgesehen davon, dass Yunus M. als in Deutschland geborener Sohn eines deutschen Vaters selbst in gewisser Weise als pars pro toto dieser Aufnahmegesellschaft anzusehen ist, der von der Schulleiterin in Interviews immer wieder hervorgehobene hohe Immigrantenanteil am Weddinger Gymnasium von fast 60% belegt, dass zumindest in jenem Berliner Stadtteil die Integration bereits ohne speziellen behördlichen Einsatz, d.h. aus Eigeninitiative der Immigranten, einen bedeutenden Schritt vorangekommen ist. Die häufige Assoziation von Immigrantenkindern mit mittelmäßigen Hauptschülern kann hier offenbar nicht der Realität entsprechen. Wenn Behörden und Schulträger dieser Eigeninitiative nicht durch Schikane und Voreingenommenheit gegenüber bestimmten Religionen, insbesondere dem Islam, entgegenwirken, könnte hier der Grundstein für eine ernsthafte Pluralität gelegt werden, die von Schülern wie Eltern und Lehrer als Bereicherung erfahren wird und sich auf dem Arbeitsmarkt, wo Immigranten gleichermaßen in allen Branchen und Hierarchiestufen vertreten sind, fortsetzen.


Urteil als Beleg für die Vereinbarkeit von Islam und deutschem Grundgesetz

Die Empörung, welche der Berliner Richterspruch in großen Teilen der gesellschaftlichen Elite hervorgerufen hat, erweist sich weniger als Anzeichen einer Realitätsferne deutscher Justiz als mehr als Indikator, wie oberflächlich die dortigen Kenntnisse über den Islam und speziell über das Salad, das fünfmal täglich abzuhaltende Gebet, bei führenden Repräsentanten Deutschlands sind. Wenn der jüdische Schriftsteller Ralph Giordano durch das Urteil "den Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche" aufgehoben wähnt, unterschlägt er die Tatsache, dass im Islam - ebenso wie im Judentum - keine Kirche als Institution existiert und folglich eine Kirche im Falle von muslimischen Glaubensfragen überhaupt keinen staatlichen Einfluss gelangen kann. Das Salad ist vielmehr als eine der fünf Säulen des Islam für jeden Muslimen verbindlich - unabhängig davon welche Position gegenwärtige geistliche Führer in der Öffentlichkeit dazu einnehmen und welcher Rechtsschule einer sich zuordnet.

Der Verweis des Bezirksbürgermeisters von Berlin - Neukölln, Heinz Buschkowsky (SPD), muslimische Chirurgen könnten sich auch nicht während der Operation zum Beten von ihrem Patienten entfernen, ignoriert, die vom Gutachter und anerkannten Islamrechtler Rohe ausdrücklich betonte Tatsache, dass eine Zusammenfassung zweier Gebete und eine Verschiebung um kurze Zeit durchaus im Islam zugelassen sei, ebenso wie die richterliche Anmerkung, der Unterrichtsablauf dürfe durch das Verhalten von Yunus M. nicht gestört werden.

Der 16 jährige Schüler ist also - wie bereits vorher im Schulflur praktiziert - für sein Gebet auf die Pausenzeit beschränkt, seinen Unterricht wird er wie bisher vom Beginn bis zum Pausengeläut zu folgen haben und auch in seinen Freistunden sich lediglich Räume auswählen dürfen, in denen gerade kein Unterricht stattfindet. Verzichten wird er deshalb auf seine religiöse Verpflichtung jedoch nicht. Schließlich hat das Gericht keinen Anhaltspunkt dafür gefunden, dass seine Religion dem Grundgesetz entgegensteht und seine religiöse Praxis die staatliche Neutralität in Religionsangelegenheiten beeinträchtigt.

Vielmehr gebietet das Grundgesetz jedem, seine Religion in vorgeschriebener Weise auszuüben, sofern andere in ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit dadurch nicht verletzt werden. Auf letztere Bedingungen werden sich Yunus M. und mit ihm Millionen anderer Muslime an Deutschlands Bildungseinrichtungen einzulassen haben, denn im Zweifel gilt die Religionsfreiheit. Yunus M., der den Islam bisher nie grundgesetzwidrig interpretiert hat, wird diese Kondition auf jeden Fall nicht als Barriere für seine Religionsausübung auffassen.


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Quelle:
© 2010 by Mohammed Khallouk
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2010