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STANDPUNKT/030: Vergebung großgeschrieben - Todesstrafe nicht im Sinne des Korans (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 22. September 2011

Menschenrechte: Vergebung großgeschrieben - Todesstrafe nicht im Sinne des Korans

Von Sanjay Suri


London, 22. September (IPS) - Arabische Staaten, die an der Todesstrafe festhalten, berufen sich gern auf entsprechende Glaubensgrundsätze des Korans oder ziehen Vergleichsbeispiele heran. Doch nach Ansicht von Mohammad Al-Habash, Leiter des Zentrums für Islamische Studien in Damaskus, sollten sie die Heilige Schrift ein wenig genauer studieren. Dann würden sie auf 13 Vorschriften stoßen, die eine Abmilderung der Todesstrafe begünstigen.

"Viele muslimische Länder ahnden weit mehr Vergehen mit der Todesstrafe als im Koran vorgesehen", sagte Habash im Gespräch mit IPS am Rande einer Konferenz zur Todesstrafe in London, zu der die Menschenrechtsorganisation 'Penal Reform International' vom 19. bis 20. September nach London geladen hatte. "Nach mauretanischem Recht können 361 und im Jemen 312 Delikte mit dem Tode bestraft werden. Der Koran hingegen sieht die Höchststrafe für nur ein einziges Verbrechen vor: für Mord."

Doch der Koran gibt Richtern 13 Vorschriften zur Hand, die eine Umwandlung der Todes- in eine weniger harte Strafe erlauben. "So ließ Gott im Zusammenhang mit Al-Qassas zugunsten der Todesstrafe nie Al-Afou unerwähnt, was 'Vergebung' bedeutet. Die Scharia stattet Richter mit diesen 13 Instrumenten gegen die Todesstrafe aus."

Al-Afou sieht Vergebung für den Täter durch die Familie des Opfers vor. Alle Mitglieder der Familie haben das Recht, dem Täter zu verzeihen. Auch wenn nur einer von 20 Angehörigen dazu bereit ist oder das finanzielle Entschädigungsangebot der Täterfamilie anzunehmen gedenkt, muss der Richter von der Todesstrafe Abstand nehmen. "Selbst wenn sich ein Säugling in diesem Sinne äußern würde, müsste der zuständige Richter das Todesurteil vermeiden und abwarten, bis aus dem Baby ein Erwachsener geworden ist, den er dann erneut befragen müsste."

"In einem Zivilprozess kann nach islamischem Recht kein Richter eine Hinrichtung anordnen, ohne die Position der Opferfamilie in Betracht zu ziehen", erläuterte Habash. Das Recht die Todesstrafe zu fordern oder Gnade walten zu lassen, ist ein Vorrecht der Opferfamilie, und nicht des Richters in Fällen, in denen die Todesstrafe vorgesehen sei.


Prinzip der Schuldfähigkeit im Koran angelegt

Ein weiteres Werkzeug im Kampf gegen die Todesstrafe ist 'Choubouhat'. Es zwingt einen Richter dazu, die Todesstrafe zu verweigern, wenn Zweifel an der Schuldfähigkeit des Angeklagten besteht: etwa wenn der Täter unter Alkoholeinfluss gehandelt hatte oder sich der Strafe für sein Tun zum Zeitpunkt des Gewaltverbrechens nicht bewusst gewesen war.

Habash räumte ein, dass die richtige Entscheidung nicht allein davon abhängt, ob die entsprechenden Koranstellen gelesen und richtig interpretiert werden. "Wir müssen auch die islamische Kulturgeschichte berücksichtigen, denn die Todesstrafe ist eher dort angesiedelt als im Koran", betonte er. "Das islamische Recht ist selbst ein Ergebnis vergangener richterlicher Verfahrensweisen. In der Geschichte des Islams und auch des europäischen Christentums wird die Todesstrafe häufig angewandt. Das hat mehr mit Tradition und weniger mit dem Koran zu tun."


Todesstrafe als Machtinstrument

Doch der Disput für oder wider die Todesstrafe geht weit über die Interpretation der heiligen islamischen Schrift und der islamischen Tradition hinaus. Wie Mustapha Bouhandi, Professor für vergleichende Religionswissenschaften in Casablanca gegenüber IPS erklärte, halten die arabischen Länder an der Todesstrafe fest, "weil sie nicht ihre stärkste Waffe der Unterdrückung verlieren wollen". Die Todesstrafe sei für sie eine wirksame Methode, um Oppositionsführer zu eliminieren oder zumindest einzuschüchtern.

In vielen Fällen würden politische Gegner ohne Gerichtsverfahren liquidiert, berichtete Bouhandi. Oftmals werde noch nicht einmal die Familie des Opfers von der Hinrichtung informiert. "Dort, wo es zu Gerichtsverfahren kommt, genießt die arabische Gerichtsbarkeit einen schlechten Ruf. Der Ausgang der Verfahren hängt von dem Willen der politischen Machthaber ab. Jedes Todesurteil, das gilt auch für nicht-politische Fälle, ist politisch beeinflusst", sagte der Experte.

Nach Ansicht von Maryam Namazie vom Rat der ehemaligen Muslime Großbritanniens (Council of Ex-Muslims of Britain) und der Menschenrechtsorganisation 'Equal Rights Now' ist die politische Situation ausschlaggebend, ob die Todesstrafe in den jeweiligen Ländern vollstreckt wird. "Da sie in vielen Fällen jedoch als Machtinstrument einer einflussreichen politischen Bewegung vorbehalten ist, werden mittelaltertümliche Bestimmungen zum Gesetz eines ganzen Landes." So sei im Iran Steinigen eine rechtlich sanktionierte Form der Hinrichtung. "Selbst die Größe des zu verwendenden Steins ist festgelegt", sagte Namazie.

Damit es in diesen Ländern zu Gesetzesänderungen kommen könne, müsse die Frage geklärt werden, was an der Todesstrafe dem Koran und was der Tradition zuzuschreiben sei, meinte Mohammad Al-Habash. Dem Experten zufolge sind sich viele islamische Wissenschaftler einig, dass Hinrichtungen dem Alten islamischen Testament zuzuordnen sind und vom Propheten Mohamed nur einige Jahre lang als Mittel der Bestrafung eingesetzt wurden. "Danach jedoch wurde diese Form der Bestrafung abgeschafft."


Wissenschaftler gespalten

Auf die Frage, ob sich denn viele islamische Staaten in dieser Frage mehr an der Tradition ausrichteten, antwortete Habash, dass es innerhalb des Islams unterschiedliche Strömungen gebe. "Einige Wissenschaftler sind der Meinung, dass wir den Traditionen des Propheten Mohamed folgen sollten, für andere wiederum gibt es genügend Anhaltspunkte für eine Abschaffung der Todesstrafe."

Der Meinungszwist erklärt im Grunde auch, warum es für Ehebruch unterschiedliche Strafen gibt. In einigen Ländern ist die Todesstrafe durch Steinigen vorgesehen, in anderen eine Strafe von bis zu 100 Hieben. Die meisten islamischen Staaten sind dagegen, Ehebruch mit der Todesstrafe zu ahnden. "Das ist eine Strafe, wie sie die Taliban verhängen oder wie sie in Somalia üblich ist. In den letzten 30 Jahren kam sie meines Wissens noch nicht einmal in Saudi-Arabien zur Anwendung." (Ende/IPS/kb/2011)


Links:
http://www.penalreform.org/
http://ex-muslim.org.uk/
http://equalrightsnow-iran.com/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=105191

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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2011