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STANDPUNKT/123: 2005 brachten reaktionäre Vatikankreise mit dem Polen Wojtyla einen der ihren ins Papstamt (Gerhard Feldbauer)


Mit Franziskus wurde ein Liberaler Papst

Es ist nicht auszuschließen, dass die reaktionären Vatikankreise nach ihm wieder einen aus ihrer Mitte durchsetzen, so wie sie 2005 den Polen Wojtyla ans Ruder der Kurie brachten

von Gerhard Feldbauer, 17. August 2023


Der Gesundheitszustand Papst Franziskus' scheint nicht der beste zu sein und er spricht immer öfter von einem möglichen Rücktritt. Am 13. März 2013 kam er zur Bewältigung der Krise der katholischen Kirche, in die sie seine Vorgänger, der deutsche Ratzinger-Papst und vor ihm der Pole Wojtyla, gestürzt hatten, auf den Stuhl Petri. Vatikan-Kenner befürchten, dass die reaktionärsten Kreise der Kurie, die Franziskus nur mühsam in Zaum halten konnte, nach ihm wieder einen aus ihren Reihen wählen könnten. Nachdem der vorangegangene Beitrag zu Johannes Paul I. sich damit befasste, dass seine mögliche Ermordung den Weg für den Polen freimachte, soll hier aufgezeigt werden, wer da mit welchen Mitteln und Methoden am Werk war.


USA-Vatikan-Connection

Mit dem Polen Karol Wojtyla, der den Namen Johannes Paul II. annahm, wurde am 16. Oktober 1978 seit 455 Jahren nicht nur ein nicht italienischer Papst gewählt, sondern ein erbitterter Gegner der kommunistischen Regierungen in Warschau wie des sozialistischen Blocks insgesamt. Er unterhielt enge Beziehungen zum US-amerikanischen Klerus und führte fort, was Vatikan-Kenner als Connection USA-Vatikan bezeichnen. Sie war schon während der engen Zusammenarbeit des OSS (Vorläufer der CIA) mit dem Päpstlichen Geheimdienst Pro Deo begründet worden. Nach einer gewissen Stagnation unter Paul VI. lief sie für Wojtyla zur Hochform auf. Der Klerus der USA hatte diesen, in Übereinstimmung mit der CIA, schon frühzeitig als Nachfolger Paul VI. ins Auge gefasst und systematisch aufgebaut. Der faschistenfreundliche Pius XII. (1939-1958) ernannte ihn 1958 zum Weihbischof von Krakau. 1963 wurde er Erzbischof und 1967 mit 47 Jahren jüngster Kardinal der Kurie. Von 1962 bis 1965 nahm er an allen vier Sitzungsperioden des II. Vatikanischen Konzils teil. Trotz des sozialistischen Regimes verfügte die katholische Kirche in Polen über nahezu unbeschränkte Handlungsfreiheit. Polen stand hinter Italien, Frankreich und Spanien an vierter Stelle in Europa in der Zahl an Katholiken, besaß die größte Zahl an Kirchen und war das Land, in dem in dieser Zeit die meisten Priester geweiht wurden.


Papabile

1976 reiste der Militärbischof und Schirmherr des Malteserordens, Kardinal Terence Cooke, zur Kontaktaufnahme mit Wojtyla nach Polen und lud ihn in die USA ein, wo er u.a. einen Vortrag an der Harvard University hielt. "The Harvard Crimson Newspaper" lancierte ihn danach am 30. Juli 1976 erstmalig als Papabile (Papstkandidaten) in die Öffentlichkeit.


Fädenzieher Zbigniew Brzezinski

Von da an kümmerten sich einflussreiche Leute darum, seine Wahl abzusichern. Zu ihnen gehörte auch der führende Theoretiker der Rollback-Strategie des Sozialismus, der 1928 in Warschau geborene Zbigniew Brezezinski, langjähriger Sicherheitsberater Präsident Carters. Nach dem mysteriösen Tod Johannes Paul I. am 28. August 1978 reiste er zur Teilnahme an dessen Beisetzung als Vertreter des US-Präsidenten nach Rom . Dort hielt er sich anschließend während des ganzen Konklaves auf, dass Wojtyla zum Papst wählte. Dieser bot seinem Intimus Ratzinger an, die Kongregation für katholische Erziehung zu übernehmen. Der lehnte jedoch ab und wartete auf höhere Weihen. Solche wurden ihm dann 1981 mit der Ernennung zum Chef der Kongregation für Glaubensfragen zuteil. [1]

In der USA-Vatikan-Lobby spielte der elitäre Souveräne Malteser Orden (so der volle Name) aufgrund seines Masseneinflusses eine gewichtige Rolle. Unter seinen führenden Persönlichkeiten befanden sich die Kardinäle Joseph Ratzinger und Joseph Höffner (Bundesrepublik), Franz König (Österreich), Vernon Walters und William Casey (CIA) und NATO-General Alexander Haig. Die Malteser, die aus dem im 11. Jahrhundert während der Belagerung Jerusalems gegründeten bewaffneten Hospitalorden der Johanniter hervorgingen, sind ein souveränes nichtstaatliches Völkerrechtssubjekt mit einer Ordensregierung und einer eigenen Gerichtsbarkeit, das in fast 100 Staaten Botschaften und zu zehn internationalen Organisationen offizielle Beziehungen unterhält. Sie sind weltweit in 120 Ländern mit annährend 13.500 aktiven und über 800.000 Fördermitgliedern auch karitativ tätig. In der Bundesrepublik gründete der Orden 1993 eine deutsche Assoziation, die über 500 Mitglieder zählt.

Von den Maltesern William Casey und Alexander Haig liefen wichtige Verbindungen zum Center of Strategic and International Studies an der Georgetown University, dem die beiden angehörten. Weitere prominente Mitglieder waren bzw. sind dort Ronald Reagan und Henry Kissinger und der führende CIA-Mann William Colby. Das Institut, das gegen den "kommunistischen Einfluss" in Ländern der westlichen Hemisphäre Strategien ausarbeitete, leitete in den 70er/80er Jahren CIA-Vizedirektor Ray Cline. Es spielte eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung und Umsetzung der Putschpläne gegen die sozialistische Regierung Salvatore Allendes in Chile. In Rom war es federführend an der Ermordung des christdemokratischen Parteiführers Aldo Moro, der mit den Kommunisten zusammengearbeitet hatte, beteiligt. [2]

Als Johannes Paul II. nahm Wojtyla aktiv am Kalten Krieg gegen den sozialistischen Block teil und förderte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln besonders die Opposition in seinem Heimatland. Bereits im November 1978 sei es zu einem ersten Treffen zwischen ihm und der CIA gekommen. Dem Papst wurde zugesichert, ihn regelmäßig mit nachrichtendienstlichen Informationen zu versorgen. William Casey, von 1981 bis 1987 Chef der CIA, habe ihn persönlich regelmäßig besucht. [3] Im Februar 1992 berichtete die Times, dass Wojtyla und Präsident Reagan bei einem Treffen am 7. Juni 1982 im Vatikan eine "Heilige Allianz" gegen den Kommunismus schmiedeten. Bei den geheimen Absprachen sei es um das Überleben der verbotenen polnischen Gewerkschaft Solidarnosc sowie darum gegangen, die sowjetische Position in Osteuropa zu schwächen. Ronald Reagan, der seit seinem Amtsantritt 1980 den Konfrontationskurs gegen den Osten massiv verschärfte, habe die Absprachen mit dem Heiligen Vater damit begründet, dass er mit Johannes Paul II. übereinstimmte, es sei ein großer Fehler gewesen, in Jalta die Teilung Europas zu beschließen. Für den Religionswissenschaftler Hubertus Mynarek, ehemaliger Dekan der katholisch-theologischen Fakultät der Wiener Universität, der 1972 als erster Theologieprofessor im deutschsprachigen Raum aus der katholischen Kirche austrat, war diese "Zusammenarbeit zwischen dem Vatikan und den USA, zwischen dem Papst und Reagan" der "entscheidende Faktor" für den "Zusammenbruch des sowjetischen Regimes. [4]


Zusammenarbeit mit CIA-Agentenführer

Carl Bernstein und Marco Politi berichteten in ihrem Buch "Seine Heiligkeit - Johannes Paul II. und die Geheimdiplomatie des Vatikans", dass Wojtyla dazu auch eine enge konspirative Zusammenarbeit vor allem mit Malteserritter General Vernon Walters, einem der ranghöchsten US-amerikanischen Agentenführer, pflegte. [5] Einige ausführlichere Sätze über die mit diversen Verbrechen belastete Person, mit der sich der Papst ohne die geringsten Skrupel einließ. Walters war während des Zweiten Weltkrieges als Offizier in Italien und danach Militärattaché in Rom, wurde anschließend eine Schlüsselfigur der Defense Intelligence Agency (Militärische Aufklärung), avancierte unter Präsident Nixon im Generalsrang zum stellvertretenden CIA-Direktor und war an der Ausarbeitung des Szenariums für den Putsch gegen Allende (Centauro-Plan) beteiligt. Er galt als ein Meister der Geheimdiplomatie, den die Medien "The lone Wolf" nannten. Die US-Intervention in Vietnam, bei der drei Millionen Menschen umgebracht wurden, feierte er in seinen Memoiren "Silent Missions" als einen "der nobelsten und selbstlosesten Kriege" der USA. [6] Er beendete seine Geheimdienstkarriere im Diplomatenanzug 1990/91 in Bonn, wo er als Botschafter das Kommando übernahm, um, wie er formulierte, "die letzte Ölung zu geben, bevor der Patient (die DDR) stirbt", oder, anderes ausgedrückt, "dem sowjetischen Sicherheitssystem das Herz herauszureißen". [7]


Millionen für Lech Walesa

In Polen gewann der Heilige Stuhl mit Lech Walesa einen Volksverführer par Excellence, der es mit jedem Ablasshändler des Mittelalters aufnehmen konnte. Ob die Anschuldigungen gegen ihn, er habe insgeheim auch mit den Geheimdiensten der Volksrepublik zusammengearbeitet und Spitzeldienste geleistet, zutreffen, lässt sich kaum beurteilen. Und ob die Vorwürfe des Historikers Pawel Zyzak zutreffen, der Solidarnosc-Gründer und vorgebliche Arbeiterführer sei ein Dorfraufbold gewesen und habe auch vor antireligiösen Ausfällen nicht zurückgeschreckt, sei dahingestellt, ebenso, ob sie dem Vatikan über seinen stets bestens informierten Geheimdienst Pro Deo bekannt waren. Von einer Zusammenarbeit hätten sie den polnischen Papst kaum abgehalten, hatte sich dieser doch auch sonst mit das Tageslicht scheuenden Gestalten zusammengetan, wenn es denn um den Kampf gegen den Kommunismus ging. [8]

Ein wichtiger Bereich der Zusammenarbeit von Vatikan und USA wurde neben der politischen die materielle und direkte finanzielle Hilfe für die Solidarnosc. Gelder, welche die USA bereitstellten, liefen über den Chef der Vatikanbank IOR, Erzbischof Marcinkus. Wojtyla soll seinen Status als Staatsoberhaupt dazu genutzt haben, bei Reisen nach Polen Gelder in seinem Diplomatengepäck zu befördern. Wie E. R. Carmin in seinem Buch "Das schwarze Reich" meint, werde die finanzielle Hilfe, die Wojtyla selbst der Solidarnosc für ihre Untergrundarbeit zukommen ließ, auf weit über 100 Millionen Dollar geschätzt. In deren Finanzierung war auch das Mitglied der faschistischen Putschistenloge P2, Roberto Calvi, Präsident der italienischen Ambrosiano-Bank und außerdem Finanzmanager des Vatikans, einbezogen. Laut Calvi selbst soll die Finanzhilfe mehr als eine Mrd. US-Dollar betragen haben. [9] Der nach dem Bankrott seiner Bank nach London geflohene Calvi habe gedroht, die Verwicklung des Papstes persönlich zur Sprache zu bringen, wenn die Ermittlungen gegen ihn nicht eingestellt würden. Danach wurde er per Selbstmord umgebracht. [10]


Audienz für CIA-Agenten

Bei der Solidarnosc setzten die CIA und Pro Deo einen ihrer erfahrensten Agenten, Corrado Simioni, ein. Im Mordkomplott gegen Moro hatte er, wie bei den Untersuchungen der hierfür eingerichteten italienischen Parlamentskommission bekannt wurde, als Anstifter (Einflussagent) eine entscheidende Rolle gespielt. Durch Berichte des Corriere della Sera und des Espresso wurde im März 1993 bekannt, dass Johannes Paul II. den Agenten fünf Monate vorher in Privataudienz empfangen hatte, begleitet von dem führenden Pro-Deo-Mann Abbé Pierre. [11] Der frühere KPdSU-Generalsekretär, Michail Gorbatschow, bestätigte anerkennend, dass "alles, was sich in den letzten Jahren in Osteuropa ereignete, ohne die Anstrengungen des Papstes und die enorme auch politische Rolle, die er in der ganzen Welt gespielt hat, unmöglich hätte geschehen können." [12] Gorbatschow stellte im Juni 2000 in Turin auch zusammen mit dem mehrmaligen Ministerpräsidenten linker Zentrumsregierungen, dem Christdemokraten Romano Prodi, die Memoiren "Das Martyrium der Geduld, der Heilige Stuhl und die kommunistischen Länder (1963-1989)" des inzwischen verstorbenen Kardinalstaatssekretärs Casaroli, eines Mitarbeiters am Zerfall des Ostblocks, vor. [13]

Um der Untergrundarbeit der Solidarnosc in Polen Unterstützung und Orientierung zu geben, wandte sich Wojtyla der "Arbeitswelt" zu. Vor dem Solidarnosc-Kongress im Herbst 1981 nahm er den 90. Jahrestag der Enzyklika "Rerum novarum" von Leo XIII. (Papst von 1878-1903) zum Anlass, in seinem Rundschreiben "Laborem exercens" dieses Thema in den Mittelpunkt zu stellen. Er sprach von der Arbeit als Differentia spezifica des Menschen als Grundlage seiner sozialen Existenz, wandte sich gleichzeitig gegen das "Programm des Kollektivismus, das vom Marxismus proklamiert und (...) in verschiedenen Ländern der Welt verwirklicht worden ist", und stellte ihm die "christliche Wahrheit über die Arbeit" entgegen. Er kritisierte "Auswüchse" des Kapitalismus (nicht das System, das er im Gegensatz zum sozialistischen keineswegs in Frage stellte) und bekräftigte, den Standpunkt der Kirche in Bezug auf "das Recht auf Privateigentum auch hinsichtlich der Produktionsmittel", das sich aus der "vollen Achtung der personellen Werte" ableite. Der polnische Papst sprach zwar generell von den Rechten der arbeitenden Menschen, der Sicherung ihrer Arbeitsplätze und einem "gerechten Lohn", meinte aber - auch ohne Namensnennung - gezielt die Solidarnosc, wenn er vom Recht auf Zusammenschluss der Arbeiter, von ihrer Mitbestimmung und von Arbeiteraktionen redete. [14] "Laborem exercens" blieb hinter "Mater et magistra" (1961) von Johannes XXIII. und "Populorum progressio" (1967) von Paul VI. zurück.


Schutzpatron für Mafiosi

Auch unter Johannes Paul II. wurden wiederholt mafiose Praktiken des Vatikans publik. 1997 konnte die Kurie den der Korruption und Erpressung beschuldigten Erzbischof von Monreale bei Palermo, Salvatore Cassisa, nur durch Ausscheiden aus dem Amt und Rückberufung in den Vatikanstaat vor einer Anklage durch die italienische Justiz bewahren. Der Prälat wurde beschuldigt, einen Bauauftrag zur Restaurierung des Doms von Monreale gegen Zahlung eines "Obolus" von 50.000 DM einer bestimmten Baufirma übertragen zu haben. In einem anderen Fall sollte er mit Hilfe zweier Landwirtschaftsexperten rund 750.000 DM von der EG ergaunert haben. Die Inspektoren hatten falsche Angaben über den Wert eines der Kurie von Monreal gehörenden Weinberges gemacht, für dessen Vernichtung Brüssel Zuschüsse zahlte. Es war, wie die Untersuchungen erbrachten, nicht das erste Mal, dass der Erzbischof sich mit der Mafia eingelassen hatte. [15]

Es muss kaum noch betont werden, dass die von dem am 12. Juni 2023 verstorbenen Silvio Berlusconi angeführte rechtsextreme Koalition mit AN-Faschisten [16] und Lega-Rassisten [17] vom Vatikan gefördert wurde, wo immer sich dazu Gelegenheit ergab. So leistete der Papst kurz vor Weihnachten 2000 mit einem Empfang des Österreichers Jörg Haider, der die traditionelle Weihnachtstanne für den Petersplatz nach Rom brachte, dessen Wahlhilfe für seine Gesinnungsfreunde Berlusconi, Fini und Bossi massiv Vorschub. Der "Duce der Carinzia" (Führer Kärntens) durfte als Gast des Papstes offen seine Sympathien für AN und Lega bekunden. Zwei Wochen vor dem Urnengang, der am 13. Mai 2001 erfolgte, rief der römische Kardinal Camillo Ruini dann offen zur Wahl Berlusconis auf, was im tiefkatholischen Italien zweifelsohne zu dessen Wahlsieg beitrug. Einen solchen Schritt ging, noch dazu unter Wojtyla, kein Amtsträger der Kurie ohne die Zustimmung seines Herrn auf Erden. Benedikt XVI. setzte diese Tradition nahtlos fort. Im Juni 2008 empfing er Ministerpräsident Berlusconi nach seiner Wiederwahl im Vatikan zu einem vierzigminütigen Gespräch. Beide Seiten versicherten, ihre "konstruktive Zusammenarbeit" auf bilateraler Ebene als auch im Kontext der internationalen Gemeinschaft fortzusetzen. [18]


Der weißgetünchte Fürst

Insgesamt hat Johannes Paul II. "die Restauration von Moral und Lehre der katholischen Kirche ins Werk gesetzt, um den Gefahren einer zunehmenden Verweltlichung der 'Herde' zu begegnen, und hat alle von der offiziellen oder offiziösen Linie des Vatikans abweichende Stimmen unterdrückt". [19] Als er am 2. April 2005 starb, hatte er in seiner 26 Jahre und fünf Monate währenden Amtszeit den Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils wieder gestoppt und eine regelrechte Gegenreformation eingeleitet. Seine reaktionäre Wende wurde in Fragen wie Zölibat, Scheidung, Frauenpriestertum, Sexualmoral und vielen anderen sichtbar. Dieser Kurs rief nicht nur in Italien Widerstand und Protest hervor. Seit Mitte der 80er Jahre häuften sich in Europa die Kirchenaustritte. 1989 verließen allein in der Bundesrepublik 93.000 Mitglieder die katholische Kirche. Nach dem Anschluss der DDR an die BRD vergrößerte sich zwar die Zahl der Christen in Deutschland, wovon jedoch in erster Linie die protestantischen Kirchen profitierten. Sie lagen 2004 mit 31 Prozent Mitgliedern nur knapp unter der katholischen Kirche (31,1). Die Zahl der in keiner Kirche als Mitglied Registrierten stieg gleichzeitig auf 22,4 Prozent an. Hinzu kam, wie der Berliner Vatikanexperte Ingolf Bossenz schrieb, dass laut Umfragen "selbst die formellen Mitglieder der großen Kirchen in beträchtlichem Maße zentrale Glaubenspositionen ihrer jeweiligen Konfessionen ablehnen." [20] Auf zunehmende Kirchenaustritte dürfte auch die dritte Enzyklika "Centesimus annus", die Wojtyla anlässlich des 100. Jahrestages von "Rerum novarum" 1991 erließ, nicht ohne Einfluss geblieben sein. Sie knüpfte an der Verurteilung des "Sozialismus als Pest" durch Leo XIII. an und bekräftigte nach dem Untergang der Ostblockstaaten die "Absage an jede Form des Sozialismus". [21]


An der Seite der Kriegstreiber

Wojtyla erteilte auch der von Johannes XXIII. verfolgten Politik eines Beitrags zu Entspannung und Friedenssicherung ("Pacem in terris") eine Absage. Zu seinem nach dem ersten Irakkrieg 1991 erlassenen, sehr allgemein gehaltenen Friedensappell an alle Kriegsparteien stellte er ausdrücklich klar: "Wir sind keine Pazifisten, wir wollen keinen Frieden um jeden Preis." Das war eine deutliche Parteinahme zugunsten der USA, die einen grausamen Feldzug geführt hatten. Der Vatikan beteiligte sich auch an der Entfesselung des Bürgerkrieges auf dem Balkan und der Zerschlagung Jugoslawiens, indem der Kirchenstaat zeitgleich mit Deutschland und noch vor der EU den katholisch dominierten Separatstaat Kroatien diplomatisch anerkannte.


Ein mittelalterliches Strafregister für "Sünden"

Wie Rosella Lotti schrieb, verstand es Wojtyla perfekt, "die Instrumente zu nutzen und zu handhaben, welche die so geschmähte Moderne ihm bot: etliche seiner Aktionen waren bewusst auf Spektakel angelegt, und ihm lag daran, einen bestimmten Typ von Botschaften zu übermitteln, der Konsens herstellen, die kirchliche Autorität ausweiten und überall neue Proselyten gewinnen konnte." [22] Unter der Herrschaft Wojtylas wurden die Befreiungstheologen in Lateinamerika verfolgt, aber auch unorthodoxe Meinungen weltweit abgestraft, die absolutistische Leitung der Weltkirche verstärkt, den Gläubigen im Weltkatechismus von 1992 ein mittelalterliches Strafregister für ihre "Sünden" verkündet, in dem selbst die Drohung mit dem "ewigen Tod in der Hölle" nicht fehlte. Das alles umgab der polnische Papst in medienwirksamen Auftritten mit einer modernen Fassade.


Mega-Rekord: 1.338 Selig- und 428 Heiligsprechungen

Neben dem Ruf als Reisepapst erwarb er den des Selig- und Heiligsprechers. Wie die Turiner Stampa" am 5. Mai 2002 berichtete, soll sogar Konrad Adenauer auf der "Warteliste" gestanden haben bzw. stehen. Von Wojtyla wurden 1.338 Persönlichkeiten "zur Ehre der Altäre erhoben" und 428 heiliggesprochen. Alle Päpste der letzten 400 Jahre erreichten zusammen nur etwa die Hälfte der Heiligsprechungen, die Wojtyla in etwas mehr als einem Vierteljahrhundert vornahm.


Darunter Faschisten und Kriegsverbrecher

Höhepunkte dieser in nicht wenigen Fällen skandalösen Akte war 1992 die Seligsprechung des Begründers und langjährigen Generalpräsidenten des faschistoiden klerikalen Opus Dei, Josemaria Escrivá de Balaguer y Albás, und 1998 mitten in der Vorbereitung des NATO-Überfalls auf Jugoslawien die des früheren Erzbischofs von Zagreb, Kardinal Alojzije Stepinac. Balaguer war ein Verehrer Hitlers und Francos, diente dem Würger der Spanischen Republik als geistiger Berater und verharmloste den Holocaust. Mitglieder des Gotteswerkes waren an dem faschistischen Militärputsch Pinochets 1973 beteiligt und saßen anschließend in dessen Regierung. Nach der Aufdeckung der italienischen Staatsstreichloge P2 brachte Opus Dei polizeilich gesuchte Putschisten aus dem Gotteswerk in Sicherheit. Schon damals befürchteten Kritiker die Vorherrschaft des von Wojtyla geförderten Ordens im Vatikan und seinen Einfluss auf die Auswahl der Kandidaten für die Papstwahl.

Den Kroaten Stepinac hatte ein jugoslawisches Gericht 1946 wegen Kollaboration mit dem faschistischen Ustascha-Regime zu 16 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, die später in Hausarrest umgewandelt wurde. "Im allerkatholischsten Ustascha-Kroatien wurden", wie Lotti anführte, "zwischen 1941 und 1945 über eine Million Serben, Männer, Frauen und Kinder, auf grausamste Weise umgebracht. Ihre einzige Schuld bestand darin, orthodoxe Christen zu sein; die Ustascha-Horden haben 292 orthodoxe Kirchen zerstört, die besten davon hat sich die katholische Kirche angeeignet." Weitere Opfer waren Juden und Zigeuner. Halten wir fest, das alles geschah unter Papst Pius XII., dessen Seligsprechung dann Benedikt XVI. betrieb. Unter dem nationalistischen Tudjman-Regime Kroatiens wurde Stepinac als Nationalheld und Widerstandskämpfer gegen den Kommunismus verherrlicht.

Mit der Seligsprechung des letzten österreichischen Monarchen Kaiser Karl I. im Oktober 2004 rief Johannes Paul II. den Unwillen besonders vieler Italiener hervor. Nicht nur, weil es sich um den letzten Repräsentanten der einstigen Habsburger Fremdherrschaft über Italien handelte, sondern auch, weil dieser im Ersten Weltkrieg die schreckliche Schlacht an der österreichisch-italienischen Front am Isonzo befehligt und dabei Giftgas eingesetzt hatte.

In die Selig- und Heiligsprechungen wurden Frauen und Männer der katholischen Kirche eingereiht, die entgegen den Weisungen der Kirchenleitung Widerstand gegen die faschistischen Regimes geleistet hatten, wie beispielsweise der in Auschwitz ermordete Pater Maximilian Kolbe. Damit sollte die wahre Haltung der Kurie gegenüber dem Faschismus verschleiert werden. Mit der in Auschwitz ermordeten deutschen Jüdin Edith Stein, einer Philosophin und Bürgerrechtlerin, die zur Ordensfrau Teresa Benedicta a Cruce, die vom Kreuz Gesegnete, wurde, wollte Wojtyla ein besonderes Beispiel seiner Ausgewogenheit demonstrieren, als er sie im Oktober 1998 heiligsprach. Damit schlug er jedoch, wie Uta Ranke-Heinemann sagte, den Juden ins Gesicht, da "Edith Stein, die persönlich jeden Respekt und jedes Mitgefühl verdient, (...) ein verirrtes und verwirrtes Opfer zwei Jahrtausende alter katholischer antijudaistischer Demagogie war. Über die Reichspogromnacht von 1938 sagte sie: 'Das ist die Erfüllung des Fluches, den mein Volk auf sich herabgerufen hat'. Ihren eigenen Tod sah sie gemäß der gleichen Judendiffamierung als 'Sühne für den Unglauben' ihres Volkes an." [23]

Dann setzte auch der deutsche Ratzinger-Papst seinen Vorgänger auf die Liste der auf den Altar zu Erhebenden. Eine eingestimmte Menge, die ihn nach seiner Wahl auf dem Petersplatz feierte, skandierte "Santo subito (Heilig sofort), um dem Nachdruck verleihen, was natürlich ein Verfahren, wenn auch ein Schnellverfahren voraussetzte. Probleme bereitete eine Wanda Póltawska, die ein Buch unter dem Titel "Beskidzkie rekolekcje" (Erbauungsstunden in den Beskiden), veröffentlichte, das einen Teil ihrer über 50 Jahre geführten Privatkorrespondenz mit "Lolek" (Karol Wojtyla), der sie "Dusia" nannte, enthielt. Die 88jährige Autorin, eine streng konservative katholische Aktivistin und Professorin der Jagiellonen-Universität von Krakau, bekleidete unter Johannes Paul II. wichtige Funktionen in päpstlichen Institutionen. Sie habe, hieß es, ihren Freund auf Bergtouren und im Urlaub nach Castel Gandolfo begleiten und mit ihm innigste Gedanken austauschen können. Von ihr habe der Papst auch Informationen über die polnischen Bischöfe erhalten, die ihm auf dem vatikanischen Dienstweg vorenthalten worden seien. Kardinal José Saraiva Martins in Rom veranlasste das zu der Forderung, die gesamte Korrespondenz zwischen Karol Wojtyla und seiner Freundin müsse von Theologen daraufhin analysiert werden, ob sich das vertrauliche Verhältnis zwischen dem Pfarrer, Erzbischof, Kardinal und Papst Johannes Paul II. zu seiner Schwester "Dusia" in den Grenzen der christlichen Nächstenliebe gehalten habe. [24] Neu ist das alles nicht. So schreibt Hubertus Mynarek, den jungen Wojtyla und eine Freundin habe man als Liebespaar gesehen, und er erwähnte ein Gerücht von einer Verlobten, die im KZ umgekommen sei. Eine langjährige Freundschaft habe Wojtyla in seiner Kardinalszeit auch mit der aus Polen stammenden, in den USA lebenden Philosophieprofessorin Anna Teresa Tymieniecka verbunden. [25] Die "Enthüllungen" ordneten sich also in bereits bekannte ein und beeinflussten den Seligsprechungsprozess kaum. Am 1. Mai 2011 wurde er von Benedikt XVI. seliggesprochen. Auch Franziskus sah keinen Grund, seinen Vor-Vorgänger, der die ihm hinterlassene tiefe Krise der Kurie eingeleitet hatte, am 27. April 2014 nicht heiligzusprechen.


Anmerkungen:

[1] Christian Feldmann: Benedikt XVI., Der bayerische Papst. Regensburg 2005, S. 118.

[2] Giuseppe Zupo, Vincenzo Marini Recchia: Operazione Moro. Mailand 1984, S. 283.

[3] ZDF-Sendung vom 28. März 2007.

[4] Hubertus Mynarek. Der polnische Papst, Freiburg 2005, S. 35. Der Autor siedelte danach in die Bundesrepublik über. Mit annähernd 30 Büchern zu Themen der katholischen Kirche gehört er mit zu den produktivsten Wissenschaftlern dieses Fachgebietes.

[5] Carlo Bernstein/Marco Politi: Seine Heiligkeit, Johanns Paul II. und die Geheimdiplomatie des Vatikans. München 1996, S. 320 ff.

[6] Vernon Walters: Silent Mission. In geheimer Mission. Esslingen 1990.

[7] Klaus Eichner/Ernst Langrock: Der Drahtzieher. Vernon Walters - Ein Geheimdienstgeneral des Kalten Krieges. Berlin 2005.

[8] "Neues Deutschland", 31. März 2009. Zum Gesamtkomplex auch Massimo Franco: Imperi paralleli. Vaticano e Stati Uniti, due secoli di alleanza e conflitto 1788-2005. Mailand 2005, S. 91 ff.; ferner mit ebenfalls zustimmender Wertung Joachim Jauer: Urbi et Gorbi. Christen als Wegbereiter der Wende. Freiburg 2009.

[9] "Tagespiegel", 16. März 2009.

[10] E. R. Carmin: Das schwarze Reich. Geheimgesellschaften und Politik im 20. Jahrhundert. München 2000.

[11] Ausgabe 14. bzw. 28. März 1993.

[12] Bernstein/Politi, S. 23.

[13] "Neue Zürcher Zeitung", 29. Juni 2000.

[14] Laborem exercens. Wortlaut in: www.vatican.va. Siehe auch Peter Rubens: Zur Arbeitsauffassung in der päpstlichen Soziallehre: Die Sozialenzyklika Laborem exercens. Berlin 2006.

[15] "Berliner Abendzeitung", 27. Mai 1997.

[16] 1995 taufte sich die Mussolini-Nachfolgerpartei Movimento Sociale Italiano (MSI) in Alleanza Nazionale (AN) um.

[17] Lega Nord, 1991 von Umberto Bossi gegründete, offen rassistische Partei. Heutige Bezeichnung nur noch Lega, Parteichef Matteo Salvini.

[18] "Neues Deutschland", 7. Juni 2008.

[19] Rosella Lotti: Der weißgetünchte Fürst. Taten und Missetaten eines umstrittenen Pontifikats. "La Contraddizione", Nr. 108, Juni 2005.

[20] Ingolf Bossenz: Das Kreuz mit den Privilegien. "Neues Deutschland", 22./23. Nov. 2008.

[21] Arnold Schölzel: Die Soziallehre des Papstes und das Jahr 1989. Ebd., 10./11. Aug. 1991.

[22] Lotti, a. a. O.

[23] Uta Ranke-Heinemann: Der Papst und die anderen, "junge Welt", 6. Dez. 2007.

[24] Julian Bartosz: Vertrauliches von Lolek und Dusia. "Neues Deutschland", 8. Juni 2009.

[25] Mynarek, a. a. O.

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Quelle:
© 2023 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 12. September 2023

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