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INTERNATIONAL/125: Brasilien - Mord an Landlosenführer weckt Erinnerungen an "schmutzigen Krieg" (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 31. Januar 2013

Brasilien:
Mord an Landlosenführer weckt Erinnerungen an 'schmutzigen Krieg'

Von Fabiana Frayssinet



Rio de Janeiro, 31. Januar (IPS) - In Brasilien ist ein einflussreicher Anführer der Landlosenbewegung (MST) erschossen worden. Das auf einer Zuckerrohrplantage im Bezirk Campos dos Goytacazes im südöstlichen Bundesstaat Rio de Janeiro verübte Verbrechen hat Erinnerungen an eines der düstersten Kapitel der brasilianischen Geschichte wiederbelebt.

In seinem Buch 'Memorias de una guerra sucia' (Erinnerungen an einen schmutzigen Krieg) beschreibt der ehemalige Geheimdienstagent der Abteilung für politische und soziale Sicherheit, Cláudio Guerra, wie zu Zeiten der Diktatur von 1964 bis 1985 die Leichen von zehn Linksaktivisten in einem Ofen des agroindustriellen Geländes 'Usina Cambahyba' in Campos dos Goytacazes zum Zweck der Spurenbeseitigung verbrannt wurden.

40 Jahre später wird das aus insgesamt sieben Haziendas von 3.500 Hektar Größe bestehende Areal erneut mit der Unterdrückung kritischer Stimmen in Verbindung gebracht. Der 54-jährige schwarze Ökobauer und MST-Aktivist Cícero Guedes hatte die Besetzung von Grundstücken in Usina Cambahyba durch landlose Bauern angeführt, was wiederum zur Gründung des Landlosenlagers Luiz Maranhão führte.

Wie Marcelo Durão, ein auf nationaler Ebene hochrangiger MST-Vertreter, erklärte, war Guedes für die landlosen Bauern von Campos dos Goytacazes die Symbolfigur ihres Kampfes um Land. Seine Ermordung sei als ein Warnschuss an die MST zu verstehen, die den Kampf der Bauern um Land in der Region organisiert. "Wir stehen vor einer Konfrontation mit den repressiven Kräften der Region", erklärte er.

Für Marcos Pedlowski, einem auf Landfragen spezialisierten Professor, der an der 'Universidade Estadual do Norte Fluminense Darcy Ribeiro' unterrichtet, ist das Verbrechen an Guedes "der eindeutige Versuch, die Landlosenorganisation zu zerschlagen". Der MST-Führer war im Morgengrauen des 26. Januar auf dem Heimweg von einer Versammlung über die Ansiedlung von 100 Bauernfamilien in einen Hinterhalt geraten. Er starb an den Folgen von mindestens zehn Schussverletzungen.


Justiz verschleppt Landreform

Nach Ansicht von Maria do Rosário Nunes, der Menschenrechtsbeauftragten des brasilianischen Präsidialamts, hat sich der Landstreit zwischen Landlosen und Großgrundbesitzern durch gerichtliche Verzögerungen bei der Zuteilung von Grundstücken verschärft. Die Justiz hatte der Enteignung der Latifundien des inzwischen verstorbenen Ex-Vizegouverneurs von Rio de Janeiro, Heli Ribeiro Gomes, erst im August 2012 - 14 Jahre nach einem entsprechenden Beschluss des Instituts für Siedlungswesen und Landreform (INCRA) - zugestimmt.

"Hintergrund des Attentats ist ganz klar die Behäbigkeit der Bundesjustiz", meint auch Marcelo Freixo, Abgeordneter der Partei für Sozialismus und Freiheit im Parlament im Bundesstaat Rio de Janeiro und Vorsitzender des parlamentarischen Menschenrechtsausschusses. In Campos dos Goytacazes, wo Armut und Landlosigkeit weit verbreitet sind, müsse INCRA dringend für die Umsetzung der Landreform sorgen.

In seinem Buch berichtet Guerra, dass Ribeiro Gomes bei der Beseitigung der Leichen der zehn Diktaturopfer behilflich gewesen sei - ein Vorwurf, der von der Familie des Beschuldigten als "absurd" zurückgewiesen wurde. Doch dem MST-Führer Durão zufolge ist Campos dos Goytacazes berüchtigt für die Gewalt gegen Landarbeiter durch Zuckerbarone und ihre Auftragskiller.


Sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse

Im Norden des Bundesstaates Rio de Janeiro hat sich seit der letzten Diktatur wenig verändert. Die Arbeitsverhältnisse auf den Zuckerrohrfarmen sind so schlecht, dass sie an die Zeiten der Sklaverei erinnern. Im Unterschied zu damals werden Landrechte, Ausbeutung und Gewalt inzwischen thematisiert. 2009 beschrieb ein Bericht des Arbeitsministeriums Campos dos Goytacazes als die Region Brasiliens, in denen sich die meisten Fälle menschlicher Ausbeutung konzentrierten. Tatsächlich war sie die letzte Bastion der brasilianischen Sklaverei.

Pedlowski schildert in seinem Buch 'Desmontando el latifundio. Saga de la reforma agraria en el norte fluminense' (Den Großgrundbesitz abschaffen. Die Saga der Landreform im Norden des Bundesstaates Rio de Janeiro) "das ganze Ausmaß der Landkonzentration in Verbindung von Monokulturen und Gewalt". Der Koeffizient Gini, der die Ungleichheit auf einer Skala von 0 bis eins misst, bescheinigt Campos dos Goytacazes mit 0,8 die größte Landkonzentration im Bundesstaat Rio de Janeiro. Die Familien, die hier das Sagen haben, seien dieselben geblieben, schreibt der Autor in seinem Buch. Die Region sei traditionell die Wiege der extremen Rechten und für Korruptionsskandale berühmt.

Guedes war vor seinem Beitritt zur MST 1996 Zuckerrohrschneider im nordbrasilianischen Bundesstaat Alagoas gewesen. Als Bauer entwickelte sich der Vater von fünf Kindern zu einem erklärten Gegner von Agrarchemikalien. "Einen solchen ausdrucksstarken Führer mundtot zu machen, zeigt im Grunde den Grad von Straffreiheit und Lähmung, in der sich die Agrarreform vor allem seit dem Amtsantritt der Regierung von (Dilma) Rousseff befindet", meinte Pedlowski.

Nach Angaben der MST hat die derzeitige Regierung nicht nur versagt, das Problem der 150.000 Familien zu lösen, die an Straßenrändern auf Land warten, sondern die Landkonzentration in der Hand ausländischer Unternehmen sogar noch erhöht. Aus einem INCRA-Bericht geht hingegen hervor, dass im letzten Jahr 1,05 Milliarden Dollar für die Ansiedlung von 23.000 Familien in 117 Siedlungen ausgegeben wurden. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.mst.org.br/
http://www.uenf.br/portal/index.php/br/cicero-guedes-dos-santos.html
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=102298

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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2013