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BERICHT/001: Schachdorf Ströbeck - ein Spiel für jedermann (SB)


Schachdorf Ströbeck - ein Spiel für jedermann



Das Schach steckt voller Legenden, in denen Dichtung und Wahrheit eng ineinander verschlungen sind. Die Wahrheit jedoch von der Legende gänzlich trennen zu wollen, käme dem berühmten Ausschütten eines Kindes mit dem Bade gleich, ganz der Volksweisheit folgend, die zu behaupten weiß, daß ein Körnchen Wahrheit in jeder Legende enthalten ist, welches mit ihrer Zerstörung oder ihrer Verleugnung ebenfalls verschwände. Zudem sollte man sich dabei vergegenwärtigen, daß das Schachspiel über Jahrhunderte ein treuer Begleiter der Menschheit war. Im Zuge dieser Zeitenläufe hat es vieles in sich aufgenommen und konserviert, was ansonsten vielleicht für immer verlorengegangen wäre. Auf jeden Fall spiegelt sich in den Erzählformen der Legenden gleichsam auch ein Stück Zeit- und Kulturgeschichte wider.

Außenfassade des mittelalterlichen Wehrturms - Foto: © 2013 by Schattenblick

Auf den Spuren einer Schachlegende - Wehrturm zu Ströbeck
Foto: © 2013 by Schattenblick

Sei es in Asien, Arabien, Amerika, in der schwülen Feuchte des indonesischen Dschungels oder an den Lagerfeuern verhüllter Berberstämme, wo immer Menschen einen Anlaß suchten, die Routine des Tagewerks aufzubrechen durch so etwas Sinnloses wie Beisammensitzen und Spielen und dabei insgeheim doch die scheinvolle Welt des Denkens auf die Probe zu stellen, da hat auch das Schach zwischen ihnen Platz genommen. Seine Geburtsstunde bleibt jedoch trotz sich hartnäckig haltender Gerüchte, die von Indien als dem Kulturboden reden, der Geist und Materie in eine Idee band, nebelhaft fern von jeder Kenntnis. Gleichermaßen läßt sich keine verläßliche Auskunft darüber geben, ob möglicherweise ein Weiser hinter seiner Erfindung stand, den nichts so sehr antrieb wie der Wunsch, dem menschlichen Ungestüm, das sich so oft in wilden Kriegen und Grausamkeiten entlud, eine mäßigende Haltung in Form eines geistigen Duells zu verordnen. Vielleicht kreuzte aber auch nur ein ungelenkter Zufall eines Tages die Wege des Menschen, so daß in einem verstolperten Witz ein Spiel entstand, das sowohl den Verstand anregen wie die Kurzweil zufriedenstellen sollte. Man weiß es einfach nicht. Sicher ist nur, daß das Schachspiel, sei es in dieser oder jener Gestalt, auf seiner weltumspannenden Reise keinen Ort ausließ, so daß heutzutage in einer New Yorker Kellerwohnung wie auch irgendwo an den vielen Krümmungen des Jangtse Menschen einander Schach und Matt sagen.

Schachbrett an der Wand in der Nahaufnahme - Foto: © 2013 by Schattenblick

Eigenartiger Fassadenschmuck
Foto: © 2013 by Schattenblick

Folgt man freilich den historischen Quellen, so kam das Schachspiel von Indien ins Persische Reich und breitete sich sodann durch die Eroberungsfeldzüge der arabischen Beduinenstämme über Nordafrika bis zur iberischen Halbinsel aus. Das kulturell hochstehende Maurenreich war für das zu jener Zeit von Stammesfehden und rivalisierenden Herrscherhäusern zerrissene Europa ein bis heute nicht hinreichend gewürdigter Segen auf allen Gebieten des Handwerks, der Baukunst wie auch der Wissenschaft. Daß das Schachspiel von Spanien aus durch Handelsbeziehungen in die Kernlande Europas einsickerte, ist ein denkbares und naheliegendes Erklärungsmodell. Andere Spurensucher insistieren, das Schach habe den Weg über das Sizilien der Sarazenen nach Europa genommen, während wiederum andere in Konstantinopel den großen Kulturbringer sehen. Früheste Zeugnisse zur Entstehungsgeschichte des Schachspiels überliefert das so schreibfreudige 8. Jahrhundert in arabischer Sprache, und ab dem frühen 11. Jahrhundert lassen sich Dokumente und Urkunden mit einem eindeutigen Bezug zum Schachspiel auch im europäischen Raum nachweisen. Dennoch vertreten manche Historiker die Meinung, daß das Schach der altarabischen Gangart bereits im 10. Jahrhundert, möglicherweise sogar noch früher, in Europa gespielt wurde, vor allem aber durch die Stellungsrätsel, die eine Auflösung - meist ein verstecktes Matt - in wenigen Zügen beinhalten, überaus beliebt war.

Schachbrett an einer Ströbecker Häuserwand - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

Eng verwoben mit der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte ist das Schach schon deshalb, weil es erst hier seine letztgültige Form samt Regelwerk erhielt, die wir heute als internationales Schach kennen und schätzen. Wer freilich mehr vom Schachspiel erfahren möchte als die Verkürzungen seiner modernen Ausprägung im Turnier- und Wettkampfbetrieb, der sollte sich auf die Reise nach Ströbeck machen. Kein Ort auf der Welt ist für eine Begegnung mit dem Schach besser geeignet als dieses malerische Dorf im Harzvorland. Eine Seelengemeinde von knapp 1200 Menschen pflegt hier eine Schachkultur, die über 1000 Jahre in die Geschichte zurückreicht.

Ströbecker Häusersammlung - Foto: © 2013 by Schattenblick

Fachwerkidylle
Foto: © 2013 by Schattenblick

Grüne, fast 200 Jahre alte Laubbäume prägen einen idyllischen Ort mit schmucken Fachwerkhäusern und der gotischen St. Pankratiuskirche. Schier alles an diesem Flecken atmet den Geist des Königlichen Spiels, ist, wie um ein Zentrum gelegen, beinah selbst schon zu einer Figur auf einem übergroßen Brett geworden - der Schachturm, das Schachmuseum, der Platz am Schachspiel und zuguterletzt das Gasthaus zum Schachspiel.

Schild über dem Eingang des Gasthauses zum Schachspiel - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

Seit 1823 werden die Ströbecker von der Schulbank an in der Schachkunst unterwiesen, denn es ist Pflicht- und Prüfungsfach bis auf den heutigen Tag und unterstreicht so eine Tradition, die in dieser Form einzigartig in der Welt ist. Bedauerlicherweise und sehr zum Leidwesen der Ströbecker wurde 2004 die Sekundarschule Dr. Emanuel Lasker - benannt nach dem einzigen deutschen Schachweltmeister - wegen zu geringer Schülerzahlen geschlossen. Der örtliche Protest und Unterstützerkreise aus dem ganzen Bundesland konnten die entscheidungsbefugten Politiker nicht zu einer Ausnahmegenehmigung bewegen. So wurde eine Lehrtradition unterbrochen, die sowohl das Wilhelminische Kaiserreich, die Weimarer Republik, den NS-Staat als auch die sozialistische DDR unbeschadet überstanden hatte. Nur mehr an der Grundschule werden die Ströbecker Kinder noch einmal wöchentlich im Schachspiel unterrichtet. Wenn man durch die kopfsteingepflasterten Gassen von Ströbeck wandert, dann kann man an den Hausfassaden die Spielbretter, mitunter samt der Gewinnstellung, prangen sehen, die die Sieger eines Jahrgangs ausweisen.

Schachbrett samt Figuren an der Wand - Foto: © 2013 by Schattenblick

Verewigte Partiestellung an einer Häuserwand
Foto: © 2013 by Schattenblick

Der Legende nach soll den Ströbeckern im Jahre 1011 ein vornehmer Staats- und Kriegsgefangener vom Halberstädter Bischof Arnulf übergeben worden sein, damit sie ihn im Wehrturm ihres Dorfes solange unter Verwahrung hielten, bis weitere Befehle an sie ergingen. Der Bischof selbst habe im Auftrag von Kaiser Heinrich II. gehandelt, der damit einen unbequemen Widersacher aus dem Verkehr ziehen wollte. Und um ganz sicher zu gehen, mußten Ströbecker Bauern abwechselnd vor diesem Grafen Guncellin Wache halten. Nun soll es sich so zugetragen haben, daß dem Grafen in seinem Verlies auf Dauer langweilig wurde, weswegen er den Bauern, die ihn zudem respektvoll behandelten, auch zu seiner eigenen Unterhaltung das Schachspiel beibrachte. Die Figuren schnitzte er aus Holz, nach einer anderen Lesart der Legende nahm er dazu sogar Brotreste, die er zu den einzelnen Steinen modellierte. So wurde ein eingekerkerter Adelsmann zum Lehrmeister von Bauern im Schachspiele, was zu jener Zeit, da Bauern kaum mehr als Leibeigene waren und keine Bildung genossen, ein Novum dargestellt haben dürfte.

Museumsgemälde vom festgesetzten Grafen - Foto: 2013 by Schattenblick

Die legendenumrankte Gefangenschaft
Foto: 2013 by Schattenblick

Selbst als Graf Guncellin später gegen ein erkleckliches Lösegeld freigesetzt wurde, hielten die Ströbecker am Schach, daran sie mit Lust und Eifer Gefallen gefunden hatten, fest, bis man im Dorf kein anderes Spiel mehr kannte. Den Ströbeckern widmete später in dem ersten deutschsprachigen Schachbuch aus dem Jahre 1616 Herzog August d. J. zu Braunschweig-Lüneburg alias Gustavus Selenus, der die berühmte Bibliothek in Wolfenbüttel gründete, gar ein ganzes Kapitel.

Originallithographie aus dem Ströbecker Schachmuseum - Foto: 2013 by Schattenblick

Gustavus Selenus in seiner Studierstube
Foto: 2013 by Schattenblick

Anders als in allen Teilen Europas, wo im Zuge der Renaissance nur mehr nach den neuen Regeln und Gangarten der Figuren Schach gespielt wurde, behielten die Ströbecker bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein ihre eigene Spielart, die sich auffallend vom heutigen Schach unterscheidet, bei. Der Braunschweiger Herzog soll Ströbeck vor der Abfassung seines Buches sogar persönlich aufgesucht haben, um die außergewöhnliche Variante des dortigen Schachspiels in Augenschein zu nehmen. Jedenfalls soll der schachbegeisterte Selenus so angetan von der Leidenschaft der Ströbecker für das Schach gewesen sein, daß er dem Dorf später ein eigens signiertes Exemplar seines Buches schenkte, das allerdings nach dem Zweiten Weltkrieg verlorenging.

Schwarze und weiße Steine laden zum Spielen ein - Foto: © 2013 by Schattenblick

Ein Marktplatz als Schachbrett
Foto: © 2013 by Schattenblick

Als Ströbeck nach Ende des 30jährigen Krieges dem Hoheitsgebiet des Kurfürstentums Brandenburg zufiel, erhielt es ein weiteres Mal prominenten Besuch. Diesmal war es der Kurfürst Friedrich Wilhelm, der 1651 nicht nur seinen neuen Landbesitz inspizierte. Als großer Liebhaber des Schachspiels zog es ihn geradezu magnetisch zu diesem Dorf hin. Offenbar wurden seine Erwartungen mehr als erfüllt, denn er ließ den Ströbeckern später ein kostbares Schachbrett mit einem Courierspiel auf der Rückseite, wertvollen Intarsienarbeiten und einer Inschrift sowie einem Satz silberner und vergoldeter Figuren zukommen, die allerdings im Siebenjährigen Krieg verlorengegangen sind. H.J. Massmann zufolge hatte das Domstift Halberstadt die Figuren eingefordert, weil ein französischer General damit zu spielen begehrte. Das Kurfürstenbrett dagegen ist noch heute im Schachmuseum zu besichtigen.

Außenfassade des Schachmuseums - Foto: © 2013 by Schattenblick

Das Schachmuseum in Ströbeck
Foto: © 2013 by Schattenblick

Zur Krönung von König Wilhelm I. im Jahre 1861 sandten die Ströbecker eine Delegation nach Berlin und überreichten dem neuen Landesherrn nach alter Sitte ein Huldigungsgeschenk in Form eines silbernen Schachbrettes. Vor allem nachdem sich ein bürgerliches Schachspielertum im 19. Jahrhundert etabliert hatte, besuchten einige Meister Ströbeck wie zum Beispiel Siegbert Tarrasch und Emil Schallopp, die eine Reihe von Blind- und Simultanpartien absolvierten. Später kehrten von Efim Bogoljubow über Alexei Suetin bis Vlastimil Hort weitere berühmte Schachmeister in Ströbeck ein.

Einen besonderen Stellenwert nahmen in Ströbeck verschiedene Schachbräuche ein wie die bereits erwähnte Sitte von der Übergabe eines Schachspieles beim Regierungsantritt eines neuen Landesherrn oder der Brauch, daß der Bräutigam erst in einer Partie Schach mit dem Dorfschulzen seine Braut ausspielen mußte. Verlor er, mußte er in die Gemeindekasse einzahlen, durfte aber danach feierlich vor den Traualtar treten. Auch war es in Ströbeck üblich, daß der Dorfschulze Durchreisenden, die in Ströbeck haltmachten, eine Schachpartie anbot. Die Ehre wurde auch dem Preußenkönig Friedrich II. zuteil, als er 1773 in Ströbeck seine Pferde wechseln ließ. Nachdem er die beiden ersten Partien leicht gewann, schien er verärgert über die Einfalt seines Gastgebers, aber die dritte Partie, die der Schulze, der sich bis dahin gastfreundlich zurückgehalten hatte, darauf mit vollem Ernst spielte, verlor der Alte Fritz so majestätsbeleidigend, daß er vergrätzt davongaloppierte. Ein seit 325 Jahren gepflegter Brauch in Ströbeck betrifft das Lebendschach, bei dem Ströbecker die Figuren auf einem großdimensionierten Spielfeld ersetzen und in Trachten und Kostüme schlüpfend entweder berühmte Partien nachspielen oder die just gespielten Züge zweier Meister nachstellen.

Lebendschach auf dem Ströbecker Marktplatz - Foto: © 2013 by Schattenblick

Freie Partie beim Lebendschach
Foto: © 2013 by Schattenblick

Auch wenn Ströbeck im Zusammenhang mit Schach nachweislich erst 1515 schriftlich erwähnt wird, deutet bereits die sonderbare Spielweise der Ströbecker, die Anleihen aus dem altarabischen Schach enthält wie die Tabijen, ein Eröffnungsmuster, bei dem beide Seiten wahlweise mit 12 bis 14 Zügen eine Formation einnehmen, ehe das Spiel mit abwechselnder Zugwahl beginnt, darauf hin, daß man hier lange vor diesem Datum Schach gespielt hat. Es ist keineswegs abwegig, daß das Ströbecker Schach womöglich genauso alt ist wie die Anfänge des Schachspiels in Europa. Der Gefangene im Turm als Urheber des Schachspiels in Ströbeck ist allerdings Legendenwerk.

Wehrturm und altes Museum von außen - Foto: © 2013 by Schattenblick

Der Ströbecker Wehrturm, daneben das frühere Schachmuseum
Foto: © 2013 by Schattenblick

Ein Dorf spielt Schach - was ist so verwunderlich daran? Erstens sicherlich, daß das Schachspiel sich über Jahrhunderte hinweg über folkloristische Beimischungen, Brauchtumspflege und wohl auch ein gerüttelt Maß an Beharrung seiner Einwohner an einem Ort behaupten konnte, weil sie es stets gewissenhaft an ihre Nachkommen weitergegeben haben. Das hat Ströbeck mit vielen Traditionen anderer Art gemein und wäre so sonderlich nicht, wenn nicht ein verstörender Gedanke an dem Bild kratzen würde. Denn der Riß durch unsere Vorstellung vom Schachspiel berührt ganz entschieden den Umstand, daß Bauern, einfache Menschen, die ohne Bildung und Feinsinn aufwachsen und von den Härten der Landarbeit gezeichnet sind, schlichtweg nicht zum Idealtypus eines Schachspielers und Künstlers am Brett passen.

Originalfoto aus dem Schachmuseum - Abfotografiert 2013 by Schattenblick

Radmacher beim Schachspielen
Foto: 2013 by Schattenblick

Selbst in der Wehrturmlegende muß es zuletzt ein Edelmann gewesen sein, der die Ströbecker das Königliche Spiel lehrte. Das Besondere an Ströbeck ist nicht die ausgefallene Neigung zum Schachspiel, die für sich genommen schon aller Ehren wert wäre, weil es sich, lange bevor es Schachvereine oder Kaffeehäuser gab, um die Pflege eines Kulturguts verdient gemacht hat. Man ist es gewohnt, sich das Schachspiel als höfische Errungenschaft vorzustellen oder als Erkennungsmerkmal eines aufstrebenden Bürgertums in den Städten; man nimmt ferner an, daß die einfachen Leute weder Zeit noch Muße hatten, Schach zu spielen, geschweige denn die notwendigen Voraussetzungen mitbrachten, um seine Komplexität zu meistern.

Originalfoto aus dem Schachmuseum - Abfotografiert 2013 by Schattenblick

Ströbecker Bauerntracht aus dem 19. Jahrhundert
Foto: 2013 by Schattenblick

Eben darin äußert sich das Außergewöhnliche am Ströbecker Brauchtum, weil es in einer Art wachgehaltener Erinnerung darauf verweist, daß das Schachspiel entgegen der vorherrschenden Auffassung in allen Schichten der europäischen Bevölkerung Anklang gefunden hatte, daß Arm und Reich, Bauer oder Edelmann, Städter oder Bediensteter die Steine auf dem Brett mit gleichem Sinn für die Schönheit dieses Spiels verrückten. Schon die weite Verbreitung des Schachspiels läßt darauf schließen, daß es in erster Linie von Handelsreisenden und Kaufleuten in alle Welt getragen wurde. Die ökonomischen Umwälzungen infolge der industriellen Revolution, die Verschärfung der Eigentums- und Produktionsbedingungen in den Manufakturen und später Fabriken sowie der zunehmende Griff des Kapitals auf den Produktionsfaktor Arbeit haben mit Sicherheit dazu beigetragen, daß das Schach der einfachen Leute in Vergessenheit geriet.

Originalfoto aus dem Schachmuseum - Abfotografiert 2013 by Schattenblick

Schachpartie auf dem Leiterwagen
Foto: 2013 by Schattenblick

Daß auf Gemälden aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit fast ausschließlich Bürgerliche beim Schachspiel porträtiert wurden, rechtfertigt keinen gegenteiligen Einwand, sondern besagt lediglich, daß nur der vermögende Stand die Mittel besaß, um solche Arbeiten bei Künstlern in Auftrag zu geben. Der Ehrgeiz der frühen Schachhistoriker, den Werdegang des Schachspiels in Europa aufzudecken, stand vor der erheblichen Schwierigkeit, daß sich ihr forschender Zugriff auf private und Klosterbibliotheken sowie Urkunden in städtischen Archiven beschränkte. Daraus mag der Anschein erweckt worden sein, Schachspielen wäre immer nur das Privileg der herrschenden Klassen gewesen. Dem Mißverständnis kam entgegen, daß das einfache Spielgerät der Bauern schlicht die Zeiten nicht überstand und Chronisten in aller Regel wenig Interesse daran fanden, das Leben der einfachen Menschen aufzuzeichnen. Vielfach vergessen in diesem Sinne sind auch die Spielmänner, die die Fürstenhöfe besuchten und neben Kunststücken und Liedern auch das Schachspiel im Repertoire hatten, oder die Vagabunden, die durch die Lande zogen und bei ihren Aufenthalten in Dörfern und Städten um Wettgeld und Kost Schach spielten.

Daß Gustavus Selenus bei seiner Ankunft in Ströbeck so fasziniert war von den dortigen Bauern, zeugt bereits von einem zu seiner Zeit längst schon vollzogenen Bruch. Es hat ihn schlichtweg überrascht, Bauern vorzufinden, die nicht nur eine sehr eigentümliche Abart des Schachspiels pflegten, sondern auch gewitzte Strategen auf dem Brette waren. Die Geschichten, in denen selbst Knaben aus Ströbeck bei einer Partie mit Auswärtigen ein tiefes Verständnis des Schachspiels bewiesen, sind nicht so weit hergeholt wie es scheint. Die Arbeiterschachvereine im ausgehenden 19. Jahrhundert waren dann so etwas wie eine Rückbesinnung auf ältere Zeiten, als das Schachspiel noch nicht einer klassenspezifischen Zuordnung unterworfen war.

Blick in eine Ströbecker Gasse - Foto: © 2013 by Schattenblick

Ländliche Abgeschiedenheit in Ströbeck
Foto: © 2013 by Schattenblick

Das landläufige Bild vom Schachspieler rührt unterdessen von den Kaffeehäusern in Paris und Wien her, in denen halbseidene Existenzen, Lebemänner und arbeitsscheue Aristokraten zumeist um Geld Schach spielten und so der Kunst, der sie angeblich huldigten, einen selbstgefälligen Anstrich verliehen. Diese profane Tradition von Ruhm und Reibach wurde später, wenngleich in abgewandelter Form, von den bürgerlichen Schachvereinen aufgegriffen und bis in die Auswüchse einer internationalen Konkurrenzmanie weiterentwickelt. Das andere Schach, wofür die Ströbecker Tradition im ursprünglichsten Sinne steht, ist keine Frage von variablem Brettumfang, alternativen Figuren und sonderbaren Regeln. Es ist die Quintessenz all dessen, was im Laufe der Geschichte vergessen und vergraben wurde: Ein Spiel für jedermann negiert soziale Unterschiede.

Einfahrt zum Dorf Ströbeck samt Ortsschild - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

26. Juni 2013